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DGfE-Tagung 2020

Psychotherapie bei PatientInnen mit dissoziativen Anfällen – ein Update

Trotz heterogener Forschungsbefunde und ungeklärter Fragen zur Ätiopathogenese gilt Psychotherapie als Behandlung der Wahl bei dissoziativen Anfällen. Zur Auswahl stehen die etablierten allgemeinen Therapieverfahren aus dem psychodynamischen, kognitiv-behavioralen und integrativen Bereich, deren Wirksamkeit mittlerweile empirisch gut belegt ist. Einige symptomspezifische Besonderheiten sind zu beachten.

Keypoints
  • Dissoziative Anfälle stellen sowohl für die epileptologische Differenzialdiagnostik als auch für die psychotherapeutische Behandlung eine grosse Herausforderung dar.

  • Ein primär symptomfokussierter Zugang erscheint für die psychotherapeutische Behandlung nicht zielführend. Der psychiatrische/psychodynamische Grundmorbus sowie die soziobiografische Entwicklung sind vorrangig in die Behandlungsplanung miteinzubeziehen.

  • Wenngleich einige symptomspezifische Besonderheiten in der Psychotherapie zu beachten sind, können diese Behandlungen auch von allgemein tätigen niedergelassenen ärztlichen und psychologischen PsychotherapeutInnen durchgeführt werden.

  • Eine geeignete Zusammenarbeit zwischen der/dem abklärenden NeurologIn bzw. dem die Diagnose stellenden Tertiärzentrum einerseits und der/dem behandelnden PsychotherapeutIn andererseits erweist sich als hilfreich für einen gelingenden Therapieverlauf.

Dissoziative Anfälle (DA) sind gemäss klinischer Konvention paroxysmal auftretende Ereignisse, die mit einer Alteration des Bewusstseins, mit motorischen Entäusserungen und/oder mit Veränderungen der sensorischen Funktionen und der Emotionalität einhergehen. Ihre Semiologie ist derjenigen epileptischer Anfälle teilweise sehr ähnlich, allerdings zeigt sich im iktalen EEG bei DA keine epilepsietypische Aktivität. DA sind ein psychiatrisches Symptom. Die psychologischen/intrapsychischen Mechanismen der Dissoziation bzw. der Konversion spielen in der Regel eine zentrale Rolle bei der Symptombildung.

Die Terminologie ist seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute sowohl in den offiziellen Diagnosemanualen ICD und DSM als auch im klinischen Gebrauch sehr uneinheitlich.1 Der hier verwendete Terminus «dissoziative Anfälle» entspricht der ICD-10, die in der Schweizerischen Psychiatrie verwendet wird, und ist überdies aufgrund seiner primär deskriptiven Definition auch in der Kommunikation mit PatientInnen äusserst praktikabel.

Die Prävalenz dissoziativer Anfälle wird in der Allgemeinbevölkerung auf 2–33/100000 geschätzt,2 die jährliche Inzidenz auf ca. 3/100000. In der Epileptologie stellen dissoziative Anfälle eine signifikante klinische Herausforderung dar. 5–20% aller pharmakorefraktären ambulanten EpilepsiepatientInnen leiden tatsächlich unter DA. Bei 10–40% aller KandidatInnen für eine epilepsiechirurgische Intervention können ausschliesslich DA diagnostiziert werden.2

Die Forschungsliteratur der vergangenen zwei Dekaden ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl heterogener Befunde zu psychologischen, psychiatrischen und neurobiologischen Merkmalen. Valide verlaufs- und Outcome-prädiktive Marker haben sich bislang nicht identifizieren lassen. Übereinstimmende Befunde hingegen weisen auf einen insgesamt nur mässigen symptomatischen Outcome hin. So zeigt circa ein Drittel der PatientInnen eine längerfristige Anfallsfreiheit und circa ein Drittel einen chronisch schlechten Verlauf.3 Ein Hauptfokus der aktuellen Forschung liegt auf der Identifikation neurobiologischer Marker im Hinblick auf die Abgrenzung von PatientInnen mit epileptischen Anfällen oder gegenüber gesunden Kontrollen. Dabei stehen bildgebende und genetische Untersuchungen im Zentrum. Die Untersuchungen weisen kleine Fallzahlen auf. Die Befunde bewegen sich auf dem Niveau von Grundlagen-Hypothesen und sind damit von einem klinischen Einsatz in der Differenzialdiagnostik weit entfernt, ebenso sind bislang keine therapeutischen Implikationen erkennbar.

Störungsspezifische Psychotherapie?

