
Optische Kohärenztomographie bei MS – das Fenster zum Gehirn!?
Autor:
Ap. Prof. PD Dr. Gabriel Bsteh, PhD, MSc
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: gabriel.bsteh@meduniwien.ac.at
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Die optische Kohärenztomographie (OCT) ist eine vielversprechende Option für das Monitoring des Krankheitsverlaufs bei Multipler Sklerose. Die Messung von retinaler Atrophie mit OCT könnte erstmals eine zuverlässige Bestimmung neuroaxonaler Schädigung unterhalb der klinischen Wahrnehmungsschwelle ermöglichen, quasi als „Fenster zum Gehirn“. Eine neue Studie gibt Einblicke in das Timing der OCT, eine „Rebaseline“ als neue „Stunde null“ nach Beginn einer Therapie verbessert die Genauigkeit wesentlich.
Keypoints
-
Die optische Kohärenztomographie (OCT) ermöglicht eine hochauflösende Darstellung der einzelnen Netzhautschichten mit ausgezeichneter Reproduzierbarkeit.
-
Die OCT kann bei MS-Patient:innen die Atrophie retinaler Schichten als Surrogatmarker neuroaxonaler Degeneration darstellen.
-
Das Ausmaß der Atrophie hängt mit klinischen Korrelaten neuroaxonaler Schädigung (Behinderungszunahme und schubunabhängige Progression [PIRA]) zusammen und kann durch hochwirksame Therapien reduziert werden.
-
Ein Rebaselining der OCT („Stunde null“) 6–12 Monate nach Beginn einer neuen DMT verbessert die Differenzierbarkeit der DMT-Effekte auf die retinale Atrophie erheblich, indem störende Einflüsse früherer Krankheitsaktivität eliminiert werden.
-
Die Atrophie von Netzhautschichten im OCT ist nicht spezifisch für MS und kann auch aufgrund anderer Erkrankungen auftreten. Die Anwendung von OCT bei MS erfordert daher den Ausschluss relevanter Komorbiditäten durch eine gründliche augenärztliche Untersuchung.
-
Voraussetzung für eine klinische Anwendung ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ophthalmolog:innen und Neurolog:innen mit standardisierten, qualitätsgesicherten Befunden.
Hintergrund
Multiple Sklerose (MS) ist durch ein sich weitgehend überschneidendes Kontinuum aus akuter autoimmunvermittelter fokaler Entzündung und fortschreitend akkumulierenden neuroaxonalen Schäden gekennzeichnet. Letztere bestimmen wesentlich die Langzeitprognose, bleiben dabei jedoch in den frühen Stadien typischerweise klinisch ineloquent und entziehen sich damit dem klinischen Monitoring des Krankheitsverlaufs. Die Erkennung dieser neuroaxonalen Schäden in der frühen Krankheitsphase und die Messung ihres Ausmaßes im Laufe der Zeit sind nach wie vor eine der größten Herausforderungen bei der Überwachung des Krankheitsverlaufs von Patient:innen mit MS.
Die optische Kohärenztomographie (OCT) ermöglicht eine hochauflösende In-vivo-Darstellung der einzelnen Netzhautschichten mit ausgezeichneter Reproduzierbarkeit. Die peripapilläre retinale Nervenfaserschicht (pRNFL) und die kombinierte makuläre Ganglienzell- und innere plexiforme Schicht (GCIPL) sind bei schubförmiger MS (RMS) als Marker der neuroaxonalen Degeneration von besonderem Interesse. Das Ausmaß der Atrophie von pRNFL und GCIPL steht in Zusammenhang mit klinischen und paraklinischen Korrelaten der neuroaxonalen Schädigung wie Verschlechterung der Behinderung, schubunabhängiger Progression (PIRA) und Hirnatrophie. Es hat sich auch gezeigt, dass die Rate der Netzhautatrophie je nach krankheitsmodifizierender Behandlung (DMT) variiert, wobei hochwirksame DMT (HET) die Netzhautatrophie reduzieren können. Diese Erkenntnisse haben die OCT zu einer attraktiven Option für das Monitoring MS-assoziierter neuroaxonaler Schädigung gemacht, doch das Feststellen des Ausmaßes der Schwankungen in Bezug auf nachweisbare Effektgrößen stellt bisher ein Problem dar. Ein beträchtlicher Teil der Schwankungen in den retinalen Atrophieraten unter DMT könnte auf Störfaktoren wie Übertragungseffekte durch die Krankheitsaktivität vor Beginn/Änderung der Behandlung sowie auf die unterschiedliche Zeit bis zum Einsetzen der biologischen Wirkung in Abhängigkeit von der Wirkungsweise der jeweiligen DMT zurückzuführen sein. Abhilfe könnte dabei die Anwendung eines sogennannten „Rebaselining“-Konzepts schaffen: Dabei wird der Beginn des Monitoring (die Baseline) erst mit einer gewissen Verzögerung nach Beginn der Therapie gesetzt (die Rebaseline), um das Einsetzen der biologischen Wirksamkeit der DMT abzuwarten und Übertragungseffekte zu minimieren.
