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Ermöglicht Gentest künftig gezielte Therapiewahl?

Multiple-Sklerose-Gen weist auf ungünstigen Verlauf hin

Bisher lässt sich der Verlauf einer Multiplen Sklerose nicht verlässlich voraussagen und es gibt auch keine validen Marker, welcher Patient von einer aggressiven Therapie profitiert. Forscher haben eine Genvariante gefunden, die auf einen schweren Verlauf weist. Mit einem Gentest könnte die Therapie in Zukunft womöglich besser angepasst werden.

Es ist die verständliche Frage eines Patienten mit Multipler Sklerose (MS): „Wie verläuft die Krankheit? Muss ich irgendwann in den Rollstuhl?“ In den vergangenen Jahrzehnten sind zwar einige immunmodulatorische Medikamente auf den Markt gekommen, mit denen sich die Schübe gut kontrollieren lassen. Aber wie sich die Progression der Erkrankung effektiv aufhalten lässt, ist immer noch unklar. Mit genomweiten Assoziationsstudien wurden mehr als 200 Varianten identifiziert, die einen Menschen empfindlicher machen, an MS zu erkranken. Diese Varianten scheinen aber nicht mit der Schwere der Krankheit verbunden zu sein. Offenbar gibt es andere Gene, die den klinischen Verlauf bestimmen, wie das auch in anderen Autoimmunkrankheiten oder neurologischen Krankheiten der Fall ist, etwa Morbus Crohn oder Parkinson. „Das Problem ist, dass wir keine verlässlichen Marker haben, mit denen sich der Verlauf vorhersagen lässt und welcher Patient von einer aggressiveren Therapie profitiert“, sagt Prof. Volker Limmroth, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Palliativmedizin in Köln-Merheim und Leiter der dortigen MS-Ambulanz. „So verschreiben wir womöglich manchen Patienten eine zu schwache Therapie und manchen unnötigerweise eine zu aggressive.“ Jetzt hat eine internationale Forschergruppe um den Neurologen Adil Harroud aus Montreal eine Genvariante gefunden, die diese Wissenslücke schließen könnte. Die Forscher fanden nämlich eine Genvariante, die mit einem schlechteren Verlauf korreliert ist. Ein Gentest böte vielleicht in Zukunft die Möglichkeit, die Prognose besser einzuschätzen und die Behandlung entsprechend anzupassen. Die erste Studie hierzu wurde in Nature im Juli 2023 publiziert;1 im Dezember 2023 erschien eine Follow-up-Studie aus München in den Annals of Neurology,2 die bei Genträgern eine stärker ausgeprägte Hirnatrophie zeigte und damit die Ergebnisse der ersten Studie unterstützt.

Öfter Läsionen im Hirnstamm

Wissenschaftler des Internationalen MS-Genetik-Konsortiums unter Beteiligung von Arbeitsgruppen aus München und Mainz verglichen für die Nature-Studie1 die Genausstattung von 22389 Patienten aus Nordamerika, Europa und Australien mit deren Krankheitsverlauf. Den maßen sie daran, wie sehr sich die körperliche Einschränkung der Patienten verschlechterte, ermittelt mittels einer altersangepassten Expanded Disability Status Scale (EDSS). Ab einem EDSS-Wert von sechs brauchen die Betroffenen in der Regel einen Gehstock und ab sieben einen Rollstuhl.

Nachdem die Forscher insgesamt 7,8 Millionen Genvarianten gescreent hatten, fiel eine auf dem Chromosom 2 auf, die deutlich öfter mit einem schlechteren Verlauf verbunden war. Hatte ein Patient zwei Kopien dieser Variante mit Namen rs10191329 von Vater und Mutter geerbt, war er 3,7 Jahre früher auf eine Gehhilfe angewiesen als Patienten ohne die Variante bei einem durchschnittlichen Krankheitsverlauf von 18 Jahren. In einer weiteren Untersuchung von Hirngewebe von 290 gestorbenen Patienten fanden sich bei denen mit zwei Kopien der Variante öfter Läsionen im Hirnstamm und in der Hirnrinde, was auch auf einen schlechteren Verlauf weist. Denn Schäden in diesen Regionen gehen mit einem Verlust von Nervenzellen und Nervenfasern einher.

In der Follow-up-Studie2 zeigte die Münchner Arbeitsgruppe, dass die genetische Variante rs10191329 mit einer schnelleren Hirnatrophie einhergeht, was sie anhand von MRT-Messungen darlegte. Untersucht wurden 748 Patienten der Münchner Kohorte und 360 der Stockholmer Kohorte. „Das ist ein weiteres Indiz für mich, dass die genetische Variante krankheitsrelevant ist“, sagt Prof. Bernhard Hemmer, Direktor der Klinik für Neurologie der Technischen Universität in München, der auch an dieser Studie beteiligt war. Es sei für klinische Studien sinnvoll, so ein Fazit der Autoren, Patienten nach der rs10191329-Variante zu stratifizieren, inklusive Messungen der Hirnatrophie mittels MRT. Würde man die molekularen und zellulären Faktoren hinter dieser Assoziation verstehen, könnte man auch die Mechanismen der Krankheitsprogression begreifen, was dann Wege für neue Therapien eröffnen würde.

