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Neue Kopfschmerzklassifikation: mehr Evidenz, einfachere Struktur
Leading Opinions
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01.03.2018
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<p class="article-intro">2013 haben die Experten der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) erstmals vorab eine Beta- Version (ICHD-3β) der neuen internationalen Kopfschmerzklassifikation veröffentlicht.<sup>1</sup> Ein Grund dafür sei gewesen, so der Leiter der Expertengruppe, Prof. Jes Olesen, ICHD-3 mit der ICD-11-Klassifikation zu synchronisieren. Zudem habe man den Ärzten die Möglichkeit geben wollen, den Entwurf zu kommentieren. Die definitive Version von ICHD-3 soll 2018 veröffentlicht werden. Am europäischen Kopfschmerzkongress Anfang Dezember 2017 in Rom gaben Prof. Olesen, Prof. Timothy J. Steiner und Prof. Paolo Martelletti erste Einblicke in die Neuerungen in der ICHD-3- und ICD-11-Klassifikation und gingen darauf ein, was Hausärzte tun können, um das globale Problem «Kopfschmerz» angehen zu können.</p>
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<p class="article-content"><p>Die neue Version der ICHD-Klassifikation (ICHD-3) habe mehr als 200 Seiten, weshalb er nur einen kleinen Vorgeschmack auf die Neuerungen geben könne, führte Prof. Dr. med. Jes Olesen, Vorsitzender des Kopfschmerz-Klassifikations- Teams der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft und Co-Leiter des dänischen Kopfschmerzzentrums am Rigshospitalet in Kopenhagen, in das Thema ein. «Für die neue Klassifikation gibt es deutlich mehr Evidenz im Gegensatz zu den vorherigen Ausgaben, die vorwiegend auf Expertenmeinungen basierten», sagte Olesen. Das Klassifikations-Team habe versucht, nur dort Änderungen vorzunehmen, wo es gute, mit Publikationen belegte Evidenz dafür gibt, oder dort, wo es intuitiv offensichtlich nötig war.<br /> Die neue ICHD-3-Klassifikation besteht ähnlich wie die bisherige aus drei Hauptteilen: 1. Primäre Kopfschmerzen, 2. Sekundäre Kopfschmerzen und 3. Schmerzhafte kraniale Neuropathien, andere Gesichts- und Kopfschmerzen (Tab. 1). Neu ist beispielsweise, dass die chronische Migräne als eigene Migräneform in die Klassifikation aufgenommen wurde (1.3) und nicht mehr unter Migränekomplikationen figuriert. Die Kriterien wurden hingegen nicht geändert. Eine chronische Migräne liegt demnach vor, wenn der Patient über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten an mindestens 15 Tagen pro Monat Kopfschmerzen hat. Dabei kann es sich um eine gesicherte Migräne mit oder ohne Aura handeln. Es reicht aber auch, dass der Patient glaubt, es sei eine Migräne, und dass diese mit Triptanen oder einem anderen Ergotaminderivat gelindert werden kann.<br /> Einige Kopfschmerzformen wurden verschoben, deren Kriterien aber nicht geändert. So figuriert z.B. die Hemicrania continua, der anhaltende, streng einseitige Dauerkopfschmerz, neu unter den trigeminoautonomen Kopfschmerzen (3.4) und nicht mehr in Kapitel 4 unter «Andere primäre Kopfschmerzen». Dafür gehören kälteinduzierte Kopfschmerzen (4.5) und Kopfschmerzen durch äusseren Druck auf den Kopf (4.6) – etwa durch enge Hüte, Stirnbänder oder Schwimmbrillen – neuerdings in das Kapitel 4 (bisher waren sie in Kapitel 13 «Kraniale Neuralgien, zentraler und primärer Gesichtsschmerz und andere Kopfschmerzen» klassifiziert). «Diese Umklassifizierung macht Sinn», sagte Olesen. «Kälte- und Druckkopfschmerzen werden wie die anderen primären Kopfschmerzen dieser Gruppe durch einen alltäglichen Stimulus verursacht und gehören deshalb hierhin.»