Wichtiger Faktor für die Lebensqualität

Soziale Kognition in Neurologieund Psychiatrie

Störungen der sozialen Kognition sind häufige, für die Lebensqualität wesentliche, aber unterdiagnostizierte Begleitsymptome vieler neurologischer Erkrankungen und psychiatrischer Störungen.

Keypoints

  • Soziale Kognition beschreibt Fähigkeiten, andere, uns selbst und unsere Beziehungen zu anderen mental zu repräsentieren, zu bewerten und unser Sozialverhalten anzupassen.

  • Störungen der sozialen Kognition sind für die Lebensqualität von zentraler Bedeutung: Eine gelingende soziale Teilhabe in Partnerschaft, Familie und Beruf ist die wichtigste Determinante subjektiver Lebensqualität.

  • Sozialkognitive Fähigkeiten basieren auf einem komplexen Zusammenspiel weit distribuierter neuronaler Netzwerke, Beeinträchtigungen der sozialen Kognition treten entsprechend in einem breiten Spektrum von psychiatrischen und neurologischen Pathologien auf.

  • Bis heute stehen keine für die klinische Routine geeigneten Verfahren zur Erfassung der sozialen Kognition mit hinreichend ausgewiesenen Gütekriterien zur Verfügung. Mit dem Web-App-basierten Test COSIMO möchte unsere Forschergruppe dies ändern.

Was ist soziale Kognition?

Menschen sind soziale Wesen, weil die meisten ihrer Handlungen von sozialen Motiven und Bedürfnissen geleitet sind.1 Daher überrascht es nicht, dass auch für die meisten Menschen gelingende soziale Teilhabe in Partnerschaft, Familie und Beruf die wichtigste Determinante von subjektiver Lebensqualität und Glück ist. Dass neurologische und psychiatrische Störungen der Integrität höherer Hirnfunktionen unterschiedliche Ebenen des individuellen Vermögens zu sozialen Interaktionen beeinflussen können, ist zwar klinisches Erfahrungswissen, wird aber insbesondere in der Neurologie bis heute leider noch oft vernachlässigt.

Vor mehr als 20 Jahren entstanden die sogenannten «Social Neurosciences», die neuronale Grundlagen des menschlichen Sozialverhaltens zum vielbeachteten Forschungsgegenstand machten. Der Begriff der sozialen Kognition beschreibt Fähigkeiten, andere, uns selbst und unsere Beziehungen zu anderen mental zu repräsentieren, zu bewerten und unser Sozialverhalten anzupassen.2 Neben der kognitiven und affektiven Empathie sind in der Diagnostik und Forschung zwei gut operationalisierbare Konstrukte der sozialen Kognition von zentraler Bedeutung: die Emotionserkennung, das Zuordnen von Basisemotionen zu basalen sozialen Hinweisreizen und die Theory of Mind, die Fähigkeit, mentale Zustände wie Gedanken, Motivationen und Intentionen anderer einzuschätzen bzw. zu antizipieren.3

Nur die korrekte Interpretation sozialer Signale befähigt uns zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung funktionaler, reziproker sozialer Beziehungen und zur Akkumulierung von individuellen sozialen Ressourcen.4 Beeinträchtigungen in sozialkognitiven Fähigkeiten können bei Patienten aufgrund des daraus resultierenden maladaptiven Sozialverhaltens zu einem Verlust sozialer Unterstützung führen und sind assoziiert mit einem reduzierten psychosozialen Wohlbefinden und verminderter Lebensqualität.2, 5–8

Sozialkognitive Fähigkeiten basieren auf einem komplexen Zusammenspiel kortikal und subkortikal distribuierter neuronaler Netzwerke, welche frontale, limbische, temporale, und parietale Hirnregionen umfassen.9–14 Insbesondere der präfrontale Kortex, die Insula, das anteriore Cingulum, der temporoparietale Übergang und limbische Regionen sind von herausragender Bedeutung.15 Es erstaunt daher wenig, dass funktionelle und strukturelle Läsionen dieser Netzwerke mit Beeinträchtigungen der sozialen Kognition mit einem breiten Spektrum von psychischen, neurologischen und Entwicklungsstörungen einhergehen.15

Die Anerkennung der Bedeutung der sozialen Kognition in der neurologischen und psychiatrischen Praxis zeigt sich auch darin, dass sie als eine von sechs Dimensionen neurokognitiver Funktion in das DSM-5 aufgenommen wurde.16 Trotz der hohen Relevanz für den Alltag und die klinische Praxis und des stetig zunehmenden Forschungsinteresses an der sozialen Kognition in der Psychiatrie und Neurologie sind standardisierte, einfach anwendbare, wirtschaftliche, normierte und ökologisch valide Verfahren rar.1, 17–20 Daher werden sozialkognitive Funktionen in der neuropsychologischen, verhaltensneurologischen und psychiatrischen Testdiagnostik bis heute zumeist vernachlässigt.

