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Neuromuskuläre Erkrankungen im Fokus
Jatros
30
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06.09.2018
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<p class="article-intro">Anfang Juli fand der International Congress on Neuromuscular Diseases in Wien statt. Internationale Fachleute präsentierten und diskutierten auf dem Kongress Fortschritte hinsichtlich Forschung, Diagnose und Therapie von neuromuskulären Erkrankungen.</p>
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<p class="article-content"><h2>Neuropathien: verbesserte Behandlungsmöglichkeiten</h2> <p>„Die Diagnose ‚Neuropathie‘ ist für die Betroffenen heute kein Grund mehr, in Panik zu verfallen und ein Leben im Rollstuhl befürchten zu müssen. Zwar lassen sich fortgeschrittene Neuropathien meistens nicht vollständig rückgängig machen, eine an den Symptomen orientierte Therapie gegen Schmerzen, Schwäche und Bewegungsstörung ist aber in jedem Fall möglich und verbessert die Lebensqualität“, so Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Grisold, Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie, Kongresspräsident des ICNMD 2018. Die Behandlung sei oft multidisziplinär und multiprofessionell. Große Fortschritte in der Entwicklung neuer Therapien wurden in den letzten Jahren nicht nur bei den immunvermittelten Neuropathien (z.B. GBS, CIDP) erzielt, sondern auch bei einigen genetischen, bisher unheilbaren Formen.</p> <h2>Gentherapien – die große Zukunftshoffnung</h2> <p>„Die seltenen neuromuskulären Erkrankungen mit erblichem Hintergrund waren bis vor Kurzem ein therapeutisch düsterer Bereich unseres Fachgebiets, denn es gab für betroffene Patienten so gut wie keine Hoffnung auf Besserung oder Heilung. Glücklicherweise ändert sich das jetzt, und die Betroffenen profitieren zunehmend von der Erforschung und Entwicklung neuer genetischer Therapien“, berichtete Grisold.<br /><br /> Enzymersatztherapien werden bereits erfolgreich bei den Stoffwechselerkrankungen Morbus Pompe und Morbus Fabry eingesetzt. Ein weiteres Beispiel für eine durch eine genetische Therapie behandelbare Erkrankung ist die Transthyretin( TTR)-Amyloidose, eine seltene vererbte, systemische, periphere Polyneuropathie, die am häufigsten in einigen Dörfern Nordportugals vorkommt. Die Behandlung der Krankheit bestand bisher darin, sie durch eine Lebertransplantation zum Stillstand zu bringen. Seit rund zehn Jahren kann man aber den Erkrankten diese Transplantation ersparen und sie stattdessen mit einer Enzymersatztherapie behandeln. Für die Behandlung der TTR-Amyloidose wird heuer voraussichtlich zusätzlich das Medikament Patisiran zugelassen. Der Wirkstoff beruht auf RNA-Interferenz beziehungsweise auf dem Prinzip der Gen-Stilllegung.<br /><br /> Die neueste vielversprechende Entwicklung der Gentherapie zur Behandlung neuromuskulärer Erkrankungen ist die CRISPR-CAS9-Methode. Mit dieser „Genschere“ lässt sich die DNA chemisch an genau der Stelle ausschneiden und korrigieren, an der die Mutation sitzt. Bei ersten Versuchen mit Mäusen konnte diese Behandlungsmethode den Erkrankungsbeginn von genetischer amyotropher Lateralsklerose (ALS) verzögern.<br /> Auch bei entzündlichen, nicht genetisch bedingten Krankheiten sind Fortschritte zu verzeichnen.</p> <h2>Neue Behandlungsmöglichkeiten bei der Nervenregeneration</h2> <p>„Das riesige Fachgebiet der Nervenregeneration wird derzeit intensiv beforscht. Österreichische Einrichtungen leisten hier vielfach Pionierarbeit. Wir erleben gerade etliche Durchbrüche, die in absehbarer Zeit für die klinische Praxis relevant sein werden oder teilweise bereits sind“, betonte Univ.-Prof. Dr. Heinz Redl, Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Experimentelle und Klinische Traumatologie. Als Beispiele brachte er unter anderem das Projekt „Wings for Life“, das den Einfluss der extrakorporalen Stoßwellentherapie in der subakuten und chronischen Phase von Rückenmarksverletzungen testet. Im präklinischen Modell konnten bereits vielversprechende Ergebnisse erzielt werden. Nun soll im Rahmen der ersten klinischen Studie die Behandlung von Patienten gestartet werden. Ein weiteres Projekt befasst sich mit einer künstlich hergestellten Nervenleitschiene, einem sogenannten Conduit, das als Alternative zu einem autologen Nerventransplantat nach einer schweren Nervenverletzung mit Gewebsverlust dienen kann. Das Seidenconduit wird im präklinischen Modell bereits erfolgreich eingesetzt und stetig weiterentwickelt. Schließlich berichtete Redl noch darüber wie am Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie neue Ansätze in der Rehabilitation erforscht werden. Ist der Nerv einige Monate nach der Verletzung eines Körperareals wieder in das Versorgungsgebiet eingewachsen, muss das Gehirn wieder lernen, die erneut ankommenden Signale zu verarbeiten. Dieser Prozess ist langwierig, mühsam und hat meist nur geringen Erfolg. Eine neue Methode versucht nun, das Gehirn bei diesem Prozess zu unterstützen. Dies geschieht über audiovisuelles Feedback: Berührung wird hör- und sichtbar gemacht. Das Wirken mehrerer Sinne veranlasst das Gehirn, das beschädigte Areal nicht zu vergessen. Mithilfe von speziell entwickelten Spielen werden die Compliance und Motivation der Patienten während der Therapie erhöht. Die Rehabilitation von Verletzungen der peripheren Nerven in den oberen Extremitäten wird dadurch beschleunigt und wesentlich vereinfacht.