© Getty Images/iStockphoto

Europäischer Kopfschmerzkongress in Rom

Neue Kopfschmerzklassifikation: mehr Evidenz, einfachere Struktur

<p class="article-intro">2013 haben die Experten der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) erstmals vorab eine Beta- Version (ICHD-3β) der neuen internationalen Kopfschmerzklassifikation veröffentlicht.<sup>1</sup> Ein Grund dafür sei gewesen, so der Leiter der Expertengruppe, Prof. Jes Olesen, ICHD-3 mit der ICD-11-Klassifikation zu synchronisieren. Zudem habe man den Ärzten die Möglichkeit geben wollen, den Entwurf zu kommentieren. Die definitive Version von ICHD-3 soll 2018 veröffentlicht werden. Am europäischen Kopfschmerzkongress Anfang Dezember 2017 in Rom gaben Prof. Olesen, Prof. Timothy J. Steiner und Prof. Paolo Martelletti erste Einblicke in die Neuerungen in der ICHD-3- und ICD-11-Klassifikation und gingen darauf ein, was Hausärzte tun können, um das globale Problem «Kopfschmerz» angehen zu können.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Die neue Version der ICHD-Klassifikation (ICHD-3) habe mehr als 200 Seiten, weshalb er nur einen kleinen Vorgeschmack auf die Neuerungen geben k&ouml;nne, f&uuml;hrte Prof. Dr. med. Jes Olesen, Vorsitzender des Kopfschmerz-Klassifikations- Teams der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft und Co-Leiter des d&auml;nischen Kopfschmerzzentrums am Rigshospitalet in Kopenhagen, in das Thema ein. &laquo;F&uuml;r die neue Klassifikation gibt es deutlich mehr Evidenz im Gegensatz zu den vorherigen Ausgaben, die vorwiegend auf Expertenmeinungen basierten&raquo;, sagte Olesen. Das Klassifikations-Team habe versucht, nur dort &Auml;nderungen vorzunehmen, wo es gute, mit Publikationen belegte Evidenz daf&uuml;r gibt, oder dort, wo es intuitiv offensichtlich n&ouml;tig war.<br /> Die neue ICHD-3-Klassifikation besteht &auml;hnlich wie die bisherige aus drei Hauptteilen: 1. Prim&auml;re Kopfschmerzen, 2. Sekund&auml;re Kopfschmerzen und 3. Schmerzhafte kraniale Neuropathien, andere Gesichts- und Kopfschmerzen (Tab. 1). Neu ist beispielsweise, dass die chronische Migr&auml;ne als eigene Migr&auml;neform in die Klassifikation aufgenommen wurde (1.3) und nicht mehr unter Migr&auml;nekomplikationen figuriert. Die Kriterien wurden hingegen nicht ge&auml;ndert. Eine chronische Migr&auml;ne liegt demnach vor, wenn der Patient &uuml;ber einen Zeitraum von mehr als drei Monaten an mindestens 15 Tagen pro Monat Kopfschmerzen hat. Dabei kann es sich um eine gesicherte Migr&auml;ne mit oder ohne Aura handeln. Es reicht aber auch, dass der Patient glaubt, es sei eine Migr&auml;ne, und dass diese mit Triptanen oder einem anderen Ergotaminderivat gelindert werden kann.<br /> Einige Kopfschmerzformen wurden verschoben, deren Kriterien aber nicht ge&auml;ndert. So figuriert z.B. die Hemicrania continua, der anhaltende, streng einseitige Dauerkopfschmerz, neu unter den trigeminoautonomen Kopfschmerzen (3.4) und nicht mehr in Kapitel 4 unter &laquo;Andere prim&auml;re Kopfschmerzen&raquo;. Daf&uuml;r geh&ouml;ren k&auml;lteinduzierte Kopfschmerzen (4.5) und Kopfschmerzen durch &auml;usseren Druck auf den Kopf (4.6) &ndash; etwa durch enge H&uuml;te, Stirnb&auml;nder oder Schwimmbrillen &ndash; neuerdings in das Kapitel 4 (bisher waren sie in Kapitel 13 &laquo;Kraniale Neuralgien, zentraler und prim&auml;rer Gesichtsschmerz und andere Kopfschmerzen&raquo; klassifiziert). &laquo;Diese Umklassifizierung macht Sinn&raquo;, sagte Olesen. &laquo;K&auml;lte- und Druckkopfschmerzen werden wie die anderen prim&auml;ren Kopfschmerzen dieser Gruppe durch einen allt&auml;glichen Stimulus verursacht und geh&ouml;ren deshalb hierhin.