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Die verkehrsmedizinische Untersuchung bei Senioren

Die verkehrsmedizinische Untersuchung bei Senioren stellt im Praxisalltag der Hausärzte eine wichtige Aufgabe dar, kann aber auch das Arzt-Patienten-Verhältnis massiv beeinträchtigen. Im vorliegenden Artikel soll auf Rechte und Pflichten bei der jeweiligen Untersuchung hingewiesen werden und es sollen gewisse Stolpersteine angesprochen und Tipps für den Praxisalltag gegeben werden.

Keypoints

  • Bei einer verkehrsmedizinischen Untersuchung sind immer alle medizinischen Mindestanforderungen zu prüfen und kognitive Kurztests durchzuführen.

  • Im Zweifelsfall «unklares Ergebnis» und Weiterleiten zu höherer Stufe.

  • Wenn es um Ausnahme-/Sonderbewilligungen, Einschränkungen des Führerausweises oder um die Frage nach einer ärztlich begleiteten Kontrollfahrt oder um die Frage nach einer Suchtproblematik geht, ist direkt eine Stufe-4-Untersuchung sinnvoll.

Ein Fallbeispiel

Ihr langjähriger Patient, 77-jährig, ehemaliger Angestellter beim Unterhaltsdienst der Gemeinde, kommt zur obligatorischen Untersuchung gemäss VZV (Verkehrszulassungsverordnung) zu Ihnen. Er stammt ursprünglich aus Süditalien, hat dort vier Jahre die Grundschule besucht. Er lebt jedoch seit gut 30 Jahren in der Schweiz. Er spricht nur wenig Deutsch, Sie können sich aber gut mit ihm verständigen. Er wohnt mit seiner pflegebedürftigen Ehefrau abgelegen ausserhalb des Dorfes. Bisher sind keine Vorkommnisse im Strassenverkehr bekannt und er verneint die Frage nach Parkschäden. Anamnestisch sind keine Erkrankungen bekannt und beim Körperstatus finden Sie keine Auffälligkeiten oder Besonderheiten. Die Ergebnisse der kognitiven Kurztests sind durchzogen (Mini-Mental-Status-Test 23/30 Punkten, Uhrentest: 7/7 Punkten, Trail-Making-Test Teil A: 88 Sek. [Norm bis 66 Sek.], Teil B: 280 Sek. [Norm bis 207 Sek.] und 2 Fehler, z.T. muss er von Ihnen etwas unterstützt werden, da er angibt, dass das italienische Alphabet anders sei). Würden Sie hier die Fahreignung bestätigen oder hätten Sie weitere Bedenken?

Warum sind die Untersuchungen notwendig?

Die Bevölkerung wird immer älter, daher werden künftig mehr Personen am Strassenverkehr teilnehmen, die über 65 Jahre alt sind. Somit ist die Diskussion um den Umgang mit älteren Verkehrsteilnehmern aktueller denn je und wird in den kommenden Jahren auch noch weiter zunehmen. In dem Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und Verkehrssicherheit bewegt sich die Verkehrsmedizin.

Unfallstatistiken zeigen, dass das Unfallrisiko bei älteren Verkehrsteilnehmern ab 65 Jahren wieder ansteigt.1 Gleichzeitig sind ältere Verkehrsteilnehmende auch vulnerabler und können dadurch bei Unfällen schwerer verletzt oder sogar getötet werden. Somit sind sie in jedem Fall eine zu beachtende Gruppe.

Die Fahrzeuglenkenden wollen aber auch bis ins hohe Alter selbstständig mobil bleiben, was verständlich ist. Gleichzeitig führen physiologische Abbauprozesse sowie Krankheiten dazu, dass die notwendige Leistungsreserve und damit die Gesamtleistungsfähigkeit zum sicheren Führen eines Fahrzeuges nicht mehr gegeben sein können. Zu beachten ist, dass für eine sichere Verkehrsteilnahme nicht nur die Grundleistung (Leistungsfähigkeit für Routinearbeiten) notwendig ist, sondern auch die Reserveleistung (Leistungsfähigkeit für Reaktion auf unvorhersehbare Aufgaben), um konkrete Verkehrssituationen wahrnehmen, das Wahrgenommenen adäquat verarbeiten und darauf situationsadäquat reagieren zu können. Erst wenn Grund- und Reserveleistung zusammen genügend vorhanden sind, ist das Leistungsniveau als ausreichend zu bezeichnen.

