
Neuigkeiten aus der Neurologie
Bericht:
Dr. med. Norbert Hasenöhrl
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Am 5. Kongress der Swiss Federation of Clinical Neuro-Societies (SFCNS) wurden wieder zukunftsweisende Daten präsentiert. Darunter der Einsatz künstlicher Intelligenz zur Anfallsvorhersage bei Epilepsie oder die Wirksamkeit monoklonaler Antikörper gegen Migräne. Auch zur Multiplen Sklerose gab es aktuellen Diskussionsanlass, etwa zum krankheitsfördernden Einfluss des Mikrobioms oder dem Verlauf als «schwelende» Erkrankung. Näheres zu den Highlights lesen Sie hier.
Anfallsvorhersage mit AI
«Ich möchte heute darüber sprechen, wie wir Hard- und Software verwenden könnten, um ein Kernproblem der Epileptologie zu lösen, nämlich die Vorhersage und Kontrolle von Anfällen», erklärte Prof. Dr. med. Dr. sc. nat. Maxime Olivier Baud, Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Zürich. Dabei wird künstliche Intelligenz («Artificial Intelligence», AI) eine wichtige Rolle spielen.
Es ist bekannt, dass Epilepsiepatienten in der Regel eine Art Rhythmus haben, in dem die Anfälle auftreten. Der Grund, warum diese Vorkommnisse in einem Routine-EEG nicht auffallen, liegt einfach in der Kürze der Untersuchung. Um die gesamte Dynamik zu erfassen, ist ein Langzeit-EEG erforderlich. Hier geht es allerdings nicht um 24 Stunden, sondern um wesentlich längere Zeiträume: Wochen, Monate oder sogar Jahre.
Ein möglicher technischer Ansatz ist ein Gerät, das nachts wie ein Stirnband getragen wird und mit mehreren Sensoren das EEG ableitet. Inzwischen gibt es aber auch intrakraniell implantierbare Systeme. Eines davon wurde bei 15 Patienten in Australien erprobt. Es funktionierte grundsätzlich, war aber mit einigen Nebenwirkungen (einmal Migration des Geräts, einmal Serom u.a.) behaftet.1 «Das System erlaubte es aber, AI-Algorithmen anzuwenden, um herauszufinden, wann ein Anfall beginnen würde», erläuterte Baud.
Ein weiteres implantierbares System aus den USA hat schon die kommerzielle Phase erreicht. Hier gibt es bereits Daten aus einer Langzeitstudie über neun Jahre. Das System nimmt iktale und interiktale Aktivität auf. Der Unterschied zum vorigen System ist, dass dieses auch neurostimulatorische Kapazitäten hat. Damit konnte über neun Jahre eine mediane Anfallsreduktion um 75% erreicht werden. Die durchschnittliche anfallsfreie Periode lag bei 3,2 Jahren.2 In diesem Zusammenhang konnte auch gezeigt werden, dass interiktale epileptiforme Aktivität (IEA) sowohl zirkadiane Rhythmen als auch solche über mehrere Tage (meist 20 bis 30) aufweist und dass diese Rhythmen über Jahre relativ stabil bleiben.3
In einer Kohorte von 222 Patienten (50% männlich, medianes Alter 35 Jahre) wurden Daten aus kontinuierlichen intrakraniellen EEGs und Anfallstagebüchern ausgewertet. Es zeigte sich, dass 12% jährliche, 60% mehrtägige (wöchentliche bis monatliche) und 89% zirkadiane Anfallszyklen hatten. Bei Letzteren fanden sich fünf Gipfel: am Morgen, in der Mitte des Nachmittags, am Abend, früh und spät in der Nacht. Mehrtägige Zyklen waren am häufigsten 7, 15, 20 oder 30 Tage lang.4
Im Gegensatz zu intrakranieller Implantation ist die subkutane Implantation von EEG-Elektroden deutlich weniger invasiv und verhindert intrakranielle Komplikationen; gleichzeitig können solche Devices ambulant über einen längeren Zeitraum getragen werden.
Ein individuelles Vorhersagesystem muss mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Langfristig könnte das bedeuten, dass Tage mit hoher bzw. niedriger Anfallswahrscheinlichkeit bestimmt werden können, was dem Patienten eine bessere Planung erlaubt. Zum Beispiel kann der Patient an einem Tag mit hohem Risiko zusätzlich ein Benzodiazepin nehmen.
Darm-Hirn-Achse bei Neuroinflammation
«Wir wissen, dass MS eine multifaktoriell ausgelöste Erkrankung ist», so Prof. Dr. med. Caroline Pot, Universitätsklinik Lausanne. Das Risiko, eine MS zu entwickeln, liegt bei etwa 1:800. Wenn ein eineiiger Zwilling MS hat, so hat der andere Zwilling ein um etwa 30% erhöhtes Risiko.