<br /> Andere Kopfschmerzformen wurden präziser definiert: Für den primären Hustenkopfschmerz (4.1) und den primären Kopfschmerz durch körperliche Anstrengung (4.2) werden beispielsweise neu mindestens zwei entsprechende Kopfschmerzepisoden gefordert, um die Diagnose stellen zu können. «Manchmal haben Ärzte Probleme, Anstrengungskopfschmerzen von Migräne abzugrenzen», sagte Olesen. «Hier gilt: Löst Anstrengung eine Migräneattacke aus, hat der Patient eine Migräne und keine Anstrengungskopfschmerzen.»<br /> Bei den sekundären Kopfschmerzen wurde das diagnostische Kriterium C näher spezifiziert, wonach Evidenz für die Kausalität zwischen dem Auslöser – zum Beispiel einem Schädeltrauma – und den Kopfschmerzen vorhanden sein muss. Um das Kriterium zu erfüllen, müssen mindestens zwei der folgenden Punkte zutreffen: 1. Die Kopfschmerzen sind in zeitlichem Zusammenhang mit der vermuteten Ursache aufgetreten; 2. die Kopfschmerzen haben sich parallel zu einer Verschlechterung resp. Verbesserung der vermuteten Ursache verschlechtert bzw. verbessert; 3. die Kopfschmerzen zeigen Charakteristika, die typisch sind für die Ursache; 4. es gibt andere Evidenz für die Kausalität.<br /> Bei einigen Kopfschmerzformen wurden auch Kriterien entfernt, wodurch die Diagnosestellung vereinfacht wird. So z.B. beim medikamenteninduzierten Kopfschmerz («medication-overuse headache», MOH). In der ICHD-2-Klassifikation wurde als Kriterium für die Diagnose eines MOH verlangt, dass die Kopfschmerzen innerhalb von zwei Monaten nach dem Absetzen des Schmerzmittels verschwinden. Dies wird in ICHD-3 nun nicht mehr gefordert. Oder bei der Diagnose einer chronischen Migräne; hier musste früher ein MOH ausgeschlossen werden, um die Diagnose stellen zu können. Dies ist nun nicht mehr erforderlich.<br /> «Probleme in Bezug auf die Klassifikation bieten uns nach wie vor die Spannungskopfschmerzen, der zervikogene sowie der temporomandibuläre Kopfschmerz », so Olesen. «Für eine eindeutige Einordung haben wir noch nicht genügend Evidenz. Vielleicht haben wir bis zur ICHD-4-Klassifikation im Jahre 2028 Biomarker oder genetische Untersuchungen, die uns bei der Einteilung helfen.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Innere_1801_Weblinks_lo_innere_medizin_1801_tab1.jpg" alt="" width="1500" height="1174" /></p> <h2>ICD-11: mehr Platz für Kopfschmerzen</h2> <p>Die 11. Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) wurde parallel zu ICHD-3 entwickelt. «Leider ist ICD-11 noch nicht fertig, aber man ist auf dem besten Weg, die beiden Klassifikationen anzugleichen», sagte Prof. Dr. med. Timothy J. Steiner, Kopfschmerzspezialist an der Universität Trondheim und am Imperial College in London sowie Co-Direktor der globalen Kampagne gegen Kopfschmerzen (Lifting The Burden: The Global Campaign to Reduce the Burden of Headache Worldwide; www.l-t-b.org). Eines der Ziele bei der Überarbeitung von ICD-10 war es, mit ICD-11 eine Klassifikation nicht nur für Spezialisten, sondern vor allem auch für Hausärzte herauszubringen. In ICD-10 finden sich die Kopfschmerzen unter den Punkten G40 bis G47 als Untergruppe der Krankheiten des Nervensystems. «Wir wollten in ICD-11 für die Kopfschmerzen ein eigenes Kapitel haben, das von der Struktur her möglichst nahe an die ICHD-Klassifikation angelehnt ist», so Steiner. Dies wurde dann auch weitgehend umgesetzt. Die Kopfschmerzen haben in ICD-11 ein eigenes Kapitel (06E) mit 6 Levels und diversen Unterkapiteln. Am Beispiel des MOH erklärte Prof. Steiner die finale Struktur. Das Level 06E03 umfasst alle MOH, die Unterkapitel 0 bis 7 entsprechen ziemlich genau den 8 MOH-Unterkapiteln in ICHD-3. Auch die posttraumatischen Kopfschmerzen folgen einer ähnlichen Gliederung. Anhand von Fallvignetten wird zurzeit noch getestet, ob Kopfschmerzen in ICD-11 gleich klassifiziert werden wie in ICHD-3. «Wir sind schon ziemlich nah dran», schloss Steiner, «aber solange die Tests noch laufen, kann ICD-11 nicht veröffentlicht werden.»