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Posttraumatische Kopfschmerzen: häufig, aber oft nicht korrekt diagnostiziert
Leading Opinions
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01.03.2018
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<p class="article-intro">Kopfschmerzen nach einem Trauma kommen häufig vor, werden aber oft nicht korrekt diagnostiziert und klassifiziert. Doch eine korrekte Diagnose sei wichtig, erklärte Dr. med. Mark Braschinsky aus Estland kürzlich auf dem europäischen Kopfschmerz-Kongress in Rom, denn die Therapie müsse man individuell anpassen.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Braschinsky ist Neurologe an der Tartu- Universität in Estland und Präsident der estnischen Kopfschmerz-Gesellschaft. «Diagnostiziert man zu spät, ist das Risiko hoch, dass die Schmerzen chronifizieren», so Braschinsky in Rom. Je nach Schwere des Traumas bekommen 10 bis 95 % der Patienten nach einem Hirntrauma Kopfschmerzen.<sup>1–3</sup> In manchen Fällen resultieren die Schmerzen aus dem Gewebeschaden beim Trauma, zum Beispiel durch Knochenfrakturen oder Schäden an peripheren Nerven oder am Nervenplexus. Die Kopfschmerzen können aber auch sekundär entstehen, etwa durch Spastiken, abnormale Kopfhaltungen oder periartikuläre Knochenneubildungen.<sup>4, 5</sup> In der neuen Internationalen Klassifikation für Kopfschmerzen<sup>6</sup> sind posttraumatische Kopfschmerzen an erster Stelle unter den sekundären Kopfschmerzformen aufgeführt (Tab. 1). Treten Kopfschmerzen zum ersten Mal und in engem zeitlichem Zusammenhang mit einem Trauma oder einer Verletzung von Kopf oder Hals auf, klassifiziert man dies als «sekundäre Kopfschmerzen zurückzuführen auf Trauma oder Verletzung von Kopf oder Hals». Dies ist auch der Fall, wenn die neu aufgetretenen Kopfschmerzen primären Kopfschmerzen ähneln, etwa Migräne oder Spannungskopfschmerzen. Hatte ein Patient schon vorher primäre Kopfschmerzen und sind diese in engem zeitlichem Zusammenhang mit einem Trauma oder einer Verletzung schlimmer geworden, bekommt der Patient zwei Diagnosen: primäre Kopfschmerzen – etwa Migräne – und posttraumatische Kopfschmerzen.<br /> «Dass so viele Menschen nach einem Kopftrauma Kopfschmerzen haben, ist nicht erstaunlich», sagt Prof. Dr. med. Peter Sandor, Ärztlicher Direktor Neurologie und Mitglied der Unternehmensleitung an der RehaClinic in Bad Zurzach, der an der Klassifikation posttraumatischer Kopfschmerzen mitgearbeitet hat. «Der Schmerz ist ja ein Zeichen dafür, dass am oder im Kopf etwas verletzt ist, und das Schmerzsystem hat seine Aufgabe erfüllt.» Warum bei manchen Patienten die Schmerzen chronisch werden, sei noch nicht geklärt. «Eine Hypothese ist, dass es ähnlich wie bei Medikamenten- induzierten Kopfschmerzen zu einem Teufelskreis kommt.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1801_Weblinks_s8_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="771" /></p> <h2>Nach 3 Monaten: Diagnose «persistierend»</h2> <p>Posttraumatische Kopfschmerzen äussern sich wie eine der primären Kopfschmerzformen, also etwa wie Migräne, Spannungskopfschmerzen, Cluster-Kopfschmerzen oder als zervikogene Schmerzen. Für die Diagnose «akute posttraumatische Kopfschmerzen» muss natürlich ein Trauma oder eine Verletzung nachgewiesen werden. Die Kopfschmerzen müssen sich innerhalb von sieben Tagen nach dem Trauma entwickelt haben oder innerhalb von sieben Tagen nachdem der Patient nach einer Bewusstlosigkeit sein Bewusstsein wiedererlangt hat und über Schmerzen berichten kann (Tab. 2). Die Angabe mit den sieben Tagen sei etwas willkürlich, geben die Autoren der neuen Klassifikation zu, abgesehen davon könnten sich die Kopfschmerzen bei manchen Patienten auch erst nach längerer Zeit entwickeln. Die Kopfschmerzen können isoliert auftreten oder im Zusammenhang mit anderen Beschwerden, wie Müdigkeit, Schwindel, Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisproblemen, leichter Reizbarkeit, Angst oder Persönlichkeitsveränderungen. Liegen mehrere dieser Symptome vor, ist die Diagnose eines Postkonkussionssyndroms zu erwägen. Dauern die Schmerzen mehr als drei Monate nach dem Trauma an, werden sie als «persistierende posttraumatische Kopfschmerzen» klassifiziert (Tab. 3).