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Weniger ist mehr: zum Wohl und zur Sicherheit der Patienten

<p class="article-intro">Das Polypharmazieboard des LKH Villach wurde vor 5 Jahren ins Leben gerufen. Seither arbeitet ein interdisziplinäres Team an der Vereinfachung der Medikationslisten multimorbider Patienten, um unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu eliminieren und Interaktionsrisiken zu minimieren. Mit Erfolg, wie bei der Jubiläumsveranstaltung deutlich wurde.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Die WHO definiert Polypharmazie als &bdquo;f&uuml;nf oder mehr Arzneistoffe, die gleichzeitig eingenommen werden&ldquo;. Die klinische Relevanz dieses Themas wird deutlich, wenn man die Ausbreitung betrachtet: Polypharmazie betrifft mehr als 30 % der &uuml;ber 65-J&auml;hrigen in den USA.<sup>1</sup> Laut den Daten der K&auml;rntner Gebietskrankenkasse nehmen mehr als zwei Drittel der &uuml;ber 80-J&auml;hrigen 5 Medikamente und mehr ein. Mit weit reichenden Folgen, denn betr&auml;gt das Interaktionsrisiko f&uuml;r unerw&uuml;nschte Arzneimittelwirkungen (UAW) bei zwei Medikamenten 13 % , so steigt es bei sieben Medikamenten auf 80 % an.<sup>2</sup> Laut einer amerikanischen Studie erfolgen 6,5 % der Krankenhauseinweisungen aufgrund von UAW &ndash; 70 % davon w&auml;ren vermeidbar.<sup>3</sup> &bdquo;Das Problem der Polypharmazie ist den &Auml;rzten grunds&auml;tzlich bewusst, es wurden auch schon viele unterschiedliche L&ouml;sungsans&auml;tze erarbeitet. Diese haben aber trotzdem &sbquo;unmet needs&lsquo; zur&uuml;ckgelassen&ldquo;, umriss Dr. Christa Rado&scaron;, Primaria der Abteilung f&uuml;r Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am LKH Villach, bei der Jubil&auml;umsfeier zum f&uuml;nfj&auml;hrigen Bestehen des Polypharmazieboards am LKH Villach die aktuelle Situation.</p> <h2>Neue Wege: das Polypharmazieboard</h2> <p>Das 2012 ins Leben gerufene Polypharmazieboard (PPB) ist ein regelm&auml;&szlig;iges, abteilungs&uuml;bergreifendes, interdisziplin&auml;res und nachhaltiges Angebot, das in Bezug auf diese &bdquo;unmet needs&ldquo; Abhilfe schaffen soll. &bdquo;Der Grundgedanke, der das Polypharmazieboard von allen anderen Ans&auml;tzen unterscheidet, ist die Interdisziplinarit&auml;t, und diesem Gedanken geh&ouml;rt auch die Zukunft!&ldquo;, hob Rado&scaron; hervor. Seit Herbst 2012 besteht auch die M&ouml;glichkeit, interne sowie externe Patienten an das Spezialteam zuzuweisen. &bdquo;Die Entwicklung der Idee erfolgte in einem Kernteam in Absprache mit Krankenhausleitung, der K&auml;rntner Gebietskrankenkasse und dem K&auml;rntner Gesundheitsfonds. Unser Antrag als Reformpoolprojekt war 2012 erfolgreich. Seither arbeitet das Polypharmazieboard an der Optimierung der Patientenversorgung hinsichtlich der Medikamentensicherheit&ldquo;, berichtete Christine Schaller- Maitz, Pflegedirektorin am Krankenhaus der Barmherzigen Br&uuml;der in St. Veit a. d. Glan, die ma&szlig;geblich am Aufbau des PPB beteiligt war.</p> <h2>Interdisziplin&auml;rer Diskurs</h2> <p>Das Kernteam des PPB besteht jeweils aus einem Facharzt f&uuml;r Neurologie, einem Facharzt f&uuml;r Psychiatrie, einem Facharzt f&uuml;r innere Medizin, einem klinischen Pharmazeuten und einem administrativen Mitarbeiter. Die Anwesenheit des zuweisenden Arztes, der die genauen Rahmenbedingungen des Patienten kennt, ist ebenfalls wichtig. &bdquo;Auch unsere Fach&auml;rzte kommen sehr gerne ins Board, denn hier kann man viel lernen!