
Subjektive Erkrankungskonzepte bei Epilepsie
Autoren: Dr. Matthias Schmutz1
Dr. Caroline Boin2
1 Leiter Klinische Psychologie
Schweizerisches Epilepsie-Zentrum
2 Bereichsleitung Zentrum für ambulante Psychosomatik ZAP
Schweizerisches Epilepsie-Zentrum
Korrespondierender Autor:
Dr. Matthias Schmutz1
E-Mail: matthias.schmutz@kliniklengg.ch
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Eine klinisch signifikante Anzahl schwieriger oder sogar refraktärer Behandlungsverläufe im Bereich der Epileptologie geht auf das Konto medikamentöser Mal- und Non-Adhärenz. Anhand zweier ethnomedizinischer Behandlungsvignetten soll verdeutlicht werden, dass der Einbezug subjektiver Erkrankungs- und Behandlungs-konzepte – seien sie aus einer «fremden» oder der «eigenen» Kultur – in jedem Fall gewinnbringend für das Adhärenzmanagement ist.
Keypoints
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Medikamentöse Mal- bzw. Non-Adhärenz in Epilepsiebehandlungen ist ein relevantes klinisches Problem und nach wie vor unterthematisiert.
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Der Einbezug der subjektiven Erkrankungs- und Behandlungskonzepte der Patient*innen in die Gesamtbehandlungsstrategie erweist sich als unabdingbar für gelingende Adhärenz.
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«Motivational Interviewing» ist ein Beispiel für eine einfach zu erlernende Gesprächstechnik zur Exploration und Integration der subjektiven Sichtweisen von Patient*innen in den Behandlungsprozess.
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Aktive Involvierung von Patient*innen in ihre Behandlung erfordert ärztlicherseits Zuhören und Zeit, wozu die aktuell gültigen Tarif- und Vergütungssysteme wenig Anreiz bieten.
Medikamentöse Mal- bzw. Non-Adhärenz ist im Bereich der Epilepsiebehandlung – wie bei anderen chronischen Erkrankungen auch – eine anhaltende Herausforderung für die klinische Praxis. Schon Hippokrates hielt fest, dass Patient*innen oft lügen würden, wenn sie behaupten, eine bestimmte Medizin eingenommen zu haben. Hier mag auch ein moralisches Problem mangelnder Ehrlichkeit angesprochen sein – das Problem ist aber zweifellos ungleich facettenreicher und sollte in seiner ganzen Komplexität angesprochen werden. Die Zahlen sind in der Tat eindrücklich: Über alle chronischen Erkrankungen hinweg ist in der Zusammenschau der relevanten Befunde von Mal- bzw. Non-Adhärenz-Raten von bis zu 50% auszugehen. Dies ist ein auch gesundheitsökonomisch relevanter Befund. Gollwitzer et al.1 haben 2016 in einer retrospektiven Analyse für Epilepsiepatient*innen in Deutschland eine Adhärenzrate von gut 67% nachgewiesen, dies bei einer eher grosszügigen Adhärenzdefinition (von mind. 80% Übereinstimmung mit der verordneten Dosierung). Als Risikofaktoren benennen die Autor*innen u.a. die Verordnung älterer (versus neuere) Antikonvulsiva sowie ein 3-fach/d-Dosierschema (versus 2-fach/d). Maladhärenz ist nicht selten für Anfallrezidive bzw. für die Etablierung (eigentlich unnötiger) medikamentöser Polytherapien verantwortlich.
Prädiktoren für gute Adhärenz
Es gibt mittlerweile viel klinische und auch empirische Evidenz, dass eine (aus Sicht der Patienten) als vertrauensvoll und hinsichtlich Entscheidungsfindungen als gleichwertig erlebte Beziehung zu behandelnden Ärzten einer der besten Prädiktoren für medikamentöse Adhärenz ist.2,3 Im Bereich der etablierten psychologischen und ärztlichen Psychotherapien ist dieser Zusammenhang zwischen subjektiv wahrgenommener Qualität der therapeutischen Beziehung und therapeutischem Outcome seit Langem schon empirisch gut belegt.4,5
In welcher spezifischen Weise könnte eine als vertrauensvoll und auf Augenhöhe wahrgenommene ärztliche/therapeutische Beziehung zu einer Verbesserung der medikamentösen Adhärenz von Epilepsiepatient*innen beitragen? Gut etabliert sind edukative Ansätze mit therapeutisch angeleiteten Informations- und Schulungsprogrammen.6 Dabei wird schulmedizinische und psychologische Basisinformation über Epilepsie und über das Erkrankungscoping in verständlicher und didaktisch gut aufbereiteter Weise angeboten. Einige Patient*innen fühlen sich da aber nur unzureichend angesprochen, da sie ganz andere Erkrankungskonzepte haben, die sie spontan ihren Ärzten oder Psychotherapeuten gegenüber nicht ansprechen würden.
