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Weniger ist mehr: zum Wohl und zur Sicherheit der Patienten
Jatros
30
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28.06.2018
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<p class="article-intro">Das Polypharmazieboard des LKH Villach wurde vor 5 Jahren ins Leben gerufen. Seither arbeitet ein interdisziplinäres Team an der Vereinfachung der Medikationslisten multimorbider Patienten, um unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu eliminieren und Interaktionsrisiken zu minimieren. Mit Erfolg, wie bei der Jubiläumsveranstaltung deutlich wurde.</p>
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<p class="article-content"><p>Die WHO definiert Polypharmazie als „fünf oder mehr Arzneistoffe, die gleichzeitig eingenommen werden“. Die klinische Relevanz dieses Themas wird deutlich, wenn man die Ausbreitung betrachtet: Polypharmazie betrifft mehr als 30 % der über 65-Jährigen in den USA.<sup>1</sup> Laut den Daten der Kärntner Gebietskrankenkasse nehmen mehr als zwei Drittel der über 80-Jährigen 5 Medikamente und mehr ein. Mit weit reichenden Folgen, denn beträgt das Interaktionsrisiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) bei zwei Medikamenten 13 % , so steigt es bei sieben Medikamenten auf 80 % an.<sup>2</sup> Laut einer amerikanischen Studie erfolgen 6,5 % der Krankenhauseinweisungen aufgrund von UAW – 70 % davon wären vermeidbar.<sup>3</sup> „Das Problem der Polypharmazie ist den Ärzten grundsätzlich bewusst, es wurden auch schon viele unterschiedliche Lösungsansätze erarbeitet. Diese haben aber trotzdem ‚unmet needs‘ zurückgelassen“, umriss Dr. Christa Radoš, Primaria der Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am LKH Villach, bei der Jubiläumsfeier zum fünfjährigen Bestehen des Polypharmazieboards am LKH Villach die aktuelle Situation.</p> <h2>Neue Wege: das Polypharmazieboard</h2> <p>Das 2012 ins Leben gerufene Polypharmazieboard (PPB) ist ein regelmäßiges, abteilungsübergreifendes, interdisziplinäres und nachhaltiges Angebot, das in Bezug auf diese „unmet needs“ Abhilfe schaffen soll. „Der Grundgedanke, der das Polypharmazieboard von allen anderen Ansätzen unterscheidet, ist die Interdisziplinarität, und diesem Gedanken gehört auch die Zukunft!“, hob Radoš hervor. Seit Herbst 2012 besteht auch die Möglichkeit, interne sowie externe Patienten an das Spezialteam zuzuweisen. „Die Entwicklung der Idee erfolgte in einem Kernteam in Absprache mit Krankenhausleitung, der Kärntner Gebietskrankenkasse und dem Kärntner Gesundheitsfonds. Unser Antrag als Reformpoolprojekt war 2012 erfolgreich. Seither arbeitet das Polypharmazieboard an der Optimierung der Patientenversorgung hinsichtlich der Medikamentensicherheit“, berichtete Christine Schaller- Maitz, Pflegedirektorin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in St. Veit a. d. Glan, die maßgeblich am Aufbau des PPB beteiligt war.</p> <h2>Interdisziplinärer Diskurs</h2> <p>Das Kernteam des PPB besteht jeweils aus einem Facharzt für Neurologie, einem Facharzt für Psychiatrie, einem Facharzt für innere Medizin, einem klinischen Pharmazeuten und einem administrativen Mitarbeiter. Die Anwesenheit des zuweisenden Arztes, der die genauen Rahmenbedingungen des Patienten kennt, ist ebenfalls wichtig. „Auch unsere Fachärzte kommen sehr gerne ins Board, denn hier kann man viel lernen!