<br /><br /> Als großes Manko und Gefährdung für die Umsetzung von Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung sieht Redl die fehlende finanzielle Unterstützung für translationale Forschung in Österreich. Mit dem FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) und der FFG (Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH) verfügt Österreich über Einrichtungen zur Förderung von Grundlagenforschung einerseits und für Firmenbasierte Forschung andererseits. Translationale Forschung, die außerhalb von Firmen betrieben wird, kommt hierzulande nicht zum Zug. Redl befürchtet, dass Österreich dadurch im internationalen Vergleich bald ins Hintertreffen geraten könnte: „Wir müssen für diese Situation ein starkes Bewusstsein schaffen, denn hier ist wirklich Feuer am Dach!“</p> <h2>Rehabilitation: beständiges Muskeltraining im Alltag</h2> <p>„Patienten mit den verschiedensten neuromuskulären Erkrankungen profitieren von einem richtigen Trainingskonzept. Wichtig ist, jene Muskeln zu trainieren, die noch nicht zu geschwächt sind“, rät Prim. Univ.-Prof. Dr. Tatjana Paternostro- Sluga, Vorstand des Instituts für Physikalische Medizin und Rehabilitation, SMZ Ost Donauspital, Wien. Besonders hilfreich sei es für Patienten, das Muskeltraining in den Alltag einzubauen, etwa wiederholtes Aufstehen von einem Sessel.<br /><br /> Für eine optimale Versorgung sollten Patienten ihr Leben lang mit stationären und ambulanten Rehabilitationseinrichtungen in Kontakt bleiben können. Im Idealfall gibt es alle zwei Jahre einen Reha-Aufenthalt und dazwischen gibt es Rehabilitationsfachärzte und/oder ambulante Rehabilitationseinrichtungen als kompetente Ansprechpartner. Die Kostenübernahme kann jedoch ein schwieriges Thema sein. Patienten müssen oft um Reha-Aufenthalte oder die Bewilligung für Therapien kämpfen. Eine fundierte medizinische Begründung durch Rehabilitationsfachärzte für die Bewilligungsstellen ist hier immer sehr hilfreich.</p> <h2>Myasthenia gravis: selten und manchmal falsch interpretiert</h2> <p>Myasthenia gravis wird zwar zu den seltenen Erkrankungen gerechnet, tritt aber in den europäischen Ländern bei bis zu 18 pro 1 Million Einwohner auf. Gelegentlich wird Myasthenia gravis falsch eingeschätzt und lange nicht oder nur ungeeignet behandelt, vor allem auch dann, wenn noch andere Komorbiditäten im Spiel sind. „Es ist sehr wichtig, Allgemeinmediziner und Neurologen zu sensibilisieren und zu ermuntern, lieber einmal zu viel als zu wenig an die spezialisierten Muskelzentren zuzuweisen. Myasthenia gravis kommt gar nicht so selten vor, und je früher wir die Patienten erreichen, desto besser können wir ihnen helfen und ihre Lebensqualität verbessern und erhalten“, betonte Ass.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Julia Wanschitz, Universitätsklinik für Neurologie, Innsbruck.</p> <h2>Neue monoklonale Antikörpertherapien</h2> <p>Bei Myasthenie-Patienten entfaltet der Neurotransmitter Acetylcholin nicht die Wirkung, die er sonst bei gesunden Synapsen hat. Bei über 80 Prozent der Patienten sind Anti-Acetylcholinrezeptor-Antikörper im Blut nachweisbar. Eine etablierte Therapieform ist daher der Einsatz von Acetylcholinesterase-Inhibition. Bei einem Teil der Myasthenie-Patienten, die keine Anti-AChR-Antikörper aufweisen, beruht die Muskelschwäche auf einem Autoimmunprozess, der gegen andere postsynaptische Zielproteine gerichtet ist. Sie haben einen anderen, meist schwereren Krankheitsverlauf mit mehr Schluckstörungen oder Atemproblemen und sind in der Regel schlechter oder schwieriger zu behandeln. Bei diesen Patienten wirken monoklonale Antikörpertherapien besser. Der Anti-CD20-Antikörper Rituximab kann beispielsweise bei generalisierten, therapierefraktären Krankheitsverläufen erwogen werden.<br /><br /> Eine neue Therapieoption ist der monoklonale Antikörper Eculizumab. Dieser wurde kürzlich in Europa für die mittelschwere und schwere generalisierte Myasthenie mit AChR-Antikörpern zugelassen. Die Substanz hemmt speziell das Komplementsystem an einem späten Schenkel. 2013 galt Eculizumab als das teuerste Medikament der Welt, die Kosten für einen Jahresbedarf gehen in die Hunderttausende. „Es ist daher nicht zu erwarten, dass diese Therapie sehr häufig zum Einsatz kommt, sie könnte aber eine Option sein, wenn alle anderen Behandlungen fehlschlagen“, meinte Wanschitz. (red)</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Pressegespräch zum ICNMD 2018, 6. Juli 2018, Wien
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