Eine störungsspezifische Psychotherapie wird in der Literatur als Therapie der Wahl empfohlen, in der Regel eine kognitiv-behaviorale oder eine interpersonell-psychodynamisch orientierte Behandlung.

2020 wurden in «Lancet» die Ergebnisse einer prospektiv angelegten empirischen Untersuchung zum Effekt einer symptomspezifisch konzeptualisierten kognitiv-behavioralen Psychotherapie auf die Anfallsfrequenz bei PatientInnen mit DA publiziert. Hierbei konnten keine Unterschiede zwischen der PatientInnengruppe mit Psychotherapie und derjenigen mit sogenannter «standard medical care» gefunden werden.4 Der Befund dieser gross angelegten, multizentrisch durchgeführten Studie wirft Fragen auf im Hinblick auf die Wirksamkeit von Psychotherapie und auf das in dieser und in vielen Vorgängerstudien angewandte Forschungsparadigma.

Die empirische Beforschung einer Symptomgruppe ist aus methodologischer Sicht problematisch. Im Fall von Fieber oder Schlafstörungen beispielsweise ist es unmittelbar evident, dass die empirische Untersuchung von Behandlungseffekten oder von Prädiktoren des Erkrankungsverlaufes einzig im Kontext der Grunderkrankung sinnvoll ist. Dieses Vorgehen sollte auch im Bereich der dissoziativen Anfälle zum Forschungsstandard werden.5 Hochwahrscheinlich ist die (psychiatrische) Heterogenität der Gruppe der PatientInnen mit DA für die heterogenen und unbefriedigenden Befunde in diesem Forschungsbereich verantwortlich.

Fiedler6 weist zu Recht auf das Problem der häufig auftretenden psychiatrischen Komorbiditäten hin, die bei den weitverbreiteten Konzepten der symptom- und störungsspezifischen Behandlungen nicht angemessen adressiert werden. Dies trifft auch bei PatientInnen mit DA zu. Transdiagnostische Therapieansätze, die auf zugrunde liegende dysfunktionale intrapsychische Mechanismen fokussieren, erweisen sich in psychotherapeutischer Hinsicht als fruchtbarer und zielführender.6

Wirksamkeit von Psychotherapie

Die oben erwähnte Studie von Goldstein et al. sollte u.E. nicht dahingehend missinterpretiert werden, dass die generelle Wirksamkeit von Psychotherapie infrage zu stellen ist. Es existiert mittlerweile ein reicher Fundus an soliden empirischen Nachweisen der Wirksamkeit von Psychotherapie.7 Auch die Wirkfaktoren von effektiver Psychotherapie sind gut untersucht. So haben beispielsweise Tschuschke et al.8 in einer gross angelegten naturalistischen Studie in der Schweiz nachweisen können, dass die therapeutische Beziehung bzw. das Ausmass an übereinstimmender Einschätzung dieser Beziehung zwischen PatientIn und TherapeutIn den wichtigsten Faktor für das Therapie-Outcome darstellt. Nebst dieser Beziehungsvariablen spielen auch Variablen aufseiten der/des TherapeutIn eine wichtige Rolle. Erfolgreiche TherapeutInnen (Supershrinks) geben ihren PatientInnen subjektiv nachvollziehbare Erklärungen für deren Probleme und Störungen, generieren plausible Behandlungspläne sowie eine durch Akzeptanz und Verständnis geprägte therapeutische Beziehung. Sie pflegen zudem einen wertschätzenden, nicht diskriminierenden Umgang mit ihren PatientInnen.9

Psychotherapie bei PatientInnen mit dissoziativen Anfällen

Im Sinne der oben dargestellten Überlegungen lassen sich im Hinblick auf die Psychotherapie von PatientInnen mit DA zwei Aspekte – symptomspezifische und transdiagnostische – unterscheiden, die für eine erfolgreiche Therapie gleichermassen zu berücksichtigen sind.

Symptomspezifische Aspekte

Das dissoziative Anfallssymptom impliziert einige Besonderheiten, deren Kenntnisse für die Durchführung einer psychotherapeutischen Behandlung hilfreich sind:10

  • Die/der TherapeutIn sollte informiert sein über den indizierten Umgang mit Anfallsereignissen, z.B. während der Therapiestunde, im Wartezimmer oder am Arbeitsplatz der/des PatientIn (keine notärztliche Versorgung ausser bei schweren/fraglichen [Kopf-]Verletzungen, Entfernen von Publikum, deeskalierende Strategien). Die/der TherapeutIn sollte keine Angst vor der Körperlichkeit der dissoziativen Anfallssymptomatik haben.