<br /> Bei der akuten und bei der persistierenden Form wird weiterhin jeweils unterschieden, ob es ein mildes oder ein moderates bis schweres Trauma war. Letzteres bedeutet, dass der Patient mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt: Er war länger als 30 Minuten bewusstlos, es liegen ein Glasgow-Coma-Scale-Wert von <13, eine posttraumatische Amnesie, die länger als 24 Stunden dauert, Änderungen des Bewusstseinslevels für mehr als 24 Stunden oder der Nachweis einer traumatischen Hirnverletzung in der Bildgebung, zum Beispiel einer intrakraniellen Blutung und/oder einer Hirnkontusion vor. Ein mildes Trauma liegt dann vor, wenn keines der obigen Kriterien erfüllt ist, der Patient aber eine oder mehrere der folgenden Beschwerden zeigt: vorübergehende Verwirrtheit, Desorientiertheit oder eingeschränktes Bewusstsein, Gedächtnisverlust in Bezug auf Ereignisse kurz vor oder nach dem Kopfunfall, zwei oder mehr andere Symptome, die auf ein mildes Hirntrauma hinweisen, wie Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen, Schwindel, Gedächtnisprobleme und/oder Konzentrationsstörungen.<br /> Seit Längerem versuchen Forscher zu verstehen, was das Risiko für posttraumatische Kopfschmerzen erhöht. In einigen Studien wurde eine höhere Prävalenz nach mildem Hirntrauma als nach moderatem bis schwerem Trauma festgestellt. «Eine wissenschaftliche Erklärung hierfür gibt es nicht», sagt Prof. Sandor. «Möglicherweise sind bei nur leicht verletztem Gehirn die Hirnfunktionen noch so intakt, dass es Schmerzreize umfassend wahrnimmt und Schmerzsignale weitergibt. Bei schwer verletztem Gehirn könnte dies nicht mehr so gut möglich sein.» Forscher aus den Niederlanden dokumentierten bei 628 Erwachsenen ab 16 Jahren mit Hirntrauma ein höheres Risiko für akute posttraumatische Schmerzen bei jüngeren Personen, bei Frauen, bei denjenigen mit Auffälligkeiten in der Computertomografie und – nicht überraschend – bei denen, die schon in der Notaufnahme Kopfschmerzen hatten.<sup>7</sup> Dass Frauen häufiger betroffen seien, habe vermutlich mit der erblichen Veranlagung zu Migräne zu tun, sagt Prof. Sandor. «Migräne kommt bei Frauen doppelt so häufig vor wie bei Männern. Ist ein Mensch genetisch prädisponiert für Kopfschmerzen, ist das Hirn quasi empfindlicher und ein Trauma löst bei den Betroffenen eher Kopfschmerzen aus.» Warum junge Menschen häufiger akute Kopfschmerzen nach einem Trauma bekommen, ist in Studien nicht belegt. Eine Erklärungsmöglichkeit könne sein, so Prof. Sandor, dass das Schmerzsystem mit dem Älterwerden nachlasse und weniger sensitiv auf Reize wie ein Trauma reagiere. In der niederländischen Studie berichteten Patienten mit akuten und chronischen posttraumatischen Kopfschmerzen zudem häufiger über Ängstlichkeit oder Depressionen nach dem Trauma. Verschiedene Mechanismen im Hirn lösen diese Symptome aus, erklärt Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Chefarzt an den Universitären Psychiatrischen Diensten in Bern. «Zum einen kann eine Hirnverletzung zu einem akuten Psychotrauma führen, was sich mit Depressionen und Ängsten äussert.» Zum anderen betreffen vor allem leichte Hirnverletzungen oft den Frontallappen. «Der enthält wichtige Nervenzentren, die Emotionen regulieren und hemmen. Sind die neuronalen Netzwerke durch den Unfall gestört, kann das direkt Angst oder Depressionen auslösen.»