Unterschieden werden dabei gesunde Senioren, kranke Senioren und gesunde Hochbetagte. Die individuellen Unterschiede variieren dabei sehr, sodass eine reine Alterskategorisierung schwierig ist.

Hauptprobleme aus medizinischer Sicht sind kognitive Funktionen (u.a. räumlich-visuelle Fähigkeiten, Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, Exekutivfunktionen, geteilte Aufmerksamkeit, selektive Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, Geschwindigkeits- und Entfernungseinschätzung bis hin zur Demenz), Störungen des Sehvermögens (u.a. statische Sehschärfe, dynamische Sehschärfe, Sehfähigkeit allgemein, Katarakt, Blendempfindlichkeit, Gesichtsfeldeinschränkung), allgemeinmedizinische Erkrankungen (u.a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkigkeit/Beweglichkeit, Diabetes, Gleichgewichtsstörungen, obstruktive Schlafapnoe), aber auch Probleme im Zusammenhang mit Suchtmitteln (Alkohol, Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Schmerzmittel) sowie durch die (Poly-)Medikation an sich. Auch Kombinationen aus mehreren Aspekten erschweren die Beurteilung.

Das Stufenmodell

In der Schweiz wird seit Jahrzehnten eine obligatorische Überprüfung der Fahreignung bei Senioren durchgeführt, welche gesetzlich in der Verkehrszulassungsverordnung (VZV) und Binnenschifffahrtsverordnung (BSV) verankert ist. Bis 2019 musste die Untersuchung ab dem 70. Lebensjahr alle 2 Jahre durchgeführt werden, seit 2019 ab dem 75. Lebensjahr alle 2 Jahre. Die Untersuchung ist obligatorisch für alle Inhaber von Fahrzeugkategorien der 1. medizinischen Gruppe (A, A1, B, B1, BE, F, G, M) sowie der Schiffsführerausweiskategorien A (Motorschiff) und D (Segelschiff).

Ab Juli 2016 wurde im Rahmen des Massnahmenpaketes Via sicura das sogenannte Stufenmodell eingeführt, bei dem für die Ärzte, die die Fahreignung beurteilen, vier verschiedene Qualifikationsstufen unterschieden werden (Abb. 1).

© SGRM

Abb. 1: Qualifikationsstufen für Ärzte, welche die Fahreignung beurteilen

Die Untersuchung von Senioren ab 75 Jahren wird dabei von sog. Stufe-1-Ärzten durchgeführt. Dies sind in der Regel niedergelassene Fachärzte, meistens Fachärzte für Allgemeine Innere Medizin. Es ist nicht unüblich, dass der behandelnde Hausarzt auch die obligatorische Fahreignungsuntersuchung durchführt. Eine Belastung des Arzt-Patienten-Verhältnisses sollte dabei unbedingt vermieden werden.

Die Qualifikation wird entweder über eine sogenannte Selbstdeklaration oder den Besuch eines eintägigen Weiterbildungskurses bei der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin (SGRM) erreicht. Im Kurs geht es v.a. darum, den Ärzten zu vermitteln, welche Rechte und Pflichten sie haben, ihnen aufzuzeigen, welche Grenzen und Möglichkeiten bei der Beurteilung der Fahreignung bestehen, ihnen zu erklären, wie die Abläufe der Administrativbehörden und die Zusammenarbeit mit ihnen funktionieren, ihnen die Grundlagen der Beurteilung der medizinischen Mindestanforderungen beizubringen und ihnen Fallstricke zu zeigen, sodass sie für die praktische Anwendung gewappnet sind. Es werden somit nicht nur medizinische Kenntnisse vermittelt, sondern auch juristische, was wichtig ist, um keine unnötigen Untersuchungen und damit verbunden Kosten für den Fahrzeuglenker zu generieren.

Die Qualifikation ist 5 Jahre gültig und muss dann entweder über eine erneute Selbstdeklaration oder einen Kursbesuch erneuert werden. Auf www.medtraffic.ch sind die wichtigsten Informationen für Lenker und Ärzte zu finden.

