
Therapieoptionen für alle Verlaufsformen
Jatros
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11.07.2019
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<p class="article-intro">Auf der AAN-Jahrestagung 2019 wurden zahlreiche neue Daten zur Therapie der Multiplen Sklerose (MS) vorgestellt. Dabei wurde auch die auf dem ECTRIMS seit einigen Jahren aufkeimende Diskussion über Nutzen und Risiken einer frühen Induktions- bzw. Immunrekonstitutionstherapie im Vergleich zur klassischen Stufentherapie weitergeführt.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die Diskussionen in Philadelphia zeigten, dass die vor allem von Prof. Gavin Giovannoni, Barts and The London School of Medicine and Dentistry, in Europa angestoßene Diskussion über Nutzen und Risiken einer frühen und effektiven Therapie im Vergleich zu einer stufenweisen Eskalation auch die amerikanischen Neurologen intensiv beschäftigt. Bisher fehlten jedoch direkte Vergleichsstudien zu beiden Therapiestrategien. Prof. Laura Luccinetti, Mayo Clinic in Rochester, stellte auf der Presidential Plenary Session hierzu zwei aktuelle RRMS-Kohortenstudien vor, die Vorteile für die Strategie „Hit hard and early!“ sehen.<sup>1</sup> In einer Real-Life-Kohortenstudie wurden 592 Patienten in zwei Gruppen eingeteilt: frühe Intensivtherapie (FI) mit Alemtuzumab bzw. Natalizumab oder Stufentherapie (moderate Eskalation; ME) mit Interferonen, Glatirameracetat, Dimethylfumarat, Fingolimod oder Teriflunomid. Beim primären Endpunkt – EDSS-Veränderung nach fünf Jahren – schnitt die FIGruppe mit einem EDSS-Anstieg von 0,3 Punkten besser ab als die ME-Gruppe (1,2 Punkte; p < 0,002). Die mediane Zeit bis zum Beginn der Behinderungsprogression betrug 6,0 Jahre (FI) versus 3,14 Jahre (ME; p < 0,05).<sup>2</sup></p> <p>Eine zweite prospektive Kohortenstudie untersuchte die Assoziation zwischen der Art der Behandlung und dem Zeitpunkt der Konversion in eine sekundär progressive MS (SPMS). Ausgewertet wurden 1555 Patienten aus 68 MS-Zentren. Mittels Propensity Score Matching wurden zwei Therapiegruppen gebildet: Interferone bzw. Glatirameracetat versus Fingolimod bzw. Natalizumab bzw. Alemtuzumab. Nach fünf Jahren Therapie war das Risiko für eine Konversion unter den hochaktiven DMT signifikant geringer (Hazard-Ratio [HR] 0,66; p = 0,046). Das absolute Risiko betrug 7 % (Fingolimod/Natalizumab/ Alemtuzumab) versus 12 % (Interferone/ Glatirameracetat). Alle mit DMT behandelten Patienten hatten eine niedrigere Konversionsrate als eine unbehandelte Vergleichsgruppe.<sup>3</sup> Diese Daten unterstützen die Notwendigkeit, diese Frage in einer randomisierten, kontrollierten Studie zu untersuchen, so Luccinetti.</p> <h2>Alemtuzumab</h2> <p>Für Alemtuzumab liegen Langzeitdaten aus der TOPAZ-Extensionsstudie mit therapienaiven Patienten (CARE-MS I) über einen Zeitraum von acht Jahren vor. Sie zeigen wie in den Jahren zuvor eine anhaltente Reduktion der Krankheitsaktivität. Bei 41 % der Teilnehmer ging in diesem Zeitraum die Behinderung im EDSS sogar zurück. Das Sicherheitsprofil von Alemtuzumab veränderte sich in diesem Zeitraum nicht; die Inzidenz unerwünschter Ereignisse (UE) ging insgesamt zurück.