Abb. 1: Beispiel aus dem Web-App-basierten Test COSIMO ( https://cosimo-project.com )

Soziale Kognition in der Neurologie

Bei verschiedenen Erkrankungen des zentralen Nervensystems neurodegenerativer, vaskulärer, traumatischer und raumfordernder Genese sowie bei Epilepsien verweisen Primärstudien und metaanalytische Daten auf Defizite in der Emotionserkennung und Theory of Mind.15, 21 Nicht nur die «üblichen Verdächtigen», die klassischen frontal betonten Pathologien wie z.B. die behaviorale Variante der frontotemporalen Lobärdegeneration und die Frontallappen-Epilepsie, sind mit Defiziten in der sozialen Kognition assoziiert. Soziokognitive Dysfunktionen scheinen im Gegenteil ein klinischer Marker für ein viel breiteres Feld neurologischer Erkrankungen zu sein. So zeigt sich am Beispiel der Epilepsie, dass die Temporallappen- und die Frontallappen-Epilepsie mit häufig ähnlich schwerwiegenden Einschränkungen der Theory of Mind einhergehen und auch Patienten mit Epilepsien extratemporalen und extrafrontalen Ursprungs oft unter signifikanten Beeinträchtigungen der sozialen Kognition leiden.18

Trotz der wachsenden Evidenz und des stetig steigenden Forschungsinteresses bezüglich soziokognitiver Dysfunktionen in mehreren neurologischen Störungsbereichen zeigen sich dennoch beträchtliche «blind spots». So herrscht einerseits im Bereich der Subtypen von Erkrankungen wie beispielsweise atypischen Alzheimererkrankungen und Parkinsonsyndromen oder extratemporalen Epilepsien Forschungsbedarf, andererseits werden wichtige Kovariaten in systematischen Reviews und insbesondere Metaanalysen bisher noch oft vernachlässigt. Hierzu zählen unter anderem die Lateralisation und die Lokalisation der Pathologie, das Alter bei der Erstmanifestation, die Dauer der Erkrankung, der Krankheitsverlauf, komorbide psychische Störungen, die pharmakologische Behandlung sowie neurochirurgische Eingriffe. Neue Forschungsansätze und Erkenntnisse hierzu könnten sich für die künftige Entwicklung therapeutischer Ansätze und die Integration der sozialen Kognition als Bestandteil der neuropsychologischen Standarddiagnostik und Therapie in der Neurologie als zentral erweisen.

Soziale Kognition in der Psychiatrie

Je nach Symptombild sind bei psychiatrischen Störungen unterschiedliche Aspekte der Aktivität von Netzwerken des Gehirns gestört. Sind gleich mehrere Netzwerke betroffen, wie bei der Schizophrenie, scheint auch die soziale Kognition stärker beeinträchtigt zu sein.22, 23 Eine funktionelle MRT-Studie mit Schizophreniepatienten hat veränderte Aktivitätsmuster des Default-Mode-Netzwerkes (DMN), des medialen visuellen Netzwerkes und des sensomotorischen Netzwerkes berichtet, welche mit dem Zusammenbruch einiger Funktionen der sozialen Kognition wie Emotionsregulation, Emotionserkennung und Theory of Mind verknüpft sind.22 Komorbide, subdepressive Symptome können bei einer Schizophrenie die Fähigkeiten der sozialen Kognition weiter beeinträchtigen, indem sie auch nichtemotionale ToM-Fähigkeiten weiter einschränken.24 Ein progredienter Verlust der Netzwerkarchitektur reduziert dabei das Vermögen zur Kompensation soziokognitiver Defizite.