Rechte und Pflichten des Stufe-1-Arztes

Die Stellung des jeweiligen Arztes variiert dabei grundsätzlich je nachdem, ob der Arzt als Behandler tätig ist oder als Stufe-1-Arzt als Sachverständiger für die Behörde. Die Stellung des Arztes im Sinne des Behandlungsauftrages ist so gestaltet, dass der Arzt mit dem Patienten ein privates Auftragsverhältnis nach Art.394ffOR eingeht. Im Zusammenhang damit ist derArzt dem Berufsgeheimnis nach Art.321StGB unterstellt. Bezüglich der Fahreignung hat der behandelnde Arzt das Recht, eine ärztliche Drittmeldung nach Art.15dAbs.1lit.e und Abs.3SVG bzw. Art.17bAbs.1lit.e und Abs.3BSG an die zuständige Administrativbehörde zu richten. Dabei ist der Arzt nach Art.321StGB von Gesetzes wegen vom Berufsgeheimnis entbunden.

Erhält ein Arzt von einem Patienten den Auftrag zur Durchführung der verkehrsmedizinischen Untersuchung, um die Fahreignung im Rahmen der obligatorischen Untersuchung gemäss VZV abzuklären, muss der behandelnde Arzt entscheiden, ob er den Auftrag annimmt oder ihn z.B. aus Gründen der Befangenheit ablehnt. Sobald er den Auftrag annimmt, wird der Patient zum Exploranden und der Arzt hat eine Meldepflicht gegenüber der auftraggebenden Behörde. D.h., es müssen der Behörde dann alle Ergebnisse im Zusammenhang mit der Fahreignung übermittelt werden.

Seit dem 15.7.2023 ist der untersuchende Arzt auch verpflichtet, das Untersuchungsergebnis gestützt auf Artikel 5i Abs.3VZV an den Exploranden zu melden. Diese Meldung kann in schriftlicher oder mündlicher Form erfolgen. Hintergrund dieser Änderung war, dass die Exploranden nach der Untersuchung teilweise vom Arzt das Gefühl vermittelt bekamen, die Untersuchung sei für sie positiv ausgefallen, von der Administrativbehörde dann aber informiert wurden, die Fahreignung sei negativ beurteilt worden und der Führerausweis sei abzugeben.

Es empfiehlt sich, bei kritischen Fällen, bei denen es dem behandelnden Arzt schwerfällt, eine neutrale und unabhängige Beurteilung der Fahreignung vorzunehmen, den Auftrag zur Überprüfung der Fahreignung nach VZV abzulehnen. Dieses Recht haben Sie. Dies gilt auch, wenn durch die verkehrsmedizinische Beurteilung das Arzt-Patienten-Verhältnis zu sehr beeinträchtigt würde.

Umfang der verkehrsmedizinischen Untersuchung (Stufe 1)

Grundsätzlich ist der Umfang der verkehrsmedizinischen Stufe-1-Untersuchung im Anhang 2 der VZV beschrieben. Wichtig sind dabei eine grundlegende medizinische Anamnese, eine Verkehrsanamnese, eine Sozialanamnese sowie eine Anamnese zu Sucht- und Arzneimitteln. Grundlage der Fahreignungsbeurteilung sind die medizinischen Mindestanforderungen nach Anhang 3 VZV. Dabei wird zwischen 10 verschiedenen Kategorien unterschieden:

  1. Sehvermögen,

  2. Hörvermögen,

  3. Alkohol, Drogen und psychotrop wirksame Medikamente,

  4. psychische Störungen,

  5. organisch bedingte Hirnleistungsstörung,

  6. neurologische Erkrankungen,

  7. Herz-Kreislauf-Erkrankungen,

  8. Stoffwechselerkrankungen,

  9. Krankheiten der Atem- und Bauchorgane,

  10. Krankheiten der Wirbelsäule und des Bewegungsapparats.

Aufgabe des untersuchenden Arztes ist es, die medizinischen Mindestanforderungen zu prüfen, zu entscheiden, ob unter Berücksichtigung der Gesetzgebung sowie der Guidelines und Konsensempfehlungen der Fachgesellschaften die Anforderungen erfüllt sind oder nicht, und damit auch zu bestätigen, dass die Fahreignung gegeben ist oder eben nicht.

