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Neuropathischer Schmerz

<p class="article-intro">Als „nozizeptiver“ Schmerz werden jene Schmerzzustände bezeichnet, bei denen Nervenbahnen als Reizübermittler fungieren. Sind zentrale oder periphere nervale Strukturen von Schädigungen selbst betroffen, spricht man vom „neuropathischen Schmerz“. Dementsprechend muss die Therapie angepasst werden. Ein Update zu diesem Themenkreis vermittelte kürzlich Ass.-Prof. PD Dr. Stefan Seidel, Wien, anlässlich einer Fortbildungsveranstaltung des „Vereins für Psychiatrie und Neurologie“ am AKH Wien.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Der neuropathische Schmerz wird durch die L&auml;sion neuraler Strukturen hervorgerufen. Obwohl keine epidemiologischen Zahlen f&uuml;r &Ouml;sterreich vorliegen, geht man von einer Pr&auml;valenz von 7&ndash;8 % f&uuml;r die europ&auml;ische Allgemeinbev&ouml;lkerung aus, so Seidel, wobei Frauen h&auml;ufiger betroffen sind als M&auml;nner.<br /> Verminderte Wahrnehmung von einfacher Ber&uuml;hrung (Hyp&auml;sthesie), Temperatur (Thermhyp&auml;sthesie) oder Schmerz (Hypalgesie) werden als &bdquo;Minus-Symp&shy;tome&ldquo; bezeichnet. Als &bdquo;Plus-Symptome&ldquo; gelten dagegen die gesteigerte Wahrnehmung von Schmerz (Hyper&shy;algesie), nicht schmerzhafte Missempfindungen (Dys&auml;sthesien), Kribbeln bzw. Ameisenlaufen (Par&auml;sthesien) oder die Wahrnehmung von nicht schmerzhaften Reizen als Schmerz (Allodynie) (Tab. 1).<sup>1</sup> Neuropathische Schmerzen werden von Patienten typischerweise als brennend, stechend, blitzartig oder einschie&szlig;end beschrieben.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2015_Jatros_Neuro_1503_Weblinks_Seite34.jpg" alt="" width="303" height="201" /></p> <h2>Therapieoptionen</h2> <p>Das Geschehen ist dabei enorm komplex &ndash; Myriaden von Neurotransmittern und anderen Substanzen sind in die Entstehung und Erhaltung des neuropathischen Schmerzes involviert.<sup>2</sup> Ein wichtiges Detail hierbei ist, dass dieselben Neurotransmitter auch bei anderen neuropsychiatrischen Erkrankungen eine wesentliche Rolle spielen. Dies k&ouml;nnte eine Erkl&auml;rung f&uuml;r die hohe Komorbidit&auml;t chronischer Schmerzen mit Schlafst&ouml;rungen oder Depres&shy;sion und die Tatsache, dass Antidepressiva und andere psychopharmakologische Agenzien in der Schmerz&shy;therapie eine nutzbringende Rolle spie&shy;- len k&ouml;nnen. Wirksam in Bezug auf die aufsteigende synaptische Transmission und eine erh&ouml;hte zentrale Reaktionsbereitschaft sind: Antikonvulsiva, adrenerge Agonisten, Opioide, NMDA-Blocker, epidurale und intrathekale Analgesie, NGF(&bdquo;nerval growth factor&ldquo;)-Hemmer, Zytokinhemmer, Muskelrelaxanzien und Cannabinoide.<sup>2</sup><br /> Der kortikale Bereich l&auml;sst sich durch Placebo, kognitive Verhaltenstherapie und kortikale Stimulation beeinflussen. Auf die absteigende Modulation wirken: Antidepressiva, Opioide, Muskelrelaxanzien, Akupunktur, Cannabinoide, Stimulation des motorischen Kortex sowie tiefe Hirnstimulation.<br /> Moore RA et al zeigten 2014 in einer &Uuml;berarbeitung ihrer eigenen aus dem Jahr 2011 stammenden Cochrane-Analyse, dass das Antikonvulsivum Gabapentin in einer Dosierung von 1.200mg bei 35 % der Patienten mit neuropa&shy;thischen Schmerzen wirksam war. Unter Placebo wurde derselbe Effekt bei 21 % der Betroffenen beobachtet.