Einer der Gründe für die Entstehung der MS ist eine Dysregulation der regulatorischen T-Zellen (Treg), die normalerweise das Eindringen autoreaktiver T-Zellen ins ZNS steuern.5
Die Frage ist, welche Rolle der Darm als tertiäres lymphoides Organ bei der Generierung, Aktivierung und Expansion autoreaktiver T-Zellen spielt. «Schon aufgrund seiner Grösse – ein komplett aufgefalteter menschlicher Darm hätte die Fläche eines Fussballfeldes – ist anzunehmen, dass der Darm auch im immunologischen Geschehen eine Rolle spielt», so die Expertin.
Wir tragen etwa einen bis zwei Kilogramm Bakterien im Darm, und insgesamt übertrifft die Anzahl der Mikroorganismen im intestinalen Mikrobiom bei Weitem die Zahl unserer Körperzellen. Mehr als 1000 Bakterienspezies leben in diesem Mikrobiom, von denen viele noch nicht einmal kultivierbar sind. Und diese Zahl an Mikroorganismen trägt auch ca. drei Millionen Gene, 150-mal mehr als der Mensch.
In einer Studie wurden die Mikrobiome von 60 MS-Patienten und 43 gesunden Kontrollpersonen verglichen. Es zeigten sich klare Unterschiede. So waren etwa Methanobrevibacter und Akkermansia bei MS in grösserer Zahl vorhanden, Butyricimonas hingegen vermindert. Zudem zeigte sich eine Korrelation zwischen den Mikrobiomveränderungen und der Expression von Genen, die mit der Reifung dendritischer Zellen sowie den Interferon- und NF-κB-Signalwegen in zirkulierenden T-Zellen und Monozyten zu tun haben.6
Der Vergleich von eineiigen, MS-diskordanten Zwillingen zeigte bei den unbehandelten MS-Zwillingen einen signifikanten Anstieg bestimmter Spezies im Darm, z.B. Akkermansia. Wenn man das Mikrobiom dieser MS-Patienten in transgene Mäuse mit spontaner Hirn-Autoimmunität transplantierte, so zeigten diese Tiere signifikant mehr Autoimmunität als jene, die ein gesundes Mikrobiom erhalten hatten. Unter anderem produzierten die Immunzellen der MS-Tiere weniger IL-10. Dieses dürfte eine regulatorische Funktion auf die ZNS-Autoimmunität ausüben. Diese Daten deuten an, dass es Faktoren im intestinalen Mikrobiom gibt, die MS-auslösend wirken.7
Ein pathogener Mechanismus könnte darin bestehen, dass die Zahl der N-Butyrat-produzierenden Bakterien, wie Butyricimonas, im Mikrobiom reduziert wird. N-Butyrat, eine kurzkettige Fettsäure, führt dazu, dass durch Lipopolysaccharide induzierte proinflammatorische Mediatoren wie NO, IL-6 und IL-12 gehemmt werden. IL-6 wiederum kontrolliert Th17-Zellen.8 Wird es gehemmt, so steigt die Zahl dieser Zellen im Darm an. Th17-Zellen spielen aber auch eine wichtige Rolle bei der MS.9 «Derzeit läuft eine Studie zur Wirkung von Stuhltransplantationen bei relapsing-remitting MS», so Pot abschliessend.
MS als schwelende Erkrankung
«Es gibt Patienten mit relapsing-remitting MS, kurz RRMS, bei denen sich kein Schub und keine neuen Läsionen nachweisen lassen. Auch die neuropsychologische Evaluierung ist unauffällig. Dennoch kann eine solche Patientin sich schlechter fühlen. Dies kann durch einen sogenannten schwelenden Krankheitsverlauf verursacht werden», erklärte Dr. med. Claudio Gobbi, Ospedale Civico, Lugano. «Unter schwelender Erkrankung versteht man einen Zustand chronischer Neuroinflammation, assoziiert mit Neurodegeneration, der irgendwann sehr wohl zu einer Krankheitsprogression führt», fuhr Prof. Dr. med. Cristina Granziera, Universitätsspital Basel, fort.
Die schwelende Erkrankung beginnt früh, lang vor dem Auftreten der ersten klinischen Symptome. Dabei kommt es zu einer subtilen Verschlechterung sowohl der physischen als auch der kognitiven Funktion; dies kann auch schon bei einem radiologisch bzw. klinisch isolierten Syndrom (RIS/CIS) auftreten. Zu den Charakteristika der schwelenden Erkrankung gehören sogenannte «paramagnetic rim lesions» (PRL). Dies sind chronisch-aktive, nicht-Gadolinium-aufnehmende Läsionen mit paramagnetischen Randzonen, die früher nur in der Autopsie gesehen wurden, heute aber mit speziellen MRT-Techniken in vivo diagnostiziert werden können. Personen mit ≥4 solchen Läsionen erreichten früher als andere ein Stadium der motorischen und kognitiven Behinderung.10
Auch sogenannte «slowly evolving lesions» (SEL) sind ein Charakteristikum der schwelenden Erkrankung. Sie kommen sowohl bei der remittierenden als auch bei der primär progredienten Verlaufsform vor, häufiger allerdings bei Letzterer. Die T1-gewichtete Messung der Aktivität dieser SEL ist ein Prädiktor für die Progredienz der klinischen Behinderung und ein Kandidaten-Biomarker für die schwelende Erkrankung.