Schritt zur personalisierten MS-Medizin

Einen „Riesenfortschritt“ findet Prof. Anne-Katrin Pröbstel die Ergebnisse. Sie ist Leitende Ärztin in der Neurologie im Universitätsspital Basel. „Wir haben jetzt eine mögliche Erklärung, warum die bisherigen Medikamente das Voranschreiten nicht so gut bremsen können. Und wir sehen Ansätze für neue Therapien.“ Für relevant halte sie die Studie auch deshalb, weil sie darauf hinweise, dass die anfänglichen Entzündungsphasen offenbar durch andere Gene vermittelt werden als das Voranschreiten. „Womöglich müssen wir nach ganz anderen Medikamenten suchen.“ Auch Prof. Sven Meuth, Direktor der Klinik für Neurologie im Universitätsklinikum Düsseldorf, zeigt sich erfreut über den Wissenszugewinn: „Zwar ist die Studie sicherlich nicht der entscheidende Schritt zur personalisierten MS-Medizin, aber wir haben jetzt einen guten Hinweis, dass die Resistenz von Gehirn und Rückenmark und die kognitive Reserve wichtige Faktoren für die Krankheitsprogression sind.“

Nach wie vor ist ungeklärt, warum sich bei der MS auf einmal bestimmte Bereiche im ZNS entzünden und was die Krankheit voranschreiten lässt. Initial verläuft die MS am häufigsten schubförmig remittierend (RRMS) und geht dann sekundär in eine progrediente MS über (SPMS). Bei manchen Patienten verläuft die MS von Anfang an progredient (PPMS). Seit Kurzem gibt es noch eine weitere Kategorie, das klinisch isolierte Syndrom (KIS): Es ist wahrscheinlich die erste klinische Manifestation einer MS mit Schub und neurologischem Defizit, das mit einer MS vereinbar ist. Die Diagnose kann aber noch nicht gestellt werden, weil das Kriterium der zeitlichen Dissemination nicht erfüllt ist. Die schubförmige Phase scheint vor allem durch immunologische Vorgänge bedingt zu sein, während bei der progredienten Form das Voranschreiten maßgeblich durch Prozesse im zentralen Nervensystem verursacht wird. Das periphere Immunkompartiment – also vor allem die Lymphozyten – spielt dann eine untergeordnete Rolle.

In neueren Studien zum Verlauf erreichen weniger als 10% aller Erkrankten einen EDSS-Wert von 6,0 nach 10 beziehungsweise 16 Jahren, also 90% der Patienten waren körperlich noch wenig eingeschränkt. In der Londoner KIS-Langzeitkohorte hatten nach 30 Jahren weniger als 40% der Patienten einen EDSS-Wert von 6,0 oder höher, obwohl weniger als jeder Zehnte jemals eine Immuntherapie erhalten hatten.3 Als prognostisch relevant gilt die Zeit bis zum Erreichen eines EDSS-Werts von 4. Ungünstig für den Verlauf scheinen zudem ein männliches Geschlecht zu sein, ein späterer und/oder polysymptomatischer Krankheitsbeginn, häufige Schübe zu Beginn sowie motorische, zerebelläre oder Sphinktersymptome und/oder inkomplett remittierende Schübe. Studien mit KIS-Patienten weisen darauf hin, dass die Läsionslast, die in der MRT zum Diagnosezeitpunkt zu sehen ist, und das Ausmaß der Zunahme an Läsionen in der frühen Krankheitsphase mit dem EDSS-Wert korrelieren.3, 4

