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Panik am Berg
Leading Opinions
30
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13.10.2016
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<p class="article-intro">Vielen bricht der Schweiss aus, wenn sie in die Tiefe schauen, und manchen wird deshalb sogar der Job gekündigt. Doch Höhenangst verlieren viele Patienten, wenn sie sich der Angst aussetzen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Höhenangst ist weit verbreitet und kann die Betroffenen im Alltag erheblich einschränken.</li> <li>Die Veranlagung, an Höhenangst zu leiden, scheint angeboren zu sein.</li> <li>Beängstigende Erlebnisse oder Ereignisse sowie starke psychische Belastungen können die Höhenangst verstärken.</li> <li>Die kognitive Verhaltenstherapie (Konfrontationstherapie – wenn möglich in Anwesenheit des Therapeuten) zur Bewältigung der Höhenangst hat hohe Erfolgschancen.</li> </ul> </div> <p>Die Hände sind schweissnass, die Füsse zittern, mir wird übel und mein Herz schlägt rasend. Ich werde sterben, gleich werde ich in die Tiefe stürzen. Die Diagnose habe ich mir als Ärztin schnell gestellt: Höhenangst, Akrophobie, vom griechischen ákron für Gipfel und phobos für Angst. Das hilft mir aber gar nichts. Ich will nur raus aus dem Gurt, runter vom Berg, auf den sicheren Boden. Doch ich hänge an der Wand des Arzalpenkopfes in den Dolomiten, 400 Meter über dem Abgrund. «Du guckst wie ein Kaninchen», sagt Bergführer Kurt Stauder. «Du fällst nicht, entspann dich.» Ich hole tief Luft und versuche, meine ohne Ende zitternden Füsse zum Stillstand zu bringen. <br />Höhenangst gehört zu den spezifischen Ängsten wie die vor Spinnen, Spritzen oder Hunden. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung haben schätzungsweise während ihres Lebens einmal eine Art von spezifischer Phobie.<sup>1</sup> Wie viele davon unter Höhenangst leiden, ist nicht systematisch untersucht. «So eine Angst kann das Leben extrem einschränken», sagt Borwin Bandelow, Professor für Psychiatrie an der Uni Göttingen und Präsident der deutschen Gesellschaft für Angstforschung. Er erinnert sich an einen Patienten, der wegen seiner Höhenangst nicht mehr mit seinem Fahrrad zur Arbeit über eine Flussbrücke fahren konnte. «Der Mann bekam kurz vor Mitte der Brücke immer solch ein Herzrasen und panische Angst, dass er schliesslich nur noch mit dem Auto fuhr.» <br />Die Neigung zur Höhenangst scheint bei einem Teil der Betroffenen angeboren zu sein. «Hinzu kommen bei manchen ein oder mehrere stark Angst machende Erlebnisse als Kind», erklärt Professor Michael Rufer, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am UniSpital Zürich. Bei anderen tritt die Höhenangst während Lebensphasen auf, in denen der Betroffene aus anderen Gründen psychisch stark belastet ist. Dass einem in der Höhe schwindelig wird, ist eigentlich normal. «In der Höhe sind keine Objekte in der Nähe, die wir mit den Augen gut fixieren können – dann fühlt sich jeder etwas instabil», sagt Rufer. Löst dieser Schwindel jedoch intensive Angst aus und denkt der Betroffene: «Ich könnte die Kontrolle verlieren und fallen», kann ein Teufelskreis entstehen: Man beobachtet sich überbesorgt selbst, spürt Herzklopfen und Schwindel, was die Angst verstärkt. <br />Wie sich das anfühlt, können Leute ohne Höhenangst nicht verstehen. Man weiss, die Angst ist unbegründet, denn man stürzt nicht vom Hochhaus, nicht aus der Seilbahn, nicht von der Bergwand. Doch das Gefühl der Panik lässt sich mit solchen logischen Gedanken nicht unterdrücken. Entscheidend für das Erleben von Furcht im Gehirn ist die