Weitere Charakteristika der schwelenden MS sind subpiale kortikale Läsionen, diffuse Aktivierung der Mikroglia und die Atrophie des Gehirns, insbesondere des Kortex. Die derzeit zugelassenen pharmakologischen Therapien haben zwar eine signifikante Wirkung auf Endpunkte, die mit der akuten fokalen Entzündung zusammenhängen; sie zeigen jedoch keine Wirkung auf die schwelende Erkrankung.
Eine mögliche Aktivität gegen diese Verlaufsform könnten Bruton-Tyrosinkinasen haben. Einige davon wirken nicht nur gegen B-Zellen, sondern auch gegen die Aktivierung von Makrophagen und Mikrogliazellen. Dies hat unter anderem zur Folge, dass von diesen Zellen weniger proinflammatorische Zytokine wie TNF-α, IL-1β oder IL-6 produziert werden.
Um die MS vollständig und in ihrer Gesamtheit – die sowohl zentrale als auch periphere Manifestationen umfasst – zu verstehen, ist notwendig, zu einem umfassenden Krankheitsmanagement zu kommen, das auch die schwelende Erkrankung berücksichtigt.
Monoklonale Antikörper gegen Kopfschmerzen
Das «calcitonin-gene-related peptide» (CGRP) wurde bereits in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts entdeckt. Man kannte seine Funktion zunächst nicht, stellte aber fest, dass es – aufgrund vasodilatatorischer Eigenschaften – Migräne verursachen kann und tatsächlich auch eine Rolle bei der Migräneentstehung spielt. «Deshalb lag es nahe, monoklonale Antikörper gegen CGRP zu entwickeln», so Dr. med. Reto M. Agosti, Kopfwehzentrum Hirslanden, Zürich. Derzeit sind vier solche Antikörper verfügbar. Drei davon (Eptinezumab, Fremanezumab und Galcanezumab) blockieren CGRP selbst, der vierte (Erenumab) hingegen den CGRP-Rezeptor. Die Indikation für alle vier Substanzen lautet: Prävention der Migräne bei Erwachsenen, die mindestens vier Migränetage pro Monat haben.
Die Substanzen sind imstande, die Zahl der monatlichen Migränetage signifikant zu reduzieren. «Die Ergebnisse für diese vier Medikamente sind nahezu identisch», betonte Agosti. Drei der Medikamente können über einen Pen verabreicht werden (in der Regel monatlich), das vierte, Eptinezumab, muss i.v. infundiert werden; das allerdings nur alle drei Monate.
Dass diese Medikamente relevant sind, ergibt sich schon aus der weltweit hohen Prävalenz der Erkrankung. Diese liegt bei etwa 10%, in Europa eher bei 15%.11 «Damit sind Menschen gemeint, die in den vergangenen zwölf Monaten zumindest einen Migräneanfall hatten», stellte der Experte klar. Tatsache ist, dass nur etwa die Hälfte aller Migränepatienten eine korrekte Diagnose erhält. Eine Akutbehandlung bekommen 68% der Diagnostizierten, eine Prophylaxe hingegen nur 20%.12
Im Einklang mit den Empfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft sollte bei 1–5 Migränetagen pro Monat eine Akutbehandlung (NSAR, Analgetika, Triptane) erfolgen, ab fünf Tagen pro Monat kann eine Prophylaxe gegeben werden. Dazu dienen zunächst Betablocker, Antiepileptika, Kalziumantagonisten oder Antidepressiva. Spezifische Prophylaktika, also CGRP-Hemmer, sind ab acht Migränetagen pro Monat indiziert.
Die CGRP-Hemmer werden im Allgemeinen gut vertragen. In seltenen Fällen kann es zu einem Raynaud-Phänomen, zu entzündlichen Gelenksschmerzen, Hautveränderungen oder paradoxer Verschlimmerung einer Migräne kommen. Ein viel diskutiertes Thema ist der hohe Preis der Medikamente und damit auch immer wieder die Frage der Kostenübernahme durch Sozialversicherungsträger.
Quelle:
5. Kongress der Swiss Federation of Clinical Neuro-Societies (SFCNS), 29.September 2022, Basel
Literatur:
1 Cook MJ et al.: Lancet Neurol 2013; 12(6): 563-71 2 Nair DR et al.: Neurology 2020; 95(9): e1244-56 3 Baud MO et al.: Nat Commun 2018; 9(1): 88 4 Leguia MG et al.: JAMA Neurol 2021; 78(4): 454-63 5 Mykicki N et al.: Sci Transl Med 2016; 8(362): 362ra146 6 Jangi S et al.: Nat Commun 2016; 7: 12015 7 Berer K et al.: Proc Natl Acad Sci U S A 2017; 114(40): 10719-24 8 Chang PV et al.: Proc Natl Acad Sci U S A 2014; 111(6): 2247-52 9 Cosorich I et al.: Sci Adv 2017; 3(7): e1700492 10 Absinta M et al.: JAMA Neurol 2019; 76(12): 1474-83 11 Jensen R, Stovner LJ: Lancet Neurol 2008; 7(4): 354-61 12 Lipton RB et al.: Neurology 2007; 68(5): 343-9
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