“, betonte Radoš. Man trifft sich einmal die Woche zu einem Jour fixe und bespricht die Medikationsverordnungen ausgewählter Patienten, deren pharmakologische Profile zuvor von den klinischen Pharmazeuten erstellt und für den interdisziplinären Diskurs vorbereitet wurden. Kriterien bei der Auswahl der Patienten sind Multimorbidität, die Einnahme von 8 oder mehr Medikamenten täglich oder auch einer geringeren Anzahl, sofern schwierige Medikamentenkombinationen vorliegen. Aus der anschließenden Besprechung der einzelnen Medikamente im Polypharmazieboard geht eine Liste mit Empfehlungen hervor, die dem zuweisenden Arzt übermittelt wird. Diesem obliegt schlussendlich auch die Entscheidung über die Umsetzung der Empfehlungen.</p> <p>„Das Projekt war von Anfang an geprägt von einem hohen Arbeitseinsatz, einem hohen Maß an Ideologie und der respektvollen Zusammenarbeit aller Beteiligten. Das gemeinsame Ziel im Sinne der Patientensicherheit stand immer im Mittelpunkt dieser Arbeit“, betonte Schaller- Maitz. Der Einsatz hat sich gelohnt. Gabriel Eckermann, Facharzt für Psychiatrie, Co-Leiter des Referats Psychopharmakologie der DGPPN und ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Arzneimittelsicherheit, bezeichnete das Projekt des LKH Villach als „Edelstein“: „Ich bin seit Jahrzehnten in vielen Kliniken und in vielen Gremien unterwegs und ich bin überzeugt davon, dass das, was sie hier geschaffen haben, in Europa einzigartig ist.“</p> <h2>Erstaunliche Ergebnisse nach kurzer Zeit</h2> <p>Eine erste Evaluation im Jahr 2014 über einen Zeitraum von 21 Monaten sorgte für eine kleine Überraschung. Von 783 erstellten Interventionsempfehlungen (für 130 Patienten) führten die Interventionsgründe</p> <ul> <li>fragliche Indikation des Arzneimittels,</li> <li>Beratung des Arztes und</li> <li>fehlende Indikation für das Arzneimittel das Ranking an.</li> </ul> <p>Erst mit einigem Abstand folgten</p> <ul> <li>Therapievereinfachung möglich und</li> <li>Hinweis auf AM-Interaktion.</li> </ul> <p>„Wir intervenieren also hauptsächlich, weil wir Indikationen für bestimmte Arzneimittel nicht finden oder weil Dosierungen nicht mehr adäquat sind. Das hätten wir zu Beginn des Projektes so nie vermutet“, betonte Prof. Peter Kapeller, Abteilung für Neurologie am LKH Villach. „Oft werden Medikamente langfristig in ihren Anfangsdosierungen weitergeführt, weil – salopp gesprochen – keiner mehr Zeit hat, darauf zu schauen!“ Speziell bei vasoaktiven Substanzen könne dies aufgrund ihrer schwerwiegenden Nebenwirkungen zu großen Problemen führen.<br /> Wie wichtig es ist, die Medikationslisten multimorbider Patienten zu prüfen, zeigte Mag. Karin Hummer von der Krankenhausapotheke des LKH Villach in ihrer Auswertung. Über einen Zeitraum von drei Jahren (2013–2015) wurden in 112 Sitzungen die Fälle von 198 Patienten besprochen. Die Zuweisungen erfolgten aus der Neurologie (41 % ), der Psychiatrie (28 % ) und aus anderen Disziplinen wie der Geriatrie, Chirurgie und internen Medizin. Aus den interdisziplinären Fallbesprechungen resultierten 1174 dokumentierte Interventionen. Die Anzahl der Medikamente verringert sich dadurch beispielsweise im Jahr 2015 um ca. 20 % (von im Schnitt 15 Medikamenten vor dem PPB auf 12 Medikamente danach). Diese Reduktion wurde vor allem bei den PIM (potenziell inadäquate Medikamente bei älteren Patienten, angeführt in der Priscus- Liste) deutlich. Von 198 Patienten hatten 139 mindestens zuvor ein PIM verordnet bekommen. Insgesamt wurde durch die Interventionsempfehlungen die Anzahl an PIM von 236 vor der Besprechung im PPB auf 140 danach reduziert. In 72 Medikationslisten wurde so die Anzahl der PIM deutlich reduziert, in 36 davon sogar komplett eliminiert.