<p class="article-intro">Unter dem Titel „Don’t miss these injuries“ bzw. „Worauf wir im Alltag vermehrt achten sollten“ darf ich Ihnen in dieser Kolumne wissenswerte und praxisrelevante Fakten zu seltenen, aber typischen Verletzungsmustern aus dem unfallchirurgischen Alltag vorstellen. Zielgruppe sind insbesondere junge Kolleginnen und Kollegen, die im Rahmen der Umsetzung des AzG und zusätzlich aufgrund der Zusammenlegung von Orthopädie und Unfallchirurgie mit einer deutlich reduzierten klinischen Exposition und einem gleichzeitig inhaltlich erweiterten Fachgebiet konfrontiert sind. Mit dem Ziel, die Ausbildung und damit die Versorgung unserer Patienten auf dem höchstmöglichen Niveau zu halten oder im Idealfall weiter zu bessern, hoffe ich, dass diese Kolumne für Einsteiger und Routiniers gleichermaßen ein lesenswertes Update darstellt.</p>
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<p class="article-content"><p>Das Thema der „missed injuries“ ist insbesondere im Rahmen der Behandlung polytraumatisierter Patienten relevant. Der polytraumatisierte Patient ist einem nicht unbeträchtlichen Risiko ausgesetzt, dass leichte wie schwere Verletzungen übersehen werden, wobei das Risiko direkt mit dem ISS („injury severity score“) korreliert.<sup>1–3</sup> Die Häufigkeit variiert abhängig von der untersuchten Population und der Definition zwischen 1,3 % und beachtlichen 39 % .<sup>4</sup> Die übersehenen Verletzungen werden in der Literatur gerne als die Némesis (griechisch: die Göttin des gerechten Zorns) bezeichnet, denn übersehene Verletzungen können oft die erfolgreichen lebensrettenden Maßnahmen überschatten und unter Umständen juristische Folgen nach sich ziehen.<sup>5</sup><br /> Wie kommt es zu übersehenen Verletzungen? Das berühmte Goethezitat scheint hier anwendbar: „Man sieht nur, was man weiß.“ Wir können nur nach jenen Pathologien suchen, über die wir das entsprechende Hintergrundwissen besitzen bzw. an die wir in der Akutsituation denken. Dieser Zusammenhang wurde kürzlich in einem Kollektiv von 52 übersehenen Kahnbeinfrakturen aufgezeigt: Die Fraktur wurde in 79 % der Fälle nicht erkannt, obwohl anamnestisch ein klassischer Unfallmechanismus erhoben wurde. Die Möglichkeit einer Kahnbeinfraktur wurde vom Behandler nicht erwogen und entsprechend wurde nicht nach den klinischen Zeichen der Verletzung gesucht.<sup>6</sup><br /> Der Stellenwert der strukturierten klinischen Untersuchung des schwerverletzten Patienten wurden vom „American College of Surgeons Commitee on Trauma“ anhand des ATLS<sup>®</sup>(Advanced Trauma Life Support)-Konzeptes zusammengefasst und besteht zunächst aus zwei diagnostischen Säulen: dem „primary survey“ und dem „secondary survey“.<sup>7</sup><br /> Der „primary survey“ umfasst die initiale Stabilisierung der Vitalfunktionen des Patienten im Schockraum: Airway/C-spine protection, Breathing/life threatening chest injuries, Circulation/stop the bleeding, Disability/intracranial mass lesions, Exposure/environment/body temperature. Unter Exposure erfolgt die rasche klinischtraumatologische Untersuchung von Kopf bis Fuß mit dem Ziel, potenziell lebensgefährliche Verletzungen zu identifizieren. Es gilt insbesondere Verletzungen auszuschließen, die unversorgt einen signifikanten Blutverlust bedingen, z. B. Beckenfrakturen und instabile Frakturen langer Röhrenknochen, um das unmittelbare Management prioritätenorientiert abzuhandeln („treat first what kills first!“). Sind diese Verletzungen vital bedrohlich, so werden sie unmittelbar im Sinne der „damage control surgery“ versorgt.