Die Rolle subjektiver Erkrankungskonzepte
Subjektive Erkrankungskonzepte galten in der Medizin lange als Störfaktor. Dies spiegelt sich sehr deutlich im semantischen Feld des Adhärenzvorläuferbegriffs Compliance wider, bei dem auch Aspekte von Unterwürfigkeit und Fügsamkeit mitschwingen. Erst allmählich hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der ideale Patient, der die schulmedizinischen Erklärungen seines Arztes widerspruchslos annimmt und entsprechend die rezeptierten Therapien nach ärztlicher/therapeutischer Massgabe durchführt, eher die Ausnahme als die Regel darstellt.
Patient*innen sind, wie alle Menschen, prinzipiell deutende Wesen, die ihre Umgebung und sich selbst in subjektiv sinnhafter Weise zu verstehen versuchen und damit eine potenziell unberechenbare Welt einschliesslich eines potenziell unberechenbaren, plötzlich krank werdenden Körpers zu kontrollieren versuchen. Bei vielen Erkrankungen und vorzugsweise bei denen, die von der Schulmedizin noch nicht oder nur partiell verstanden sind, ist die subjektive Sinn- bzw. Ursachen-Attribuierung ein ubiquitäres Phänomen.
Klinisch begegnen uns solche subjektiven Erkrankungskonzepte bei Epilepsiepatient*innen meist in Form von psychosomatisch inspirierten Vorstellungen: epileptische Anfälle als Ausdruck von generellem Stress, von negativer Emotionalität, gelegentlich auch von sehr starken Gefühlen, unabhängig, ob negativ oder positiv, oder von angestauter Emotionalität. Häufig liegt ein kathartisches Modell zugrunde, wobei der Anfall als notwendiges, reinigendes Gewitter gewertet wird. Verbunden mit solchen kathartischen und ganzheitlichen Konzepten ist eine Skepsis «chemischen» Medikamenten gegenüber, die verhindern, dass eine «innere Spannung» abgeführt bzw. gelöst wird. Gelegentlich kommen auch extrapsychische Faktoren ins Spiel wie Vollmond oder Wetterwechsel.
Um etwaige Missverständnisse auszuräumen: Auch wenn die empirische Datenlage dazu schwach ist, begegnen uns in der klinischen Praxis gelegentlich Patient*innen, deren Epilepsie bzw. deren epileptische Anfälle in der Tat psychosomatisch sind, d.h. in gewissem, auch objektiv erkennbarem Ausmass von spezifischen psychosozialen Stressfaktoren moduliert werden. Die klinische Erfahrung zeigt allerdings auch, dass dieser Zusammenhang von Patient*innen in der Regel überschätzt wird und dass die oben genannten subjektiven Erkrankungskonzepte häufig Ausdruck eines Ursachen-Attribuierungsbedürfnisses sind.
Motivational Interviewing/ motivierende Gesprächsführung
Motivational Interviewing (MI) ist eine einfach zu lernende Form der Gesprächsführung, die ursprünglich im suchtmedizinischen Bereich entwickelt worden ist,7,8 mit dem Ziel der Förderung der intrinsischen Motivation zur Verhaltensänderung. MI verzichtet explizit auf Agogik und Drohkulissen, betont vielmehr die Wahl- und Entscheidungsfreiheit der Patient*innen, mutet diesen damit aber auch gleichzeitig die Verantwortlichkeit für Veränderung oder eben auch Stagnation in Bezug auf eine (unbefriedigende) Erkrankungs-/Behandlungssituation zu. Zwei zentrale Aspekte von MI sind Empathie (d.h. die Situation aus Sicht der Patient*innen zu betrachten und zu verstehen) sowie Exploration und Klärung von Ambivalenzen und/oder kognitiven Dissonanzen. Damit erweist sich MI als gut geeignetes Tool, um subjektive Erkrankungskonzepte und assoziierte Adhärenzkonflikte in konstruktiver Weise zu explorieren und zu klären. Die beiden Fallvignetten auf dieser und der folgenden Seite sollen das veranschaulichen. Vignette 2 beschreibt eine Patientin mit dissoziativen Anfällen, ohne Epilepsie. Auch bei diesenPatient*innen, mit denen die Epileptologie im Rahmen der Differentialdiagnostik bekanntermassen ja sehr häufig beschäftigt ist, stellt sich ein sehr analoges Adhärenz Problem wie bei Epilepsie-Patient*innen, mit dem Unterschied, dass sich dieses nicht auf eine medikamentöse, sondern eine psychotherapeutische Behandlung bezieht.