&ldquo;, betonte Rado&scaron;. Man trifft sich einmal die Woche zu einem Jour fixe und bespricht die Medikationsverordnungen ausgew&auml;hlter Patienten, deren pharmakologische Profile zuvor von den klinischen Pharmazeuten erstellt und f&uuml;r den interdisziplin&auml;ren Diskurs vorbereitet wurden. Kriterien bei der Auswahl der Patienten sind Multimorbidit&auml;t, die Einnahme von 8 oder mehr Medikamenten t&auml;glich oder auch einer geringeren Anzahl, sofern schwierige Medikamentenkombinationen vorliegen. Aus der anschlie&szlig;enden Besprechung der einzelnen Medikamente im Polypharmazieboard geht eine Liste mit Empfehlungen hervor, die dem zuweisenden Arzt &uuml;bermittelt wird. Diesem obliegt schlussendlich auch die Entscheidung &uuml;ber die Umsetzung der Empfehlungen.</p> <p>&bdquo;Das Projekt war von Anfang an gepr&auml;gt von einem hohen Arbeitseinsatz, einem hohen Ma&szlig; an Ideologie und der respektvollen Zusammenarbeit aller Beteiligten. Das gemeinsame Ziel im Sinne der Patientensicherheit stand immer im Mittelpunkt dieser Arbeit&ldquo;, betonte Schaller- Maitz. Der Einsatz hat sich gelohnt. Gabriel Eckermann, Facharzt f&uuml;r Psychiatrie, Co-Leiter des Referats Psychopharmakologie der DGPPN und ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Arzneimittelsicherheit, bezeichnete das Projekt des LKH Villach als &bdquo;Edelstein&ldquo;: &bdquo;Ich bin seit Jahrzehnten in vielen Kliniken und in vielen Gremien unterwegs und ich bin &uuml;berzeugt davon, dass das, was sie hier geschaffen haben, in Europa einzigartig ist.&ldquo;</p> <h2>Erstaunliche Ergebnisse nach kurzer Zeit</h2> <p>Eine erste Evaluation im Jahr 2014 &uuml;ber einen Zeitraum von 21 Monaten sorgte f&uuml;r eine kleine &Uuml;berraschung. Von 783 erstellten Interventionsempfehlungen (f&uuml;r 130 Patienten) f&uuml;hrten die Interventionsgr&uuml;nde</p> <ul> <li>fragliche Indikation des Arzneimittels,</li> <li>Beratung des Arztes und</li> <li>fehlende Indikation f&uuml;r das Arzneimittel das Ranking an.</li> </ul> <p>Erst mit einigem Abstand folgten</p> <ul> <li>Therapievereinfachung m&ouml;glich und</li> <li>Hinweis auf AM-Interaktion.</li> </ul> <p>&bdquo;Wir intervenieren also haupts&auml;chlich, weil wir Indikationen f&uuml;r bestimmte Arzneimittel nicht finden oder weil Dosierungen nicht mehr ad&auml;quat sind. Das h&auml;tten wir zu Beginn des Projektes so nie vermutet&ldquo;, betonte Prof. Peter Kapeller, Abteilung f&uuml;r Neurologie am LKH Villach. &bdquo;Oft werden Medikamente langfristig in ihren Anfangsdosierungen weitergef&uuml;hrt, weil &ndash; salopp gesprochen &ndash; keiner mehr Zeit hat, darauf zu schauen!&ldquo; Speziell bei vasoaktiven Substanzen k&ouml;nne dies aufgrund ihrer schwerwiegenden Nebenwirkungen zu gro&szlig;en Problemen f&uuml;hren.<br /> Wie wichtig es ist, die Medikationslisten multimorbider Patienten zu pr&uuml;fen, zeigte Mag. Karin Hummer von der Krankenhausapotheke des LKH Villach in ihrer Auswertung. &Uuml;ber einen Zeitraum von drei Jahren (2013&ndash;2015) wurden in 112 Sitzungen die F&auml;lle von 198 Patienten besprochen. Die Zuweisungen erfolgten aus der Neurologie (41 % ), der Psychiatrie (28 % ) und aus anderen Disziplinen wie der Geriatrie, Chirurgie und internen Medizin. Aus den interdisziplin&auml;ren Fallbesprechungen resultierten 1174 dokumentierte Interventionen. Die Anzahl der Medikamente verringert sich dadurch beispielsweise im Jahr 2015 um ca. 20 % (von im Schnitt 15 Medikamenten vor dem PPB auf 12 Medikamente danach). Diese Reduktion wurde vor allem bei den PIM (potenziell inad&auml;quate Medikamente bei &auml;lteren Patienten, angef&uuml;hrt in der Priscus- Liste) deutlich. Von 198 Patienten hatten 139 mindestens zuvor ein PIM verordnet bekommen. Insgesamt wurde durch die Interventionsempfehlungen die Anzahl an PIM von 236 vor der Besprechung im PPB auf 140 danach reduziert. In 72 Medikationslisten wurde so die Anzahl der PIM deutlich reduziert, in 36 davon sogar komplett eliminiert.