<sup>3</sup> Dieselbe Forschungsgruppe untersuchte auch die Wirksamkeit von Amitriptylin,<sup>4</sup> das viele Jahre als First-Line-Therapie bei Fibromyalgie und neuropathischen Schmerzen galt. Die mangelnde Evidenz &ndash; so das Fazit der Studie &ndash; sollte allerdings von den guten Erfahrungen aufgewogen werden. Sie empfiehlt damit, klinisches Wissen h&ouml;her zu bewerten als statis&shy;tische Evidenz.<br /> <br /> Als Entscheidungsgrundlage haben sich die Guidelines der European Federation of Neurological Societies (EFNS) in ihrer &uuml;berarbeiteten Version aus dem Jahr 2010 bew&auml;hrt.<sup>5</sup> Mittlerweile ha&shy;- ben sich die beiden Gesellschaften EFNS und European Neurological Society (ENS) zur European Association of Neurology (EAN) zusammengeschlossen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2015_Jatros_Neuro_1503_Weblinks_Seite35_1.jpg" alt="" width="404" height="401" /></p> <h2>Empfehlungen der EFNS-Guidelines</h2> <p>F&uuml;r ausgew&auml;hlte Krankheitsbilder ergeben sich daraus nachfolgende Empfehlungen:<br /> <br /> <strong>Polyneuropathie (Tab. 2)</strong><br /> Eine Sonderstellung nimmt Tapentadol ein. Es bindet wie die Opioide an zen&shy;- trale &mu;-Opioid-Rezeptoren und hemmt zus&auml;tzlich die Wiederaufnahme von Nor&shy;adrenalin aus dem synaptischen Spalt. Tapentadol hat eine &auml;hnliche Struktur und ein &auml;hnliches pharmako&shy;logisches Profil wie Tramadol, aber ein geringeres Interaktionspotenzial. Dadurch sind die Nebenwirkungen wie Obstipation reduziert und das Abh&auml;ngigkeitspotenzial ist verringert. Die maxi&shy;&shy;male Tagesdosis von Tapentadol ER (&bdquo;extended release&ldquo;) betr&auml;gt 500mg.<sup>6</sup><br /> Nur sp&auml;rliche Evidenz gibt es f&uuml;r die HIV-Polyneuropathie. Moderate Effekte werden laut Seidel f&uuml;r Lamotrigin (Level B), inhaliertes 1&ndash;8 % iges Tetrahydrocannabinol &uuml;ber 5 Tage (Level A) sowie 8 % -Capsaicin-Pflaster (Level A) beschrieben.<br /> <br /><strong> Postherpetische Neuralgie (Tab. 3)</strong><br /> Vor allem &auml;ltere Menschen k&ouml;nnen im Rahmen einer herpetischen Infektion von der Post-Zoster-Neuralgie betroffen sein. Keine Evidenz gibt es hier zur Prophylaxe mit Steroiden und Virustatika.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2015_Jatros_Neuro_1503_Weblinks_Seite35_2.jpg" alt="" width="613" height="276" /></p> <p><strong>Trigeminusneuralgie (TN)</strong><br /> Die ICHD 3 (International Classification of Headache Disorders)<sup>8</sup> definiert f&uuml;r die Diagnose der TN folgendes Bild:</p> <ul> <li>Paroxysmale Schmerzattacken von Bruchteilen einer Sekunde bis zu 2 Minuten Dauer, die einen oder mehrere &Auml;ste des N. trigeminus betreffen und die Kriterien B und C erf&uuml;llen</li> <li>Der Schmerz weist wenigstens eines der folgenden Charakteristika auf: starke Intensit&auml;t, scharf, oberfl&auml;chlich, stechend, ausgel&ouml;st &uuml;ber eine Triggerzone oder durch Triggerfaktoren.</li> <li>Die Attacken folgen beim einzelnen Patienten einem stereotypen Muster.</li> <li>Klinisch ist kein neurologisches De&shy;fizit nachweisbar.</li> <li>Nicht auf eine andere Erkrankung zur&uuml;ckzuf&uuml;hren</li> </ul> <p>Therapeutisch gibt es keine ausreichende Evidenz f&uuml;r die Behandlung der symptomatischen TN etwa bei MS (Multipler Sklerose), Tumor oder anderen Prim&auml;rursachen. Bei idiopathischer TN werden nach wie vor Car&shy;bamazepin (Level A) und Oxcarbazepin (Level B) empfohlen.