&raquo;<br /> Andere Kopfschmerzformen wurden pr&auml;ziser definiert: F&uuml;r den prim&auml;ren Hustenkopfschmerz (4.1) und den prim&auml;ren Kopfschmerz durch k&ouml;rperliche Anstrengung (4.2) werden beispielsweise neu mindestens zwei entsprechende Kopfschmerzepisoden gefordert, um die Diagnose stellen zu k&ouml;nnen. &laquo;Manchmal haben &Auml;rzte Probleme, Anstrengungskopfschmerzen von Migr&auml;ne abzugrenzen&raquo;, sagte Olesen. &laquo;Hier gilt: L&ouml;st Anstrengung eine Migr&auml;neattacke aus, hat der Patient eine Migr&auml;ne und keine Anstrengungskopfschmerzen.&raquo;<br /> Bei den sekund&auml;ren Kopfschmerzen wurde das diagnostische Kriterium C n&auml;her spezifiziert, wonach Evidenz f&uuml;r die Kausalit&auml;t zwischen dem Ausl&ouml;ser &ndash; zum Beispiel einem Sch&auml;deltrauma &ndash; und den Kopfschmerzen vorhanden sein muss. Um das Kriterium zu erf&uuml;llen, m&uuml;ssen mindestens zwei der folgenden Punkte zutreffen: 1. Die Kopfschmerzen sind in zeitlichem Zusammenhang mit der vermuteten Ursache aufgetreten; 2. die Kopfschmerzen haben sich parallel zu einer Verschlechterung resp. Verbesserung der vermuteten Ursache verschlechtert bzw. verbessert; 3. die Kopfschmerzen zeigen Charakteristika, die typisch sind f&uuml;r die Ursache; 4. es gibt andere Evidenz f&uuml;r die Kausalit&auml;t.<br /> Bei einigen Kopfschmerzformen wurden auch Kriterien entfernt, wodurch die Diagnosestellung vereinfacht wird. So z.B. beim medikamenteninduzierten Kopfschmerz (&laquo;medication-overuse headache&raquo;, MOH). In der ICHD-2-Klassifikation wurde als Kriterium f&uuml;r die Diagnose eines MOH verlangt, dass die Kopfschmerzen innerhalb von zwei Monaten nach dem Absetzen des Schmerzmittels verschwinden. Dies wird in ICHD-3 nun nicht mehr gefordert. Oder bei der Diagnose einer chronischen Migr&auml;ne; hier musste fr&uuml;her ein MOH ausgeschlossen werden, um die Diagnose stellen zu k&ouml;nnen. Dies ist nun nicht mehr erforderlich.<br /> &laquo;Probleme in Bezug auf die Klassifikation bieten uns nach wie vor die Spannungskopfschmerzen, der zervikogene sowie der temporomandibul&auml;re Kopfschmerz &raquo;, so Olesen. &laquo;F&uuml;r eine eindeutige Einordung haben wir noch nicht gen&uuml;gend Evidenz. Vielleicht haben wir bis zur ICHD-4-Klassifikation im Jahre 2028 Biomarker oder genetische Untersuchungen, die uns bei der Einteilung helfen.&raquo;</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Innere_1801_Weblinks_lo_innere_medizin_1801_tab1.jpg" alt="" width="1500" height="1174" /></p> <h2>ICD-11: mehr Platz f&uuml;r Kopfschmerzen</h2> <p>Die 11. Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) wurde parallel zu ICHD-3 entwickelt. &laquo;Leider ist ICD-11 noch nicht fertig, aber man ist auf dem besten Weg, die beiden Klassifikationen anzugleichen&raquo;, sagte Prof. Dr. med. Timothy J. Steiner, Kopfschmerzspezialist an der Universit&auml;t Trondheim und am Imperial College in London sowie Co-Direktor der globalen Kampagne gegen Kopfschmerzen (Lifting The Burden: The Global Campaign to Reduce the Burden of Headache Worldwide; www.l-t-b.org). Eines der Ziele bei der &Uuml;berarbeitung von ICD-10 war es, mit ICD-11 eine Klassifikation nicht nur f&uuml;r Spezialisten, sondern vor allem auch f&uuml;r Haus&auml;rzte herauszubringen. In ICD-10 finden sich die Kopfschmerzen unter den Punkten G40 bis G47 als Untergruppe der Krankheiten des Nervensystems. &laquo;Wir wollten in ICD-11 f&uuml;r die Kopfschmerzen ein eigenes Kapitel haben, das von der Struktur her m&ouml;glichst nahe an die ICHD-Klassifikation angelehnt ist&raquo;, so Steiner. Dies wurde dann auch weitgehend umgesetzt. Die Kopfschmerzen haben in ICD-11 ein eigenes Kapitel (06E) mit 6 Levels und diversen Unterkapiteln. Am Beispiel des MOH erkl&auml;rte Prof. Steiner die finale Struktur. Das Level 06E03 umfasst alle MOH, die Unterkapitel 0 bis 7 entsprechen ziemlich genau den 8 MOH-Unterkapiteln in ICHD-3. Auch die posttraumatischen Kopfschmerzen folgen einer &auml;hnlichen Gliederung. Anhand von Fallvignetten wird zurzeit noch getestet, ob Kopfschmerzen in ICD-11 gleich klassifiziert werden wie in ICHD-3. &laquo;Wir sind schon ziemlich nah dran&raquo;, schloss Steiner, &laquo;aber solange die Tests noch laufen, kann ICD-11 nicht ver&ouml;ffentlicht werden.