<br /> Ist der „primary survey“ (ABCDE) abgeschlossen und sind die Vitalparameter des Patienten stabil, erfolgt im Anschluss der „secondary survey“. Dieser umfasst die komplette klinisch-traumatologische Untersuchung von Kopf bis Fuß. Der „secondary survey“ sollte alle übrigen Verletzungen diagnostizieren, welche nicht bereits im „primary survey“ aufgefallen sind. Schließlich sollte der „secondary survey“ die unfallrelevante Anamnese des Patienten umfassen sowie eine neuerliche Beurteilung der Vitalparameter beinhalten.</p> <h2>„Tertiary survey“</h2> <p>Naturgemäß sind insbesondere beim schwerverletzten Patienten geschlossene Extremitätenverletzungen während des „primary“ und „secondary survey“ eher nachrangig und am gegebenenfalls intubierten Patienten eingeschränkt zu evaluieren. Darüber hinaus sei betont, dass im Rahmen der akuten Behandlung eines Schwerverletzten nachrangige Verletzungen unter Umständen bewusst vernachlässigt werden, um das vorrangige Ziel (das Überleben des Patienten) zu gewährleisten. Handelt es sich nun um solch einen Patienten, so bietet der sogenannte „tertiary survey“ eine bewusste Gelegenheit, den Patienten in Ruhe zu untersuchen, sobald dieser stabilisiert wurde.<br /> Das Risiko, nach erfolgreicher Stabilisierung des Schwerverletzten Verletzungen zu übersehen, wurde in den 1990er-Jahren von Enderson et al. aufgezeigt.<sup>8</sup> Im Rahmen einer prospektiven Studie an 399 Patienten identifizierten die Autoren eine Inzidenz von 9 % an übersehenen Verletzungen. 57 % aller Verletzungen waren muskuloskelettaler Natur, darunter 86 % Frakturen. Diese und weitere Studien unterstrichen in den darauf folgenden Jahren die Bedeutung des „tertiary survey“ und propagierten damit die neuerliche klinisch- traumatologische Untersuchung von Kopf bis Fuß innerhalb der ersten 24 Stunden nach Einlieferung des Patienten, um Verletzungen, die während der Stabilisierungsphase übersehen wurden, zeitnah zu detektieren und ggf. einer Behandlung zuzuführen.<sup>9, 10</sup><br /> Das Konzept des strukturierten „tertiary survey“ ist inzwischen an den meisten Traumazentren etabliert, jedoch variiert die Dokumentation von Zentrum zu Zentrum. Um diesen kritischen Untersuchungsschritt zu standardisieren, haben Moffat et al. eine Smartphone-Applikation (App „Physician Assistant Trauma Software“, PATS) entwickelt, mit dem Ziel, die Dokumentation des „tertiary survey“ zu standardisieren und gleichzeitig zu erleichtern. Im Rahmen ihrer Pilotstudie wurden Patienten prospektiv an zwei Level-1-Traumazentren in Ontario (Kanada) und Los Angeles (Kalifornien, USA) für 5 bzw. 3 Monate in ihre Untersuchungen eingeschlossen. Durch die Verwendung der PATS-App wurde die Rate übersehener Verletzungen von 9 % (vor Verwendung der App) auf 1 % in Ontario bzw. von 1 % auf 0 % in Los Angeles gesenkt. Wenngleich die Autoren diverse Limitationen der Studie einräumen (wobei der Hawthorne-Effekt, also die Tatsache, dass Teilnehmer bewusst ihr natürliches Verhalten ändern, da sie wissen, dass sie unter Beobachtung stehen, vermutlich die gewichtigste Limitation darstellt), ist der Effekt nichtsdestoweniger erstaunlich.<sup>11</sup> Digital als auch analog entspricht der „tertiary survey“ per definitionem einer detaillierten Kopf-bis-Fuß-Untersuchung mit Fokus auf die Extremitäten, im Idealfall durch einen Kollegen, der nicht der Erstbehandler ist.<sup>12–14</sup> Weiters wird die Reevaluation aller bereits erhobenen bildgebenden Befunde empfohlen, da immerhin 20 % der übersehenen Verletzungen anhand der bereits durchgeführten bildgebenden Verfahren diagnostizierbar sind.<sup>1</sup> Ist der Patient zum Zeitpunkt der Reevaluation sediert, sollte der „tertiary survey“ erneut durchgeführt werden, wenn er bei Bewusstsein ist.<br /> Zweifelsohne haben der flächendeckende Einsatz der Computertomografie und die optimierten technischen Möglichkeiten die Exaktheit unserer Diagnostik im Schockraum über die letzten Jahre kontinuierlich verbessert.