</p> <h2>Start nun auch am Klinikum Klagenfurt</h2> <p>Mag. Veronika Meister, stv. Leiterin der Anstaltsapotheke und Projektleiterin des Polypharmazieboards am Klinikum Klagenfurt, zog nach dem ersten Quartal des Projektes eine ähnliche Bilanz. In 12 Sitzungen wurden die Fälle von 33 Patienten besprochen, deren Medikation von durchschnittlich 12 Medikamenten vor dem Polypharmazieboard auf 8 Medikamente danach gesenkt werden konnte. Auch am Klinikum Klagenfurt war das häufigste arzneimittelbezogene Problem die Verordnung eines Arzneimittels ohne Indikation (in 112 von 209 Fällen), gefolgt von dem Wechsel auf ein geeigneteres Arzneimittel, der Überdosierung, der Nichtübereinstimmung der medikamentösen Therapie mit den Guidelines oder Kontraindikation. Bei 209 getätigten Empfehlungen wurde daher in 128 Fällen das Absetzen des Medikaments vorgeschlagen, in 38 Fällen eine Dosisanpassung und in 30 Fällen ein Wechsel auf ein anderes Medikament. Mit Abstand am häufigsten wurde die Verordnung von Pantoprazol beanstandet.</p> <h2>Der Blick in die Zukunft</h2> <p>„Wir hatten von Beginn an die Vision, dass wir das PPB nicht nur im LKH Villach behalten, sondern auch überregional arbeiten“, betonte Prof. Kapeller. Die Etablierung eines PPB in Klagenfurt ist nun der erste Schritt, weitere Häuser sollen dazukommen. „Die Telemedizin wird dabei ein großer Faktor sein. So kann man Institutionen oder Experten zuschalten, die in einzelnen Krankenhäusern nicht vor Ort zur Verfügung stehen.“ Die Zusammenführung der Daten aus den einzelnen Krankenhäusern und die Erhöhung der Patientenzahlen sollen es dann ermöglichen, umfassende Aussagen zu machen – etwa auch hinsichtlich ökonomischer Aspekte der Medikamentenreduktion. Dazu bedarf es in der Vorbereitungsphase der Erstellung gemeinsamer Basisdokumente, akkordierter Abläufe und aussagekräftiger Evaluationssysteme.<br /> Schließlich steht aber auch die Intensivierung des Kontakts zur zukünftigen Ärztegeneration im Mittelpunkt. „Im Moment konzentrieren wir uns wieder auf die Rekrutierung von Patienten aus dem stationären Bereich, denn die Zuweisung aus den niedergelassenen Praxen läuft eher schleppend. Wir wollen daher jetzt schon die Kollegen, die in den nächsten Jahren in den niedergelassenen Bereich wechseln, die wir vielleicht sogar gerade an unseren Kliniken haben, für das Polypharmazieboard begeistern. Sie sollen uns in Zukunft ihre Patienten zuweisen, um wirklich ein umfassendes Angebot bieten zu können.“ Abschließend fügte Kapeller die Leistungen des Polypharmazieboards noch in den großen Kontext ein: „Polypharmazie ist natürlich nicht immer schlecht! Ich bin überzeugt, dass beispielsweise im Bereich der kardiovaskulären Therapien oder der Diabetestherapien ohne Kombinationstherapien die Steigerung der Lebenserwartung so nicht stattfinden würde. Polypharmazie trägt daher zu einem gewissen Ausmaß zum gesunden Altern bei, von dem immer mehr Menschen profitieren. Es muss jedoch alles seinen Sinn haben und für den individuellen Patienten passen.“</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Festveranstaltung 5 Jahre Polypharmazieboard Villach,
8. Mai 2018, Warmbad Villach
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<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Quato DM et al.: JAMA 2008; 300(24): 2867-78 <strong>2</strong> Geißlinger G, Menzel S: Wenn Arzneimittel wechselwirken. Stuttgart: WVG, 2017 <strong>3</strong> Pirmohamed M: Brit Med 2004; 329: 15-9</p>
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