&raquo;</p> <h2>Ein Leitfaden f&uuml;r Haus&auml;rzte</h2> <p>&laquo;Eine genaue Klassifikation der Kopfschmerzen ist notwendig, damit die Patienten rechtzeitig die passende Therapie bekommen&raquo;, betonte Prof. Dr. med. Paolo Martelletti, Kopfschmerzexperte am Kopfschmerzzentrum des Ospedale Sant&rsquo; Andrea in Rom. Weltweit leidet eine Milliarde Patienten unter Kopfschmerzen, h&auml;ufig sind es junge Menschen im Alter der h&ouml;chsten Arbeitsproduktivit&auml;t. &laquo;Bei so vielen Patienten sind wir auf die Hilfe und Unterst&uuml;tzung durch die Haus&auml;rzte angewiesen &raquo;, sagte Martelletti. Die neue ICHD-3-Klassifikation sei zwar sehr sinnvoll, aber f&uuml;r die Haus&auml;rzte oft noch zu kompliziert. &laquo;Wir m&uuml;ssen die Haus&auml;rzte besser ausbilden&raquo;, forderte er. 2007 gab die Europ&auml;ische Kopfschmerzgesellschaft zusammen mit der WHO und der globalen Kampagne gegen Kopfschmerzen deshalb einen Leitfaden speziell f&uuml;r Haus&auml;rzte heraus.<sup>2, 3</sup> In K&uuml;rze erscheint die zweite Auflage, die auf der Website von &laquo;Lifting The Burden&raquo; bereits zum Download bereitsteht.<sup>4</sup> In der neuen Auflage wurden viele Kapitel vereinfacht. In kurzen und knappen Texten erf&auml;hrt der Leser, welche Fragen in der Anamnese eines Kopfschmerzpatienten nicht fehlen d&uuml;rfen, welche Untersuchungen notwendig sind und welche &uuml;berfl&uuml;ssig, wann der Patient zum Spezialisten &uuml;berwiesen werden sollte und welche Patienten der Hausarzt selbst behandeln kann. &laquo;Wir m&ouml;chten die Haus&auml;rzte davon &uuml;berzeugen, dass wir das Kopfschmerzproblem nur gemeinsam angehen k&ouml;nnen&raquo;, sagte Martelletti, &laquo;sie m&uuml;ssen den Grossteil der Kopfschmerzpatienten behandeln.&raquo;</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: 11<sup>th</sup> European Headache Federation Congress, 1.–3. Dezember 2017, Rom </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS): The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition (beta version). Cephalalgia. 2013 33(9): 629-808 <strong>2</strong> Steiner TJ, Martelletti P: Aids for management of common headache disorders in primary care. J Headache Pain 2007; 8(Suppl 1): S2 <strong>3</strong> Steiner TJ et al.: European principles of management of common headache disorders in primary care. J Headache Pain 2007; 8(Suppl 1): S3-47. www.l-t-b.org/assets/37/ AD337C98-9DA7-2DE7-FB4AB61454AAA3AE_document/ JHP_Aids_for_management.pdf <strong>4</strong> Steiner TJ et al.: European principles of management of common headache disorders in primary care. 2nd edition. www.l-t-b.org/assets/ 32/AD32D142-DA5C-077E-FA9391F46EE1D777_document/ Principles_of_management.pdf</p> <p><br />Buchempfehlungen f&uuml;r Haus&auml;rzte von Prof. Dr. med. Peter Sandor, Bad Zurzach: Agosti R, Diener HC, Limmroth V (Hrsg.): <strong>Migr&auml;ne und Kopfschmerzen:</strong> Ein Fachbuch f&uuml;r Haus&auml;rzte, Fach&auml;rzte, Therapeuten und Betroffene. S. Karger, Basel, 2015. ISBN: 978-3318054415<br /> G&ouml;bel H (Hrsg.): <strong>Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migr&auml;ne:</strong> Ursachen beseitigen, gezielt vorbeugen, Strategien zur Selbsthilfe. 8. Aufl. Springer, Berlin, 2016. ISBN: 978-3662504925</p> </div> </p>
Back to top