<br /> In einer aktuellen Studie mit 33 Traumapatienten und 33 Kontrollpatienten zeigte sich bei denjenigen mit Trauma in der Magnetresonanztomografie (MRI) eine dünnere Hirnrinde in den bilateralen frontalen Regionen und in den rechtsparietalen Hirnregionen.<sup>8</sup> Je häufiger jemand Kopfschmerzen hatte, desto dünner war die Hirnrinde in den linken und rechten oberen frontalen Regionen, was darauf hinweist, dass häufigere posttraumatische Kopfschmerzattacken die Hirnmorphologie in diesen Gebieten verändern. «Schon aus früheren Studien wussten wir, dass nach leichtem Schädel- Hirn-Trauma die Hirnsubstanz abnimmt», erzählt Prof. Sandor. «Neu an der Studie ist, dass das Ausmass der Ausdünnungen offenbar vom Ausmass der Kopfschmerzen abhängt. » Das könne als Zeichen einer Gegenregulation interpretiert werden. «Vereinfacht gesagt: Die Hirnrinde nimmt ab, damit die bestehenden Schmerzreize nicht so stark wahrgenommen werden.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1801_Weblinks_s8_tab2.jpg" alt="" width="1417" height="1047" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1801_Weblinks_s8_tab3.jpg" alt="" width="1417" height="981" /></p> <h2>Therapie: empirisch</h2> <p>In Studien wird immer wieder über Therapien posttraumatischer Kopfschmerzen berichtet, es gibt aber bislang keine standardisierte Behandlung. «Man muss mehr oder weniger empirisch therapieren und richtet sich nach dem vorherrschenden Beschwerdebild», sagte Dr. Braschinsky. Migräne- ähnliche posttraumatische Kopfschmerzen behandelt man also zum Beispiel mit Triptanen, Cluster-ähnliche Schmerzen mit Sumatriptan, Inhalationen mit 100 % igem Sauerstoff oder nasaler Instillation von Lidocain und Spannungstypähnliche Schmerzen mit Analgetika. Unterstützend können nicht pharmakologische Massnahmen helfen, etwa Entspannungsübungen, Physiotherapie, körperliche Bewegung oder Akupunktur. Die Therapie sei jedoch oft komplizierter, als sich das anhöre, sagt Prof. Sandor, denn die Patienten lassen sich mitunter nicht klar einem primären Kopfschmerztyp zuordnen. Neben der neurologischen Abklärung rät Psychiater Prof. Hasler zu einer psychiatrischen Abklärung, falls die Patienten neben den Kopfschmerzen unter anhaltenden Ängsten oder Depressionen leiden. Gehen Angst und Depressionen auf eine Schädigung des Frontallappens oder auf eine allgemeine Verunsicherung durch den Unfall zurück, rät er zu Psychoedukation, Stressmanagement, Verhaltensaktivierung und Achtsamkeitsübungen und, falls nötig, Medikamenten. So gebe es zum Beispiel Antidepressiva, die sowohl Ängste und Depression lindern als auch Schmerzen.<br /> «Patienten mit Hirntrauma, die über Kopfschmerzen berichten, sollte man ernst nehmen und lieber früher als zu spät zu Spezialisten schicken», resümiert Prof. Sandor. «Behandelt man zu spät oder nicht richtig, ist das Risiko hoch, dass die Schmerzen chronifizieren und die Lebensqualität enorm leidet.»</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 11<sup>th</sup> European Headache Federation Congress, 1. bis 3.
Dezember 2017, Rom
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Uomoto JM, Esselman PC: Arch Phys Med Rehabil 1993; 74: 61-4 <strong>2</strong> Beetar JT et al.: Arch Phys Med Rehabil 1996; 77: 1298-302 <strong>3</strong> Lahz S, Bryant RA: Arch Phys Med Rehabil 1996; 77: 889-91 <strong>4</strong> Cooper PR: Head injury. 3rd Edn. Baltimore, MD, USA: Williams & Wilkins, 1993. 1-27 <strong>5</strong> Ivanhoe CB, Hartman ET: J Head Trauma Rehabil 2004; 19: 29- 39 <strong>6</strong> International Classification of Headache Disorders. 3rd edition (Beta version); https://www.ichd-3.org <strong>7</strong> Yilmaz T et al.: Emerg Med J 2017; 34: 800-5 <strong>8</strong> Chong CD et al.: Headache 2017; online 15.11.2017</p>
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