</p> <h2>Ein Leitfaden für Hausärzte</h2> <p>«Eine genaue Klassifikation der Kopfschmerzen ist notwendig, damit die Patienten rechtzeitig die passende Therapie bekommen», betonte Prof. Dr. med. Paolo Martelletti, Kopfschmerzexperte am Kopfschmerzzentrum des Ospedale Sant’ Andrea in Rom. Weltweit leidet eine Milliarde Patienten unter Kopfschmerzen, häufig sind es junge Menschen im Alter der höchsten Arbeitsproduktivität. «Bei so vielen Patienten sind wir auf die Hilfe und Unterstützung durch die Hausärzte angewiesen », sagte Martelletti. Die neue ICHD-3-Klassifikation sei zwar sehr sinnvoll, aber für die Hausärzte oft noch zu kompliziert. «Wir müssen die Hausärzte besser ausbilden», forderte er. 2007 gab die Europäische Kopfschmerzgesellschaft zusammen mit der WHO und der globalen Kampagne gegen Kopfschmerzen deshalb einen Leitfaden speziell für Hausärzte heraus.<sup>2, 3</sup> In Kürze erscheint die zweite Auflage, die auf der Website von «Lifting The Burden» bereits zum Download bereitsteht.<sup>4</sup> In der neuen Auflage wurden viele Kapitel vereinfacht. In kurzen und knappen Texten erfährt der Leser, welche Fragen in der Anamnese eines Kopfschmerzpatienten nicht fehlen dürfen, welche Untersuchungen notwendig sind und welche überflüssig, wann der Patient zum Spezialisten überwiesen werden sollte und welche Patienten der Hausarzt selbst behandeln kann. «Wir möchten die Hausärzte davon überzeugen, dass wir das Kopfschmerzproblem nur gemeinsam angehen können», sagte Martelletti, «sie müssen den Grossteil der Kopfschmerzpatienten behandeln.»</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 11<sup>th</sup> European Headache Federation Congress, 1.–3. Dezember
2017, Rom
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS): The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition (beta version). Cephalalgia. 2013 33(9): 629-808 <strong>2</strong> Steiner TJ, Martelletti P: Aids for management of common headache disorders in primary care. J Headache Pain 2007; 8(Suppl 1): S2 <strong>3</strong> Steiner TJ et al.: European principles of management of common headache disorders in primary care. J Headache Pain 2007; 8(Suppl 1): S3-47. www.l-t-b.org/assets/37/ AD337C98-9DA7-2DE7-FB4AB61454AAA3AE_document/ JHP_Aids_for_management.pdf <strong>4</strong> Steiner TJ et al.: European principles of management of common headache disorders in primary care. 2nd edition. www.l-t-b.org/assets/ 32/AD32D142-DA5C-077E-FA9391F46EE1D777_document/ Principles_of_management.pdf</p> <p><br />Buchempfehlungen für Hausärzte von Prof. Dr. med. Peter Sandor, Bad Zurzach: Agosti R, Diener HC, Limmroth V (Hrsg.): <strong>Migräne und Kopfschmerzen:</strong> Ein Fachbuch für Hausärzte, Fachärzte, Therapeuten und Betroffene. S. Karger, Basel, 2015. ISBN: 978-3318054415<br /> Göbel H (Hrsg.): <strong>Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne:</strong> Ursachen beseitigen, gezielt vorbeugen, Strategien zur Selbsthilfe. 8. Aufl. Springer, Berlin, 2016. ISBN: 978-3662504925</p>
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