Auch depressive Störungen gehen mit Beeinträchtigungen der sozialen Kognition wie ToM, sozialer Perzeption und Metakognition einher.25 Ob die Beeinträchtigungen der sozialen Kognition zum Schweregrad der Störung beitragen oder umgekehrt, ist noch unklar. Wahrscheinlich interagieren hier zwei Faktoren selbstverstärkend, da ein erhöhter Schweregrad zur sozialen Isolation führt und umgekehrt soziale Isolation die depressiven Kernsymptome verstärken kann.4, 26

Bei Angststörungen wird angenommen, dass hier Defizite der sozialen Kognition differenziert anzusehen sind.27 So sind posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) mit besonders schweren Beeinträchtigungen der Emotionserkennung und der ToM vergesellschaftet. Bei anderen Angststörungen stehen eher Fehlattributionen sozialer Situationen im Vordergrund. Wenn auch andere psychiatrische Störungen spezifische Muster der Beeinträchtigungen der sozialen Kognition aufweisen, könnte eine Untersuchung der sozialen Kognition zukünftig auch einen Beitrag zur Diagnosestellung, zur Beurteilung sozialer Funktionseinschränkungen und des Bestehens von sozialen Ressourcen und Risiken leisten.

Testverfahren der sozialen Kognition

Beeinträchtigungen der sozialen Kognition gehören zum Symptombild zahlreicher neurologischer Erkrankungen und psychiatrischer Störungen. Trotzdem stehen bis heute keine für die klinische Routine geeigneten Verfahren mit hinreichend ausgewiesenen Gütekriterien zur Verfügung. In klinischen Studien werden Tests mit einer hohen Ökonomie bevorzugt, obwohl diese weniger reliabel und valide sind.18 Auch hat sich bis heute kein Goldstandard der Diagnostik sozialer Kognition durchgesetzt. Der Bedarf an einem zeitökonomischen Testverfahren mit akzeptablen Gütekriterien und Normen, die Alter, Kultur und Geschlecht berücksichtigen, ist unübersehbar.

Mit zwanzigjähriger Erfahrung in der Diagnostik und funktionellen Bildgebung der sozialen Kognition bei neurologischen Patienten entwickelt unsere Forschergruppe am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum den Web-App-basierten Test Cognition of Social Interaction in Movies (COSIMO). Der Test fokussiert auf komplexe Emotionserkennung von dyadischen Interaktionen in kurzen Filmausschnitten. COSIMO ist online durch den Browser zugänglich und kann somit ohne zusätzlichen Aufwand auf klinikinternen, aber auch persönlichen Endgeräten aufgerufen werden. Das Onlineformat erlaubt dabei eine effiziente Gewinnung von Normdaten aus zahlreichen Nationen und Kulturen. Dadurch ist das Verfahren ideal für internationale Multicenterstudien, welche kultur- und sprachübergreifende Normen benötigen. Die ökologische Validität ist dadurch gewährleistet, dass die Stimuli aus professionell produzierten Filmen und Serien von unterschiedlichen internationalen Streamingdiensten stammen. Die Gewichtung von Antwortalternativen erlaubt eine Verbesserung der Sensitivität des Verfahrens. Die Filmausschnitte wurden zum Zweck der externen Validierung auch mittels einer funktionellen MRT-Studie mit 20 Personen untersucht. Wir konnten hierdurch bestätigen, dass das verwendete Filmmaterial zuverlässig BOLD-Aktivierungen in temporalen, parietalen und frontalen Hirnregionen auslöst, welche für die Prozesse der sozialen Kognition in der Forschungsliteratur als relevant beschrieben sind. COSIMO durchläuft aktuell eine Normierung und klinische Validierung und wird Anfang 2023 für die Forschung auf Deutsch, Englisch, Spanisch und Norwegisch kostenlos zugänglich sein. Weitere Sprachen werden folgen. Alle Daten werden ausschliesslich anonymisiert erhoben und ausgewertet.

Unsere Forschung zur sozialen Kognition bei Menschen mit Epilepsie und die Entwicklung von COSIMO werden grosszügig von der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung, Zürich, und der Stiftung Domarena, Luzern, Schweiz, unterstützt. Wir bedanken uns darüber hinaus bei Hannah Sievers, Fidel Schüpfer Lopez, Amelia Blesius, Lara Friedrich und Anne Hansen für ihre wertvolle Mitarbeit.