</p> <h2>Start nun auch am Klinikum Klagenfurt</h2> <p>Mag. Veronika Meister, stv. Leiterin der Anstaltsapotheke und Projektleiterin des Polypharmazieboards am Klinikum Klagenfurt, zog nach dem ersten Quartal des Projektes eine &auml;hnliche Bilanz. In 12 Sitzungen wurden die F&auml;lle von 33 Patienten besprochen, deren Medikation von durchschnittlich 12 Medikamenten vor dem Polypharmazieboard auf 8 Medikamente danach gesenkt werden konnte. Auch am Klinikum Klagenfurt war das h&auml;ufigste arzneimittelbezogene Problem die Verordnung eines Arzneimittels ohne Indikation (in 112 von 209 F&auml;llen), gefolgt von dem Wechsel auf ein geeigneteres Arzneimittel, der &Uuml;berdosierung, der Nicht&uuml;bereinstimmung der medikament&ouml;sen Therapie mit den Guidelines oder Kontraindikation. Bei 209 get&auml;tigten Empfehlungen wurde daher in 128 F&auml;llen das Absetzen des Medikaments vorgeschlagen, in 38 F&auml;llen eine Dosisanpassung und in 30 F&auml;llen ein Wechsel auf ein anderes Medikament. Mit Abstand am h&auml;ufigsten wurde die Verordnung von Pantoprazol beanstandet.</p> <h2>Der Blick in die Zukunft</h2> <p>&bdquo;Wir hatten von Beginn an die Vision, dass wir das PPB nicht nur im LKH Villach behalten, sondern auch &uuml;berregional arbeiten&ldquo;, betonte Prof. Kapeller. Die Etablierung eines PPB in Klagenfurt ist nun der erste Schritt, weitere H&auml;user sollen dazukommen. &bdquo;Die Telemedizin wird dabei ein gro&szlig;er Faktor sein. So kann man Institutionen oder Experten zuschalten, die in einzelnen Krankenh&auml;usern nicht vor Ort zur Verf&uuml;gung stehen.&ldquo; Die Zusammenf&uuml;hrung der Daten aus den einzelnen Krankenh&auml;usern und die Erh&ouml;hung der Patientenzahlen sollen es dann erm&ouml;glichen, umfassende Aussagen zu machen &ndash; etwa auch hinsichtlich &ouml;konomischer Aspekte der Medikamentenreduktion. Dazu bedarf es in der Vorbereitungsphase der Erstellung gemeinsamer Basisdokumente, akkordierter Abl&auml;ufe und aussagekr&auml;ftiger Evaluationssysteme.<br /> Schlie&szlig;lich steht aber auch die Intensivierung des Kontakts zur zuk&uuml;nftigen &Auml;rztegeneration im Mittelpunkt. &bdquo;Im Moment konzentrieren wir uns wieder auf die Rekrutierung von Patienten aus dem station&auml;ren Bereich, denn die Zuweisung aus den niedergelassenen Praxen l&auml;uft eher schleppend. Wir wollen daher jetzt schon die Kollegen, die in den n&auml;chsten Jahren in den niedergelassenen Bereich wechseln, die wir vielleicht sogar gerade an unseren Kliniken haben, f&uuml;r das Polypharmazieboard begeistern. Sie sollen uns in Zukunft ihre Patienten zuweisen, um wirklich ein umfassendes Angebot bieten zu k&ouml;nnen.&ldquo; Abschlie&szlig;end f&uuml;gte Kapeller die Leistungen des Polypharmazieboards noch in den gro&szlig;en Kontext ein: &bdquo;Polypharmazie ist nat&uuml;rlich nicht immer schlecht! Ich bin &uuml;berzeugt, dass beispielsweise im Bereich der kardiovaskul&auml;ren Therapien oder der Diabetestherapien ohne Kombinationstherapien die Steigerung der Lebenserwartung so nicht stattfinden w&uuml;rde. Polypharmazie tr&auml;gt daher zu einem gewissen Ausma&szlig; zum gesunden Altern bei, von dem immer mehr Menschen profitieren. Es muss jedoch alles seinen Sinn haben und f&uuml;r den individuellen Patienten passen.&ldquo;</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: Festveranstaltung 5 Jahre Polypharmazieboard Villach, 8. Mai 2018, Warmbad Villach </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Quato DM et al.: JAMA 2008; 300(24): 2867-78 <strong>2</strong> Gei&szlig;linger G, Menzel S: Wenn Arzneimittel wechselwirken. Stuttgart: WVG, 2017 <strong>3</strong> Pirmohamed M: Brit Med 2004; 329: 15-9</p> </div> </p>
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