Im Anhang 2 VZV gibt es ein Formular zur Dokumentation des ärztlichen Untersuchungsbefundes. Um allfällige kognitive Einschränkungen in den Exekutivfunktionen festzustellen, empfiehlt es sich in jedem Fall – auch wenn klinisch keine Auffälligkeiten festgestellt wurden – die kognitiven Kurztests (sogenannte Paper-Pencil-Tests) immer gesamthaft durchzuführen. Nicht selten können Auffälligkeiten in den Hirnleistungsfunktionen noch eine gewisse Zeit überspielt werden, haben aber in Bezug auf die Gesamtleistungsfähigkeit einen grossen Einfluss.

Sind die medizinischen Mindestanforderungen nur dann erfüllt, wenn bestimmte Massnahmen, Behandlungen etc. notwendig sind (z.B. Tragen einer Sehhilfe, wenn der unkorrigierte Fernvisus die gesetzlichen Mindestanforderungen nicht erfüllt und Letztere mit der Sehhilfe erfüllt werden), sind entsprechende Auflagen zu empfehlen. Auflagen sollten dabei das für eine sichere Verkehrsteilnahme ausreichende Funktionsniveau bzw. den stabilen Verlauf einer Krankheit sicherstellen resp. dokumentieren, sollten kontrollierbar und verhältnismässig sein. Sie sollten nicht primär therapeutischen Zwecken dienen. Es sollte vermieden werden, als Auflage zu formulieren, dass noch weitere Untersuchungen notwendig bzw. abzuwarten sind und in einem entsprechenden Zeitraum eingereicht werden müssen, damit man die Fahreignung beurteilen kann.

Sollte der Stufe-1-Arzt weitere Untersuchungen für notwendig erachten, um die Fahreignung zu beurteilen, so kann er diese bei den entsprechenden Fachärzten in Auftrag geben und die Ergebnisse dann in seine Beurteilung einfliessen lassen. Die Fachärzte benötigen dabei keine Stufenanerkennung. Wichtig ist, die jeweiligen Ärzte durch den Exploranden nach Art.321 StGB vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen, damit Sie die Informationen über die Untersuchungsergebnisse erhalten.

Führt die verkehrsmedizinische Untersuchung zu einem unklaren Ergebnis, kann eine Untersuchung bei einem Arzt mit einer höheren Qualifikationsstufe (3 oder 4) vorgenommen werden.

Das Resultat der ärztlichen Fahreignungsuntersuchung wird anhand eines Zeugnisformulars an die Administrativbehörde übermittelt. Hierbei gilt es zu beachten, dass die Ergebnisse und Schlussfolgerungen vollständig, schlüssig und nachvollziehbar sein sollten.

Sollten Abweichungen von den medizinischen Mindestanforderungen nach Art.7 Abs3VZV, also sogenannte Sonderbewilligungen, die Anordnung einer Fahrt zur Überprüfung der Fahreignung (früher: ärztlich begleitete Kontrollfahrt) (Art.5j Abs.2VZV) oder Beschränkungen des Führerausweises (Art.34VZV) (z.B. ein Nacht- und Dämmerungsfahrverbot) in Erwägung gezogen werden, gilt es zu beachten, dass dies nur nach Zustimmung/Prüfung durch einen Stufe-4-Arzt erfolgen kann. In diesen Fällen muss also die klare Empfehlung, dass die abschliessende Beurteilung durch einen Stufe-4-Arzt zu erfolgen hat, ausgesprochen werden.

Zurück zum Fall

Im oben beschriebenen Fallbeispiel ist aus verkehrsmedizinischer Sicht bei der Beurteilung der Fahreignung und bei dem entsprechenden Beurteilungsformular folgende Beurteilung sinnvoll:

Es bestehen folgende verkehrsmedizinisch relevante Erkrankungen oder Zustände:

  • Verdacht auf kognitive Einschränkungen

Die Schlussfolgerung kann sein, dass es sich um ein unklares Ergebnis handelt und dass die definitive Beurteilung von einem Stufe-4-Arzt vorgenommen werden soll. Dies mit dem Hintergrund, dass die kognitiven Tests allenfalls aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten und der Ausbildung nicht vollständig verwertbar sind und zur definitiven Beurteilung der Fahreignung gegebenenfalls eine Fahrt zur Überprüfung der Fahreignung (ärztlich begleitete Kontrollfahrt) erforderlich ist.

1 Kubitzki J, Janitzek T: Zum Unfallgeschehen älterer Verkehrsteilnehmer. Zeitschrift für Verkehrssicherheit 2011; 2: 65-73

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