Amygdala. «Wenn wir eine Situation als gefährlich bewerten, gelangt diese Information blitzschnell an die Amygdala», erklärt Rufer. Daraufhin werden Stresshormone ausgeschüttet und das vegetative Nervensystem wird aktiviert, was die typischen Angstsymptome auslöst. Im Gehirn werden solche Erfahrungen gespeichert. Diese Erinnerungen können wieder wach werden und ähnliche emotionale und körperliche Reaktionen auslösen, etwa wenn wir einen schweren Unfall erleben und später an den Ort des Unfalls zurückkehren. So ist es auch mit der Angst. Irgendwann hat das Hirn «gelernt», überempfindlich auf Situationen in der Höhe zu reagieren. <br />Höhenangst per se müsse nicht schlimm sein, man könne ja oft die Angst auslösenden Situationen meiden, sagt Rufer. «Bei manchen Menschen geht das aber nicht, und sie kommen im Alltag nicht mehr klar.» So musste einer seiner Patienten jedes Geschäftsessen in Dachrestaurants absagen, er konnte sogar die Treppen zu seinem Büro nicht mehr hochgehen, aus Angst, in das offene Treppenhaus zu fallen. Manchmal kann das so weit gehen, dass die Betroffenen ihren Arbeitsplatz verlieren – wie neulich eine Patientin von Rufer. Die Eventmanagerin bekam vor Anlässen in oberen Stockwerken immer Schweissausbrüche und Herzrasen, sie konnte die Nacht davor nicht schlafen, es wurde immer schlimmer, und sie musste solche Veranstaltungen letztendlich absagen. «Erst nachdem sie ihren Job verloren hatte und depressiv wurde, kam sie auf die Idee, sich professionelle Hilfe zu suchen», erzählt Rufer. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1605_Weblinks_seite23.jpg" alt="" width="" height="" /> <br />Ich hätte die Berge meiden können, aber meine Freunde schwärmten ständig vom Klettern und Bergsteigen, wie anders das sei als «normales» Wandern. Weil ich mir das auch selbst immer erträumt hatte, hing ich nun hier an der Wand des Arzalpenkopfes. Ich frage mich, wie ich auf die Schnapsidee kommen konnte, meine Höhenangst überwinden zu wollen. Denn die Angst kann man loswerden – mit der richtigen Therapie. «Die Betroffenen brauchen das natürlich nur zu machen, wenn sie es wollen oder einen hohen Leidensdruck spüren», sagt Peter Zwanzger, Professor für Psychiatrie an der Ludwig-Maximi­lians-Universität in München. Am besten hilft kognitive Ver­haltenstherapie mit Schwerpunkt auf Konfrontation. «Dem Patienten muss man vorher erklären, dass er die Angst so lange aushalten sollte, bis sie nachlässt.» Nur so «lernt» das Gehirn, nicht mehr mit überschiessendem Stress zu reagieren. Was das bedeutet? Man hängt zitternd und schweissgebadet an der Felswand, das Herz schlägt bis zum Hals, man will einfach nur auf den festen Boden. <br />Doch dann passiert das Erstaunliche: Die Angst verschwindet. Steht man auf dem Gipfel, durchströmt einen ein Gefühl grossen Glücks und man ist sehr stolz, es geschafft zu haben. «Ich versuche, viel Vertrauen zu geben, bis der Betroffene das selbst lernt», sagt Bergführer Kurt Stauder. «Ich versichere immer wieder, er sei ganz fest gesichert und werde nicht fallen. Und ich rate, tief ein- und auszuatmen – da lässt der Stress nach.» Viele hätten verständlicherweise Angst, sich der Angst auszusetzen, erzählt Psychiater Bandelow. «Sie fürchten, einen Herzinfarkt zu bekommen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber praktisch gleich null.» Nur wenn man Herzprobleme hat, rät er seinen Patienten, das vorher mit seinem Kardiologen zu besprechen. «Natürlich braucht es für die Konfrontationstherapie Mut», sagt Bandelow. «Aber später erleben die Betroffenen, wie toll es ist, die Angst überwunden zu haben. Das versuche ich den