<sup>15–17</sup> Eine Aufarbeitung aus dem Jahr 2018 zeigt allerdings auf, dass eine Reevaluation radiologischer Erstbefunde von 2354 schwerverletzten Patienten durch einen zweiten Radiologen 12,9 % übersehene Verletzungen identifizierte. Von diesen waren immerhin 2,5 % klinisch relevant.<sup>9</sup> Die Autoren unterstreichen in ihrer Zusammenfassung den Stellenwert des Vier-Augen-Prinzips bei der Erstellung radiologischer Akutbefunde. Dies erfolgt natürlich im Idealfall durch einen zweiten Radiologen, kann aber durchaus auch in die Kompetenz des „senior resident“ fallen, um eine adäquate Diagnostik auch durch den Erstbehandler zu gewährleisten. In einer rezenten Arbeit von Fakhoury et al. wurde die Befähigung des „senior surgical resident“, Polybody-CTs schwerverletzter Patienten zu interpretieren, evaluiert. Im direkten Vergleich zum Befund des Radiologen deckten sich die Befunde der erfahrenen chirurgischen Assistenzärzte zu 84,6 % bezogen auf die HWS, zu 62,5 % bei der BWS und zu 75 % bezogen auf die LWS. Bezüglich CT von Becken und Abdomen stimmten die Diagnosen zu 80 % überein. Konventionelle Röntgen des Abdomens wurden durch die Assistenzärzte in 100 % der Fälle konkordant befundet, das Thoraxröntgen in 83,3 % .<sup>18</sup><br /> Besondere Beachtung sollte jenen potenziell verletzten Regionen gewidmet werden, die nicht am Ganzkörper-CT mit abgebildet sind. Für diese besteht ein beträchtliches Risiko, übersehen zu werden und so mittelfristig die Morbidität und sogar Mortalität des Patienten zu erhöhen.<sup>19</sup> Dies betrifft naturgemäß die Extremitäten, welche zumeist mit konventionellem Röntgen untersucht werden. Dabei spielt im Kontext übersehener Verletzungen die Qualität der Aufnahme, im Sinne der korrekten Projektion, eine bedeutende Rolle: Eine perfekte Aufnahme ist deutlich schwieriger einzustellen, als dies sonst der Fall ist, jedoch ist dies eine „conditio sine qua non“, um die Detektion der Verletzung zu ermöglichen, weshalb hier wenn möglich keine Kompromisse eingegangen werden sollten.<br /> Die übersehenen Verletzungen werden in der Literatur nach anatomischen Regionen aufgearbeitet. Dabei wurde insbesondere für das Schlüsselbein, das Schulterblatt sowie die Hand als auch für das Sprunggelenk sowie den Fuß ein erhöhtes Risiko beschrieben.<sup>1, 2, 13, 20, 21</sup> In bis zu 20 % der berichteten Fälle waren die Verletzungen operationswürdig.<br /> Aufgrund des kumulativen Fortschritts ist die Zahl übersehener Verletzungen zwar rückläufig, es gibt aber noch Optimierungspotenzial: Eine rezente Aufarbeitung der Daten des Trauma-Registers der DGU aus 2019 zeigt, dass von 2199 Patienten mit Fußverletzungen 144 verspätet diagnostiziert wurden. Dies betraf vor allem Patienten nach Verkehrsunfällen und Stürzen aus >3 m Höhe.<sup>20</sup> Die Autoren urgieren, sowohl den „tertiary survey“ durchzuführen als auch ein besonderes Augenmerk auf jene Patienten zu legen, die eine „damage control operation“ benötigten. Insbesondere im Kontext der Fußverletzungen gilt es durch zeitnahes Erkennen der Verletzung das mittelfristige Risiko für Krankenstände, Arbeitslosigkeit und beeinträchtigtes Outcome zu minimieren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2020_Jatros_Ortho_2001_Weblinks_jat_ortho_2001_s49_tab1_starlinger.jpg" alt="" width="550" height="159" /></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Dem „tertiary survey“ kann im Kontext übersehener Verletzungen nicht genug Bedeutung beigemessen werden. Die strukturierte Reevaluation im Rahmen des „tertiary survey“ ist ein integraler Bestandteil des modernen Polytraumamanagements und beinhaltet das Wissen um exponierte anatomische Regionen, typische Verletzungsmuster und andere relevante Risikofaktoren. Es ist belegt, dass die Einführung strukturierter Untersuchungskonzepte, wie beispielsweise die PATS-Smartphone-Applikation, einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion übersehener Verletzungen leisten kann.