<sup>5</sup> <br /> Zentraler neuropathischer Schmerz (Tab. 4)<br /> Der zentrale neuropathische Schmerz hat seine Ursachen in einem Schlag&shy;anfallgeschehen bzw. einer spinalen L&auml;sion etwa durch MS oder Trauma.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2015_Jatros_Neuro_1503_Weblinks_Seite36.jpg" alt="" width="607" height="1054" /></p> <p><strong>Phantomschmerz</strong><br /> Geringer als sp&auml;rlich zu bewerten ist abschlie&szlig;end die Evidenz bei Phantomschmerz nach einer Cochrane-Analyse von 2011.<sup>9</sup> Demnach zeigen lediglich Morphin, Gabapentin und Ketamin Trends einer kurzzeitigen analgetischen Wirkung. Der Phantomschmerz stellt die Behandler vor ein therapeutisches Dilemma. Handelt es sich um junge Patienten, schr&auml;nken stark wirksame Analgetika deren Tauglichkeit am Arbeitsplatz stark ein und limitieren unter Umst&auml;nden damit die soziale Reintegration. Bei &auml;lteren Patienten sind die limitierenden Faktoren reduzierte Organfunktion (Leber, Niere), zerebrale Vorsch&auml;digung oder Wechselwirkung mit anderen Medikamenten, die im Rahmen von Komorbidit&auml;ten zum Einsatz kommen.<br /> Eine besondere Bedeutung hat hier die Spiegeltherapie, mit der sich Seidel im Besonderen besch&auml;ftigt hat<sup>10</sup> &ndash; etwa nach Amputation der unteren Extremit&auml;t. Dabei konnte durch bildgebende Verfahren nachgewiesen werden, dass eine mentale Aktivierung der amputierten Extremit&auml;t zur kortikalen Aktivierung f&uuml;hrt. Sie betrifft nach 12 Therapiesitzungen folgende Bereiche: prim&auml;r motorischer sowie supplement&auml;r motorischer Kortex und temporale Kortexanteile. <br /> Besondere Erw&auml;hnung fand abschlie&szlig;end eine rezente Arbeit zum 8 % -Capsaicin-Pflaster. Hier kam es bei Patienten mit Phantomschmerz in 70 % zu einer bis zu 30 % igen und in 30 % zu einer bis zu 50 % igen Schmerzreduktion (Abb. 1).<sup>11</sup></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit f&uuml;r die Praxis</h2> <ul> <li>H&auml;ufig Diskrepanz zwischen Evidenz und klinischer Erfahrung</li> <li>Opiate und Antikonvulsiva als Eckpfeiler</li> <li>Topische Applikationen beim komorbiden Patienten</li> <li>Multimodalit&auml;t, um Patienten &bdquo;ins Boot zu holen&ldquo;</li> </ul> </div></p> <p class="article-quelle">Quelle:<br/> Fortbildungsveranstaltung „Chronischer Schmerz – aus neurologischer und psychiatrischer Sicht“, 16. März 2015, Wien </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Seidel S et al: J Neurol Neurochir und Psych 2011; 12(2): 136-140<br /><strong>2</strong> Cohen SP et al:&nbsp; BMJ 2014; Heft-Nummer? 348<br /><strong>3</strong> Moore RA et al: Cochrane Database Syst Rev 2011<br /><strong>4</strong> Moore et al: Cochrane Database Syst Rev 2012<br /><strong>5</strong> Attal N et al: Eur J Neurol 2010; 17(9): 1113-e88<br /><strong>6</strong> Vadivelu N et al: Ther Clin Risk Manag 2015; 11: 95-105<br /><strong>7</strong> van Wijck AJ: Pain Pract 2011; 11(1): 88-97<br /><strong>8</strong> Olesen J et al: Cephalalgia 2013; 33(9): 629-808<br /><strong>9</strong> Alviar MJM et al: Cochrane Database Syst Rev 2011<br /><strong>10</strong> Seidel S et al: Fortschr R&ouml;ntgenstr 2011; 183(11): 1051-1057<br /><strong>11</strong> Kern KU et al: Schmerz 2014; 28(4): 374-383</p> </div> </p>
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