Patienten zu erklären.» Wenn man anfange, den Ängsten aus dem Weg zu gehen, würden andere Ängste auftreten und man komme aus dem Teufelskreis nicht mehr heraus. <br />Immer wieder würden ihn Patienten fragen, ob sich die Angst nicht «weghypnotisieren» lasse. «Das kann man als wirksames Verfahren aber nicht empfehlen, denn eine Wirkung wurde noch nicht in Studien belegt», sagt Bandelow. Wenn es jemandem helfe, liege das wahrscheinlich am Placeboeffekt. «Für Hypnose und andere nicht nachgewiesene Methoden wird viel Geld verplempert und das, was wirklich hilft, nämlich die Konfrontationstherapie, wird den Leuten nicht angeboten.» In rund einem Dutzend «Bergsitzungen» kann man langsam die Angst verlieren – sowohl vor dem Klettern als auch vor Hochhäusern. Die Panik kommt zunächst immer wieder, aber Stauder lenkt geschickt mit Gesprächen über das Wetter ab oder vergleicht die schreckerfüllten Augen mit denen eines Kaninchens, wodurch man so lachen muss, dass die Angst verschwindet. <br />Dem Gehirn könne man auf zweierlei Weise helfen, erklärt Psychiater Zwanzger seinen Patienten. «Zum einen kann man die Kognition stärken und sich immer wieder sagen: Ich falle nicht, ich brauche keine Angst zu haben.» Zum anderen lerne das Gehirn nur durch Erfahrung: Spürt man immer wieder, dass einem in der Höhe nichts passiert, verliert das Hirn das falsch eingelernte Verhalten. Die Therapie hilft: Mehr als 80 Prozent der Betroffenen verlieren ihre Angst.<sup>1</sup> «Am grössten sind die Erfolgschancen, wenn man bei der Konfrontation vom Therapeuten begleitet wird», sagt Zwanzger. Um den Berg oder hohe Gebäude näher zum Therapeuten zu bringen, hat er einen Therapieraum eingerichtet, wo Betroffene eine «virtuelle Konfrontationstherapie» machen können. Der Patient sieht dabei im Computer Situationen, die ihm Angst machen, etwa von einem Hochhaus hinunter. In kleineren Studien funktionierte das.<sup>2</sup> «Ich halte es für eine gute Alternative, wenn einem die Therapie in der Realität zu aufwendig ist», sagt Zwanzger. Apps für das Mobiltelefon funktionieren ähnlich: Mit einer «Virtual Reality»-Brille blickt man von Wolkenkratzern oder schaut in Abgründe, bei anderen Apps wird man per Hypnose unterstützt. «Im Einzelfall kann eine App helfen», sagt Michael Rufer, «ich rate den Patienten, sich solche zu suchen, die auf einer kognitiven Verhaltenstherapie beruhen und von einer Uni hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft wurden.» <br />Die Eventmanagerin ist erst zusammen mit ihm, dann alleine auf Hochhäuser, Kirchtürme, Dachterrassen und auf hohe Brücken gegangen. «Nach zwölf Expositionen hatte sie keine Angst mehr bei Events in oberen Stockwerken», erzählt Rufer. «Sie hatte gelernt, mit solchen Situationen klarzukommen, und fand schnell einen neuen Job.» Auch ich kann inzwischen problemlos auf Berge klettern, in Gondeln steigen und auf Aussichtsplattformen Hunderte Meter in die Tiefe schauen. Nur neulich, da kam die Angst am Berg wieder. Wie ein blaugrauer Kobold lugte sie listig unter meiner rechten Achsel hervor und wollte mir Stress machen. «Hau ab, du nervst», sagte ich zu ihr. «Lass mich in Ruhe klettern.»</p></p>
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<p><strong>1</strong> Öst L-G: Spezifische Phobien. In: Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 2: Störungen im Erwachsenenalter. Hg.: Margraf J, Schneider S. Springer 2009 <strong>2</strong> Bandelow B et al: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen. <a href="http://www.awmf.org" target="_blank">www.awmf.org</a></p>
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