<sup>11, 12</sup></p> </div></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Giannakopoulos GF et al.: Missed injuries during the initial assessment in a cohort of 1124 level-1 trauma patients. Injury 2012; 43: 1517-21 <strong>2</strong> Ferree S et al.: Tertiary survey in polytrauma patients should be an ongoing process. Injury 2016; 47: 792-6 <strong>3</strong> Thomson CB, Greaves I: Missed injury and the tertiary trauma survey. Injury 2008; 39: 107-14 <strong>4</strong> Janjua KJ et al.: Prospective evaluation of early missed injuries and the role of tertiary trauma survey. J Trauma 1998; 44: 1000-6; discussion 1006-7 <strong>5</strong> Enderson BL, Maull KI: Missed injuries. The trauma surgeon’s nemesis. Surg Clin North Am 1991; 71: 399-418 <strong>6</strong> Jamjoom BA, Davis TRC: Why scaphoid fractures are missed. A review of 52 medical negligence cases. Injury 2019; 50: 1306-8 <strong>7</strong> Advanced trauma life support (ATLS<sup>®</sup>): the ninth edition. J Trauma Acute Care Surg 2013; 74: 1363-6 <strong>8</strong> Enderson BL et al.: The tertiary trauma survey: a prospective study of missed injury. J Trauma 1990; 30: 666-9; discussion 669-70 <strong>9</strong> Banaste N et al.: Whole-body CT in patients with multiple traumas: factors leading to missed injury. Radiology 2018; 289: 374-83 <strong>10</strong> Hajibandeh S et al.: Meta-analysis of the effect of tertiary survey on missed injury rate in trauma patients. Injury 2015; 46: 2474-82 <strong>11</strong> Moffat B et al.: Introduction of a mobile device based tertiary survey application reduces missed injuries: A multi-center prospective study. Injury 2019; 50: 1938-43 <strong>12</strong> Biffl WL et al.: Implementation of a tertiary trauma survey decreases missed injuries. J Trauma 2003; 54: 38-43; discussion 43-4 <strong>13</strong> Zamboni C et al.: Tertiary survey in trauma patients: avoiding neglected injuries. Injury 2014; 45 Suppl 5: S14- 17 <strong>14</strong> Keijzers GB et al.: A prospective evaluation of missed injuries in trauma patients, before and after formalising the trauma tertiary survey. World J Surg 2014; 38: 222-32 <strong>15</strong> Novelline RA: CT in the patient with multiple trauma: Risk factors for missed findings. Radiology 2018; 289: 384-5 <strong>16</strong> Pereira SJ et al.: Dynamic helical computed tomography scan accurately detects hemorrhage in patients with pelvic fracture. Surgery 2000; 128: 678-85 <strong>17</strong> Sampson MA et al.: Computed tomography whole body imaging in multi-trauma: 7 years experience. Clin Radiol 2006; 61: 365-9 <strong>18</strong> Fakhoury E et al.: Surgical residents’ interpretation of diagnostic radiologic imaging in the traumatically injured patient. J Trauma Acute Care Surg 2018; 84: 146-9 <strong>19</strong> Zemaitis MR et al.: Trauma Secondary Survey. StatPearls. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing LLC.; 2019 <strong>20</strong> Fitschen-Oestern S et al.: Missed foot fractures in multiple trauma patients. BMC Musculoskeletal Disorders 2019; 20: 121 <strong>21</strong> Brooks A et al.: Missed injury in major trauma patients. Injury 2004; 35: 407-10 <strong>22</strong> Vles WJ et al.: Consequences of delayed diagnoses in trauma patients: a prospective study. J Am Coll Surg 2003; 197: 596-602 <strong>23</strong> Grossman MD, Born C: Tertiary survey of the trauma patient in the intensive care unit. Surg Clin North Am 2000; 80: 805-24</p>
</div>
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