Ein Schub wird standardmäßig mit Methylprednisolon behandelt, obwohl es hierzu wenige aussagekräftige Studien gibt.5 Die Behandlung sollte möglichst rasch nach Beginn erster Symptome gestartet werden, und zwar mit 500–1000mg Methylprednisolon pro Tag über einen Zeitraum von 3–5 Tagen.5 Mit den hoch dosierten Glukokortikoiden verschwinden die Symptome eines Schubes innerhalb einiger Wochen. Dann gilt es einzuschätzen, wie die MS verlaufen wird, und zu überlegen, ob und welches Immuntherapeutikum infrage kommt. Es gibt schwächer und stärker wirkende, eingeteilt in drei Wirksamkeitsklassen (siehe Kasten Seite 22). Letztere gehen mit einem erhöhten Risiko für schwerere Nebenwirkungen einher. Die heutigen Immuntherapeutika können MS nicht heilen, aber ihren Verlauf modifizieren. Die Entscheidung, ob und welches Präparat man wählt, ist daher immer eine Abwägung zwischen Nutzen – unter Berücksichtigung der aus Studien bekannten Wirksamkeitsdaten –, Nebenwirkungen und Familienplanung. Vor- und Nachteile sollten wie bei jeder Pharmakotherapie ausführlich mit dem Patienten besprochen werden. Bisher wurde zu einem aggressiveren Immuntherapeutikum der Kategorie 2 oder 3 unter anderem dann geraten, wenn ein Schub trotz Akutbehandlung körperliche Einschränkungen hinterlassen hatte, wenn der Patient mehr als zwei Schübe im ersten Jahr hatte oder die MRT auf einen starken Entzündungsprozess hinwies. Diese Kriterien sind aber nicht in Studien validiert. „Mit den derzeitigen Markern können wir nicht präzise vorhersagen, ob und wann eine Multiple Sklerose sekundär voranschreitet“, sagt Prof. Hemmer. „Hier könnte der Genstatus wertvolle Informationen liefern.“ Weisen die derzeitigen Kriterien beispielsweise darauf hin, dass die Krankheit noch nicht voranschreitet, hat aber der Patient zweimal die Genvariante, könnte er womöglich von einer aggressiveren Immuntherapie profitieren. Prof. Ralf Gold, Direktor der Klinik für Neurologie der Ruhr-Universität Bochum, warnt jedoch vor übertriebenen Hoffnungen. „Bevor der Test zur Routine wird, müssen die Ergebnisse bestätigt werden.“ Da die Studie in verschiedenen Kliniken stattfand, wurde der EDSS-Wert jeweils von verschiedenen Untersuchern erhoben – das könnte das Resultat verzerrt haben. „Womöglich gibt ein Untersucher eine höhere Punktzahl und ein anderer eine geringere bei gleichem Schweregrad“, sagt Gold. Doch auch wenn andere Studien das Gleiche zeigen, ist noch nicht klar, was das therapeutisch bedeutet. Es könnte sein, dass sich die Krankheit mit einer aggressiveren Therapie bremsen lässt, aber das muss dann auch erst noch bewiesen werden. Auch Prof. Meuth aus Düsseldorf ist noch skeptisch, was eine baldige Änderung der Therapiestrategie angeht: „Die Studie zeigt eine Assoziation in einer Gruppe von 22389 MS-Patienten“, sagt er. „Welche Aussagekraft eine Testung für den individuellen Patienten hat, muss noch geklärt werden.“ Therapieempfehlungen aus den Studienergebnissen abzuleiten, sei sicherlich zu früh. „Aber die Resultate liefern Ansatzpunkte, um nach neuen therapeutischen Zielstrukuren zu suchen, gegen die Medikamente entwickelt werden können.“

Beeinflusst die Genvariante andere Gene?

Die Autoren stellen Hypothesen auf, warum die Variante mit Namen rs10191329 zu einem schlechteren Verlauf führen könnte. Sie befindet sich zwischen den Genen DYSF und ZNF638. Das erste scheint in die Reparatur beschädigter Nervenzellen involviert zu sein und das zweite wurde mehrfach im Gehirn von MS-Patienten nachgewiesen und spielt womöglich auch für den Verlauf eine Rolle. „Vorstellbar wäre, dass die Variante ihre Nachbargene in irgendeiner Weise so beeinflusst, dass dadurch das Gehirn empfindlicher wird und keine Reserven mehr hat, sodass die Krankheit weiter voranschreitet“, sagt Hemmer. Theoretisch böte sich die Möglichkeit, an DYSF oder ZNF638 mit Medikamenten anzusetzen und so den schlechten Einfluss der Genvariante zu „neutralisieren“. All das ist aber noch Zukunftsmusik.

In der Studie kam auch noch heraus, dass eine höhere Ausbildung mit einem besseren Verlauf einherzugehen scheint und Rauchen mit einem schlechteren. Dies ist aber nichts Neues, das haben diverse andere Studien zuvor schon gezeigt. „Wir klären unsere Patienten immer darüber auf, dass Rauchen das Voranschreiten fördert“, sagt Neurologe Limmroth. „Und dass die Verschreibung von Präparaten, die Zehntausende Euro pro Jahr kosten, nur gerechtfertigt ist, wenn der Patient selbst mithilft und das Rauchen einstellt.“

1 International Multiple Sclerosis Genetics Consortium und MultipleMS Consortium. Nature 2023; 619: 323-31 2 Gasperi C et al.: Ann Neurol 2023; 94: 1080-5 3 Chung KK et al.: Ann Neurol 2020; 87: 63-74 4 Tintoré M et al.: Mult Scler 2020; 26: 1658-69 5 Hemmer B et al.: Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziiertenErkrankungen. S2k-Leitlinie, 2023. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 29.1.2024)

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