1 Henry JD et al.: Clinical assessment of social cognitive function in neurological disorders. Nat Rev Neurol 2016; 12: 28-39 2 Broicher SD et al.: “Tell me how do I feel” - emotion recognition and theory of mind in symptomatic mesial temporal lobe epilepsy. Neuropsychologia 2012; 50: 118-28 3 Broicher S, Jokeit H: Emotional agnosis and theory of mind. In: The Neuropsychiatry of Epilepsy. 2011; 109; Cambridge University Press, Cambridge 4 Steiger BK, Jokeit H: Why epilepsy challenges social life. Seizure 2017; 44: 194-8 5 Helliwell JF, Putnam RD: The social context of well-being. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci 2004; 359: 1435-46 6 Thoits PA: Mechanisms linking social ties and support to physical and mental health. J Health Soc Behav 2011; 52: 145-61 7 Umberson D, Montez JK: Social relationships and health: a flashpoint for health policy. J Health Soc Behav 2010; 51: S54-S66 8Helliwell JF et al.: Social capital and prosocial behaviour as sources of well-being. In: Handbook of Well-Being. Hrsg.: Diener E et al. DEF Publishers, 2018; Salt Lake City 9 Abu-Akel A, Shamay-Tsoory S: Neuroanatomical and neurochemical bases of theory of mind. Neuropsychologia 2011; 49: 2971-84 10 Dricu M, Frühholz S: Perceiving emotional expressions in others: activation likelihood estimation meta-analyses of explicit evaluation, passive perception and incidental perception of emotions. Neurosci Biobehav Rev 2016; 71: 810-28 11 Fusar-Poli P et al.: Functional atlas of emotional faces processing: a voxel-based meta-analysis of 105 functional magnetic resonance imaging studies. J Psychiatry Neurosci 2009; 34: 418-32 12 Pannese A et al.: Amygdala and auditory cortex exhibit distinct sensitivity to relevant acoustic features of auditory emotions. Cortex 2016; 85: 116-25 13 Schurz M et al.: Fractionating theory of mind: a meta-analysis of functional brain imaging studies. Neurosci Biobehav Rev 2014; 42: 9-34 14 Wang Y et al.: White matter pathways and social cognition. Neurosci Biobehav Rev 2018; 90: 350-70 15 Cotter J et al.: Social cognitive dysfunction as a clinical marker: a systematic review of meta-analyses across 30 clinical conditions. Neurosci Biobehav Rev 2018; 84: 92-9 16 American Psychiatric Association (APA): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 2013 17 Bauer J et al.: Assessment tools for social cognition in epilepsy. Zeitschrift für Epileptologie 2019; 32: 183-6 18 Eicher M, Jokeit H: Toward social neuropsychology of epilepsy: a meta-analysis on social cognition in epilepsy phenotypes and a critical narrative review on assessment methods. Acta Epileptologica 2022; 4 19 Martory MD et al.: Assessment of social cognition and theory of mind: initial validation of the Geneva Social Cognition Scale. Eur Neurol 2015; 74: 288-95 20 Ziaei M et al.: Social cognition in frontal and temporal lobe epilepsy: systematic review and meta-analysis. MedRxiv 21 Maggio MG et al.: Social cognition in patients with acquired brain lesions: an overview on an under-reported problem. Appl Neuropsychol Adult 2022; 29: 419-31 22 Jimenez AM et al.: Linking resting-state networks and social cognition in schizophrenia and bipolar disorder. Hum Brain Mapp 2019; 40: 4703-15 23 Pinkham AE: Social cognition in schizophrenia. J Clin Psychiatry 2014; 75(Suppl 2): 14-9 24 Navarra-Ventura G et al.: Group and sex differences in social cognition in bipolar disorder, schizophrenia/schizoaffective disorder and healthy people. Compr Psychiatry 2021; 109: 152258 25 Ladegaard N et al.: Higher-order social cognition in first-episode major depression. Psychiatry Res 2014; 216: 37-43 26 Szemere E, Jokeit H: Quality of life is social–towards an improvement of social abilities in patients with epilepsy. Seizure 2015; 26: 12-21 27 Plana I et al.: A meta-analysis and scoping review of social cognition performance in social phobia, posttraumatic stress disorder and other anxiety disorders. J Anxiety Disord 2014; 28: 169-77

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