<sup>4</sup> Für Alemtuzumab wurde auch eine Interimsanalyse der in Deutschland durchgeführten nichtinterventionellen Studie TREATMS vorgestellt. Teilnehmer waren 773 Patienten mit schubförmiger MS (RRMS). Im Vergleich zur CARE-MS I und II hatten sie eine längere Krankheitsdauer (8,0 vs. 3,4 Jahre seit den ersten Symptomen) und häufiger einen EDSS ≥ 3,0 (39,2 % vs. 19,4 %). 15 % der Patienten waren therapienaiv, der Rest war vorbehandelt (1 DMD: 21 %; 2 DMD: 31 %; 3 DMD: 18 %; ≥ 4 DMD 11 %). Im Beobachtungszeitraum (im Mittel 1,3 Jahre nach der 2. Alemtuzumab- Gabe) blieben 85 % schubfrei, der EDSS blieb stabil. Unerwünschte Ereignisse (UE), die auf die Therapie mit Alemtuzumab zurückgeführt wurden, traten in 51,6 % der Fälle auf; ernste UE in 12,1 %. Autoimmun-UE betrafen 13,2 % die Schilddrüse (3,1 ernste UE) oder eine Immunthrombozytopenie (ITP) in 0,9 % (ernste UE: 0,6 %). Es traten 2 Todesfälle auf.<sup>5</sup></p> <h2>Ocrelizumab</h2> <p>Die 5-Jahres-Daten der OPERA-Basisstudie (2 Jahre) und der 3-jährigen offenen Extensionsphase (OLE) machen deutlich, dass der Vorteil einer frühen Therapie mit Ocrelizumab von den zu Beginn der OLE auf Ocrelizumab umgestellten Patienten klinisch nicht aufgeholt wird – obwohl auch diese Patienten unter der neuen selektiv BZell- depletierenden Therapie eine signifikant größere Reduktion der Krankheitsaktivität erfahren. Der Zeitraum bis zum Anstieg der Behinderung über mindestens 48 Wochen war auch nach insgesamt 5 Jahren bei den RMS-Patienten, die bereits initial Ocrelizumab erhalten hatten, signifikant länger als bei denjenigen, die erst nach zwei Jahren (zu Beginn der OLE) von Interferon beta-1a s.c. auf Ocrelizumab wechselten (p = 0,004) (Abb. 1).<sup>6</sup> Noch deutlicher wurde die Überlegenheit der frühen Gabe des CD20-Antikörpers, wenn man die beiden Gruppen anhand des kombinierten Endpunktes CCDP, definiert als Anstieg des EDSS sowie Verschlechterung der Funktion der oberen Extremitäten im 9-Hol-Peg-Test (9HPT) sowie der unteren Extremitäten im 25-Fuß-Gehtest (T25FW) um jeweils 20 % über eine Dauer von 48 Wochen, verglich (p < 0,001).<sup>6</sup> Das Sicherheitsprofil der Basisstudie änderte sich in diesem Zeitraum mit Ausnahme eines leichten Anstiegs der Zahl ernster Infektionen mit 6 Fällen opportunistischer Infektionen in der OLE-Phase insgesamt nicht.<sup>7</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1903_Weblinks_jatros_neuro_1903_s24_abb1_ms_kretzschmar.jpg" alt="" width="1417" height="860" /></p> <h2>Cladribin</h2> <p>Mit Cladribin erhielt 2017 eine selektive Immun-Rekonstitutionstherapie (SIRT) eine EU-Zulassung für die Behandlung der hochaktiven schubförmigen Multiplen Sklerose (RMS). In der Basisstudie CLARITY erreichten nach 96 Wochen unter Cladribin 47 % der Patienten die NEDA-3-Kriterien (Placebo: 17 %). In den Jahren 3 und 4 (CLARITY-EXTENSION) blieb dieser Anteil mit 46 % stabil, auch wenn die Patienten auf Placebo umgestellt wurden, und war vergleichbar mit den Patienten, die weiterhin Cladribin erhielten (48 %).<sup>8</sup> Von 359 Patienten von CLARITY-EXTENSION liegen jetzt auch erste Daten aus dem Jahr 4 und 5 vor. Sie dokumentieren einen vergleichbaren Effekt auf die Reduktion der jährlichen Schubrate und die Behinderungsprogression, wenn die Patienten 2 oder 4 Zyklen Cladribin erhalten hatten (Abb. 2).