Psychosomatische und soziosomatische subjektive Erkrankungskonzepte
Die beiden referierten Fallvignetten mögen für einige Leser*innen ungewohnte oder unbekannte Erkrankungskonzepte beinhalten. Für traditionell muslimisch oder buddhistisch sozialisierte Menschen ist umgekehrt die in der westlichen Medizin gut bekannte Vorstellung eines Zusammenhangs von innerer, psychischer Befindlichkeit mit einer körperlichen Erkrankung (bzw. mit einer markant körperlichen Symptomsemiologie wie bei dissoziativen Anfällen) ungewohnt bzw. unbekannt. Naheliegend hingegen ist – und das ist der gemeinsame Kern der beiden Fallvignetten –, dass die (häufig Neid-assoziierte) Störung in einer sozialen Beziehung (zwischen dem verstorbenen Vater und dem Gläubiger im ersten Beispiel, zwischen der angeheirateten Tante und dem Vater der Patientin im zweiten Beispiel), vermittelt durch Geister oder Dschinns, zu einer körperlichen Erkrankung führt. Statt von einer psychosomatischen Störung liesse sich in diesem Kontext dann von einer soziosomatischen Störung zu sprechen.10
Therapeutische Implikationen
Der ethnologisch/ethnomedizinische Blick auf das «Fremde» ermöglicht vielleicht nun auch ein besseres Verständnis für das «Eigene». Subjektive Erkrankungskonzepte – egal ob psychosomatisch/ganzheitlich oder soziosomatisch inspiriert – sind ubiquitär und häufig per se nicht kompatibel mit schulmedizinischen Behandlungskonzepten. Empathisches Zuhören und Verstehen und ein nichtkonfrontativer Fokus auf die Förderung intrinsischer Veränderungsmotivation – z.B. mithilfe der Technik des Motivational Interviewing – erzeugen bei Patient*innen in aller Regel ein starkes Gefühl, ernst genommen zu werden, und ermöglichen es häufig, zwischen den subjektiven und den schulmedizinischen Erkrankungs- und Behandlungskonzepten eine für die Patient*innen begehbare Brücke zu schlagen. Kreative Lösungen im Sinne konsekutiver Behandlungsstrategien (wie in der ersten Fallvignette) oder komplementär konzipierter Behandlungen (wie in der zweiten Fallvignette) sollten ohne Scheuklappen in Erwägung gezogen werden. Aus schulmedizinisch-therapeutischer Sicht gibt es klare Grenzen bei dem hier skizzierten Vorgehen: Wenn sich die subjektiven Erkrankungskonzepte als psychotisch motiviert erweisen, beispielsweise im Rahmen einer Wahndynamik, oder wenn diese Konzepte selbst- oder fremdschädigende Aspekte beinhalten, sind anderweitige Interventionen angezeigt.
Wer nimmt sich die Zeit?
Empathisches Zuhören, Motivational Interviewing, Förderung der intrinsischen Motivation – all das bedarf eines gewissen Zeitaufwands. Die aktuell geltenden Vergütungssysteme im Bereich der ambulanten epileptologischen Behandlungen ergeben keinen finanziellen Anreiz zur Ausweitung der sog. sprechenden Medizin.11 Dieser Umstand ist ökonomisch relevant und bei allen Diskussionen um das Adhärenzmanagement mitzuberücksichtigen. In ausgewählten Fällen ist eine «Auslagerung» der Thematik in das psychotherapeutische Setting sicherlich indiziert. Gleichwohl bleibt es äusserst wünschenswert, dass sich die behandelnden Epileptolog*innen, die die Antikonvulsiva indizieren und rezeptieren, vermehrt auch im Sinne der oben genannten Überlegungen um die subjektiven Erkrankungs- und Behandlungskonzepte ihrer Patient*innen und damit um eine verbesserte Adhärenz kümmern.
Literatur:
bei den Verfassern
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