  • Die/der TherapeutIn sollte informiert sein über die Rolle von Psychopharmaka und Antikonvulsiva in der Behandlung von DA. Ggf. sind diese indiziert bei entsprechenden komorbiden psychischen Störungen oder Schmerzen, jedoch nicht zur direkten Behandlung der dissoziativen Anfälle.

  • DA haben aufgrund ihres häufig dramatischen Auftretens einen hohen Impact auf Partner, Familienangehörige und/oder BerufskollegInnen. Phänomene wie z.B. Schonhaltung und Überprotektion können eine regressive Entwicklung begünstigen.

  • Die Arbeitsfähigkeit bei floriden DA kann symptombedingt vorübergehend teilweise oder vollständig eingeschränkt sein. Mittel- und längerfristig ist sie jedoch im Hinblick auf die relevante zugrunde liegende psychiatrische Morbidität zu beurteilen.

  • Bei fehlenden spezifischen rechtlichen Grundlagen in der Schweiz sind die generellen medizinischen Anforderungen für die Fahreignung zu berücksichtigen. Der individuelle klinisch-symptomatische und psychotherapeutische Verlauf kann in die Beurteilung miteinfliessen. Eine hilfreiche Guideline bietet Specht, 2007.11

  • Im psychotherapeutischen Behandlungsverlauf zweifeln PatientInnen häufig an der Validität der gestellten Diagnose. Im Sinne eines Gegenübertragungsphänomens stellen auch TherapeutInnen die gestellte Diagnose wiederholt infrage, gerade bei konflikthaften oder stagnierenden Therapieverläufen. In diesen Fällen bewährt sich eine enge Zusammenarbeit und Rücksprache mit den involvierten Fachpersonen der Epileptologie und Neurologie, sei es zur Bestätigung der gestellten Diagnose oder zur Klärung der Sinnhaftigkeit einer differenzialdiagnostischen Reevaluation.

Allgemein-psychotherapeutische/transdiagnostische Aspekte

Jenseits dieser symptomspezifischen Aspekte sind bei der klinisch-psychologischen/psychiatrischen Abklärung und Behandlung von PatientInnen mit DA die bewährten, gut etablierten Vorgehensweisen anzuwenden. Dazu gehören eine psychiatrische Diagnostik nach ICD und eine Befunderhebung, z.B. gemäss AMDP. Gelegentlich imponieren PatientInnen mit DA bezüglich psychiatrischer Komorbidität und Psychostatus weitgehend blande. Erst eine erweiterte Exploration mit Einbezug der soziobiografischen und beruflichen Informationen vermag in diesen Fällen die Entwicklung der Konversionssymptomatik in plausibler und psychotherapeutisch verwertbarer Weise zu erhellen. In der klinischen Praxis bewährt sich dabei eine «zweizeitige» Interviewtechnik. In einer ersten Phase wird dabei unter dezidierter Aussparung kausaler/ätiologischer Fragen rein auf die Symptomatik fokussiert und in einer zweiten Phase die soziobiografische und berufliche Entwicklung unter Aussparung der Symptomatik in den Blick genommen.10 In vielen Fällen lassen sich auf diese Weise psychologisch plausible Hypothesen zur Erstmanifestation der DA bilden. Diese gilt es im Anschluss in geeigneter Weise und zum geeigneten Zeitpunkt mit der/dem PatientIn zu besprechen und im weiteren Abklärungs- und Therapieverlauf zu verifizieren bzw. zu falsifizieren.

Entscheidend für die psychotherapeutische Behandlung ist zusätzlich die diagnostische Identifikation relevanter dysfunktionaler intrapsychischer Mechanismen – das, was in diesem Text als transdiagnostischer Zugang beschrieben wird. Präferiert die/der TherapeutIn einen psychodynamischen Ansatz, wird sie/er hierfür eine Einschätzung gemäss der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) durchführen. Im kognitiv-behavioralen Bereich bietet sich eine Analyse operanter maladaptiver Schemata an, eine integrative Vorgehensweise nach Grawe würde Annäherungs- und Vermeidungsziele sowie motivationale Konflikte und Diskordanzen identifizieren.