<sup>9</sup> Neue Subgruppenauswertungen paraklinischer Endpunkte der Phase-III-Studie ORACLE-MS belegen den raschen Wirkungseintritt nach dem ersten Therapiezyklus. Im Vergleich zu Placebo wurde ein deutlich stärkerer Rückgang der Gd+-Läsionen im T1-MRT bereits in Woche 13 beobachtet, deren Anzahl bis 24 Woche weiter sank und dieses Niveau bis Woche 96 beibehielt (p < 0,0001 in Woche 96).<sup>10</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Neuro_1903_Weblinks_jatros_neuro_1903_s26_abb2_ms_kretzschmar.jpg" alt="" width="1417" height="1010" /></p> <h2>Teriflunomid</h2> <p>Neue Analysen zeigen für das orale krankheitsmodifizierende Therapeutikum Teriflunomid (DMD; „disease modifying drug“) aus den Extensionsstudien der Phase- II/III-Studien TEMSO, TOWER und TENERE inzwischen eine anhaltende Wirksamkeit mit einem stabilen EDSS über bis zu 8 Jahre. Dies gilt sowohl für Patienten, die Teriflunomid als Ersttherapie erhielten, als auch für jene, die von anderen DMD auf Teriflunomid umgestellt wurden.<sup>11</sup> Posthoc- Analysen der TEMSO-Studie ergaben weiter, dass die positive Wirkung von Teriflunomid auf die Kognition im PASAT-Z3- Score vor allem durch die Reduktion des bei der MS erhöhten Hirnvolumenverlustes bedingt ist (44,2 %) sowie durch die Reduktion neuer oder sich vergrößernder Läsionen im T2-MRT (16,8 %) und die Schubratenreduktion (7,1 %).<sup>12</sup></p> <h2>Neue Optionen bei der SPMS</h2> <p>Mit der US-Zulassung von Siponimod zur Therapie der sekundär progressiven MS (SPMS) und Cladribin zur Therapie der RMS, welche auch die SPMS mit aufgesetzten Schüben betrifft, kann man den Patienten (bisher nur in den USA) endlich Therapieoptionen auch für vorwiegend degenerative MS-Verläufe anbieten. Dabei wird deutlich, dass die diagnostische Abgrenzung zwischen RRMS und SPMS mit Restschubaktivität in der Praxis schwierig sein kann. Hier besteht für die Zukunft ein erhöhter Schulungsbedarf, stellte Prof. Amit Bar-Or, Montreal, fest. Denn Siponimod wirkt bei der SPMS umso besser, je früher der Patient darauf umgestellt wird. Auch für Cladribin wird mit der breiten Zulassung in den USA eine neue Türe für die Therapie der frühen SPMS geöffnet.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 71. Jahrestagung der American Academy of Neurology
(AAN), 4.–10. April 2019, Philadelphia
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Luccinetti CF: Presidential Plenary Session; AAN 2019 <strong>2</strong> Harding K et al.: JAMA Neurol 2019; doi: 10.1001/jamaneurol. 2018.4905 [Epub ahead of print] <strong>3</strong> Brown JWL et al.: JAMA 2019; 321(2): 175-187 <strong>4</strong> Pelletier D et al.: Poster P3.2-037; AAN 2019 <strong>5</strong> Akgün K SL et al.: Poster P3.2-057; AAN 2019 <strong>6</strong> Hauser SL et al.: Poster P3.2-054; AAN 2019 <strong>7</strong> Hauser SL et al.: Poster P4.2-025; AAN 2019 <strong>8</strong> Giovannoni G et al.: Poster P894; ECTRIMS 2018 <strong>9</strong> Giovannoni G et al.: AAN 2019; Poster P3.2-100; AAN 2019 <strong>10</strong> Scarberry S et al.: Poster P3.2-061; AAN 2019 <strong>11</strong> Comi G et al.: Poster P3.2-071; AAN 2019 <strong>12</strong> Wuerfel J et al.: Poster P3.2-058, AAN 2019</p>
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