Der Wert der Rebaseline
Eine zuletzt am weltweit größten MS-Kongress (ECTRIMS) präsentierte Studie der Medizinischen Universitäten Wien und Innsbruck untersuchte, ob die Verwendung einer Rebaseline anstelle einer herkömmlichen Baseline tatsächlich die Differenzierung der DMT-Effekte auf retinale Atrophie verbessert. In einem prospektiven Observationsdesign wurden Patient:innen eingeschlossen, bei denen eine RMS diagnostiziert wurde, die neu mit einer DMT begonnen hatten und bei denen vor Beginn der DMT ein dokumentierter klinischer Verlauf von zumindest 6 Monaten vorlag. Weitere Einschlusskriterien waren die Verfügbarkeit von OCT-Scans 1) zu Beginn der DMT (Baseline), 2) innerhalb von 6 bis 12 Monaten nach Beginn der DMT (Rebaseline) und 3) von mindestens einem Follow-up-OCT mit einem Mindestabstand von 12 Monaten zur Rebaseline. Die Patient:innen mussten die DMT mindestens bis zum Follow-up-OCT kontinuierlich anwenden. Statistisch wurden sogenannte lineare Regressionsmodelle mit „mixed effects“ angewendet, um sowohl pRNFL- als auch GCIPL-Atrophieraten ausgehend von der Baseline bzw. der Rebaseline bis zum letzten verfügbaren Follow-up-Scan zu berechnen. Dabei wurde einerseits der Einfluss von vor Beginn der neuen DMT aufgetretenen Schüben und Behinderungsprogression auf die von Baseline bzw. Rebaseline ausgehenden Atrophieraten untersucht, andererseits auch der unabhängige Einfluss der Art der neuen DMT (HET vs. moderat effektive DMT). Diese Modelle wurden für andere Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht, Krankheitsdauer, Art der DMT vor der Baseline und Krankheitsverlauf nach der Rebaseline (Schübe und Behinderungsprogression) adjustiert. Um die Interpretierbarkeit zu erleichtern und die bei MS-assoziierter retinaler Atrophie bekannterweise auftretenden Boden-/Deckeneffekte zu berücksichtigen, wurden die Veränderungen der Netzhautschichtdicken in Prozent/Jahr berechnet.
Es wurden 173 RMS-Patient:innen eingeschlossen (Durchschnittsalter 31,7 Jahre, 72,8% weiblich, mediane Krankheitsdauer 15 Monate [Range: 12–94], medianes Intervall Baseline-Follow-up 37 Monate [Bereich: 13–71]). Davon erhielten 56,6% eine moderat effektive DMT und 43,4% eine HET. Die vom Ausgangswert der traditionellen Baseline berechneten mittleren Atrophieraten in pRNFL und GCIPL waren signifikant abhängig von Schüben (0,51% bzw. 0,26% pro Schub, p<0,001) und Behinderungsprogression (1,10% bzw. 0,48%, p<0,001), die bereits vor Beginn der neu begonnenen DMT aufgetreten waren. Die Art der neu begonnenen DMT hatte dagegen keinen signifikanten Einfluss auf die von der traditionellen Baseline ausgehenden Atrophieraten. Im Gegensatz dazu waren die vom Ausgangswert der Rebaseline berechneten mittleren Atrophieraten in pRNFL und GCIPL unabhängig von vor Beginn der neu begonnenen DMT aufgetretenen Schüben oder Behinderungsprogression. Dagegen konnte mit Verwendung der Rebaseline eine signifikante Reduktion der Atrophieraten bei mit HET behandelten Patient:innen gezeigt werden (um 0,31%/Jahr in der pRNFL und um 0,25%/Jahr in der GCIPL, p<0,001). Zusammenfassend zeigt diese Studie deutlich, dass ein Rebaselining der OCT 6–12 Monate nach Beginn der DMT – als neue „Stunde null“ – die Differenzierung der DMT-Effekte auf die Atrophie von Netzhautschichten erheblich verbessert, indem der Einfluss von Störfaktoren im Sinne früherer Krankheitsaktivität eliminiert wird.
Der Weg zur praktischen Anwendung
In Anbetracht der nun vorliegenden Evidenz für den Wert des OCT-basierten Monitorings von retinaler Atrophie in Verbindung mit den methodischen Vorteilen der OCT, die standardisierte, nichtinvasive, verlässliche, quantitative Messungen ermöglicht, die leicht zugänglich, schnell und kostengünstig sind, könnte die Netzhautatrophie den dringenden Bedarf für einen robusten Biomarker für den Grad und das Fortschreiten der subklinischen neuroaxonalen Schädigung bei MS decken. Es muss jedoch unbedingt darauf hingewiesen werden, dass die retinale Atrophie der Netzhautschichten im OCT, ähnlich wie die Atrophie des Gehirns im MRT, nicht spezifisch für MS ist, sondern auch aufgrund anderer Erkrankungen wie diabetischer Makulopathie oder kompressiver Optikusneuropathie (Glaukom) auftreten kann. Die Anwendung von OCT zum Krankheits- bzw. Therapiemonitoring bei MS erfordert daher den Ausschluss relevanter Komorbiditäten durch eine gründliche augenärztliche Untersuchung.
Voraussetzung für eine breite klinische Anwendung sind einerseits Validierungsstudien, die der Heterogenität von MS-Populationen Rechnung tragen und entsprechend auf die Entwicklung möglichst präziser Grenzwerte für detektierbare und relevante intraindividuelle Änderungen fokussieren. Andererseits ist die Schaffung einer Infrastruktur in interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Ophthalmolog:innen und Neurolog:innen mit standardisierten, qualitätsgesicherten Befunden notwendig, um die Vorteile der OCT den von MS betroffenen Patient:innen und deren Behandler:innen zugänglich zu machen. Erst unter diesen Voraussetzungen könnte die OCT tatsächlich unser „Fenster zum Gehirn“ sein.
Literatur:
beim Verfasser