Von der stationären Abklärung zur ambulanten Psychotherapie

Wie bei allen Konversions- und somatoformen Symptomen steht auch bei DA die psychotherapeutische Behandlung an nachgeordneter Stelle. Sie kommt erst nach der initialen somatischen differenzialdiagnostischen Abklärung zum Zuge. Damit stellt sich die Frage nach Transition dieser PatientInnen vom abklärenden somatischen (i.d.R. neurologischen/epileptologischen) Fachbereich in den psychiatrischen/psychotherapeutischen Bereich. In einer Erhebung von 2019 haben wir – im Sinne eines nationalen Surveys – zusammengetragen, wie die epileptologischen Tertiärzentren und die grossen neurologischen Kliniken der Schweiz diesen Übergang bzw. die Zusammenarbeit zwischen Epileptologie und Psychotherapie/Psychiatrie gestalten.12 Ein Konsens besteht dahingehend, dass dem diagnostischen Aufklärungsgespräch eine grosse Bedeutung im Hinblick auf einen gelingenden Übergang von der apparativ-abklärenden zur sprechenden Medizin beigemessen wird. Die klinische Erfahrung zeigt, dass dieser Übergang häufig misslingt. In einigen Zentren ist das psychologisch-psychiatrische Fachpersonal schon frühzeitig im differenzialdiagnostischen Prozedere involviert, was die inhaltliche Plausibilität der diagnostischen Einschätzung für die PatientInnen sicherlich erhöht. Unabdingbar bleibt in dieser Phase die Rolle der/des abklärenden NeurologIn. Ihre konsistente innere und kommunizierte wohlwollend-akzeptierende Haltung der diagnostischen Einschätzung und der psychotherapeutischen Behandlungsempfehlung gegenüber ist mitentscheidend für den erfolgreichen Start einer ambulant-psychotherapeutischen Behandlung. In chronifizierten, therapieschwierigen oder symptomatisch akut floriden Konstellationen kann eine kurz dauernde stationäre Motivations- und Anschubtherapie noch im stationär-epileptologischen Setting indiziert sein. Im Schutze der somatischen Klinik kann die/der PatientIn erste Schritte ins ungewohnte und unsichere psychotherapeutische Terrain machen, die es baldmöglichst im ambulanten Setting zu vertiefen gilt. Spezialisierte Tertiärzentren bieten bei Bedarf auch poststationär sowohl bei psychotherapeutischen als auch bei diagnostisch-epileptologischen Fragestellungen interkollegialen konsiliarischen Support für ambulant behandelnde TherapeutInnen an.

PatientInnen mit DA müssen nicht zwingend in Spezialambulanzen oder bei auf DA spezialisierten niedergelassenen TherapeutInnen behandelt werden. Die in diesem Artikel weiter oben dargelegten symptomspezifischen Behandlungsaspekte sind für professionell ausgebildete psychologische oder ärztliche PsychotherapeutInnen einfach zu lernen bzw. in Erfahrung zu bringen. Der Hauptteil dieser Behandlungen besteht aus allgemeiner Psychotherapie lege artis.

1 Schmutz M: Dissoziative Anfälle – Studie über ein hysterisches Symptom. Peter Lang, 2012 2 Spitzer C et al.: Dissoziative Anfälle – eine Übersicht aus psychosozialer Perspektive. Epileptologie 2019; 35: 101-9 3 Bowmann ES, Kanner AM: Psychopathology and outcome in psychogenic nonepileptic seizures. In: Ettinger AB, Kanner AM (Eds.): Psychiatric issues in epilepsy. Lippincott, 2007 4 Goldstein LH et al.: Cognitive behavioural therapy for adults with dissociative seizures (CODES): a pragmatic, multicentre, randomised controlled trial. Lancet Psychiatry 2020; 7: 491-505 5 Schmutz M: Dissociative seizures – a critical review and perspective. Epilepsy Behav 2013; 29: 449-56 6 Hessler JB, Fiedler P: Transdiagnostische Interventionen in der Psychotherapie. Schattauer, 2019 7 Wampold BE, Imel ZE: The great psychotherapy debate. The evidence for what makes psychotherapy work. Routledge, 2015 8 Tschuschke V et al.: The Impact of patients’ and therapists’ views of the therapeutic alliance on treamtment outcome in psychotherapy. J Nerv Ment Dis 2020; 208(1): 56-64 9 Fiedler P: Die Zukunft der Psychotherapie. Springer, 2012 10 Schmutz M: Dissociation. In: Mula M (Ed.): Neuropsychiatric symptoms of epilepsy. Springer, 2016 11 Specht U: Fahreignung bei psychogenen nicht-epileptischen Anfällen. Z Epileptol 2007; 20: 208-16 12 Diagnose und Behandlungseinleitung bei dissoziativen Anfällen – zum Stand der klinischen Praxis in den grossen neurologisch-epileptologischen Zentren der Schweiz. Epileptologie 2018; 35: 110-39

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