
„Wir stehen in der Migräneforschung derzeit an einer Schwelle“
Unser Gesprächspartner:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Lampl
Vorstand der Abteilung Neurologie
Barmherzige Brüder Linz
Präsident der European Headache Federation (EHF)
E-Mail: christian.lampl@bblinz.at
Das Interview führte Hanna Gabriel, MSc
Zwischen die Christkindlmärkte des winterlichen Wiens mischt sich in diesem Jahr eine gänzlich andere Veranstaltung: der 16. Jahreskongress der European Headache Federation (EHF). Er findet in Österreich statt und soll Aktuelles rund um das Thema Kopfschmerz auf erfrischende Weise präsentieren. Was die Teilnehmer*innen im Detail erwartet, fragen wir Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Lampl, Präsident der EHF.
Prof. Lampl, womit dürfen wir am EHF-Kongress 2022 rechnen?
C. Lampl: In diesem Jahr haben wir den Kongress vollkommen neu aufgestellt! Zunächst einmal hat sich die Dauer des Kongresses von zwei auf vier Tage erweitert, wodurch wir das Angebot enorm ausweiten können. Zudem haben wir das Konzept weg von parallelen Sessions hin zu Einzelsitzungen umgestellt und einen intensiven Fokus auf die sogenannten „teaching courses“ gelegt.
Uns war wichtig, den Kongress mit gänzlich neuen und aufregenden Elementen zu bereichern. Eine solche Idee ist z.B. das „headache theatre“, ein eigener Raum mit einer Bühne und Theatereinrichtung. Dort wollen wir den Teilnehmer*innen die Gelegenheit bieten, kurzfristig Daten zu präsentieren und sich spontan auszutauschen.
Für mich persönlich ist ein besonderes Highlight in diesem Jahr die Verleihung des neu gegründeten EHF-Awards. Damit möchten wir eine herausragende wissenschaftliche Leistung der vergangenen zwei Jahre auszeichnen.
Welche Vorträge erwarten Sie persönlich mit Spannung?
C. Lampl: Ich freue mich natürlich auf alle Vorträge, insbesondere weil wir in diesem Jahr eine ausgesprochen breite internationale Auswahl bieten können, auch über die Grenzen Europas hinaus. Inhaltlich stehen wir in der Migräneforschung derzeit an einer Schwelle, die viele Neuheiten in der Prophylaxe und Akuttherapie mit sich bringt. Darauf wollen wir selbstverständlich eingehen und diese Themen in den Vorträgen breit diskutieren. Darüber hinaus werden wir auch Aspekte aufgreifen, die in der Vergangenheit aus meiner Sicht unterrepräsentiert waren. Dazu zählen etwa die Frage der Lebensqualität oder auch der Leidensdruck zwischen Migräneanfällen, der sog. „interictal burden“.
Ist die Forschung aus dem deutschsprachigen Raum ebenfalls vertreten?
C. Lampl: Ja, das war ein großes Anliegen bei der Kongressplanung. Dafür haben wir eigens eine deutschsprachige Session eingerichtet, die die Österreichische Kopfschmerzgesellschaft inhaltlich gestalten wird. Das ist eine Novität, die vor allem für Österreich und die Schweiz als vergleichsweise kleine Länder die Möglichkeit bietet, ihre Stärke in der Forschung zu zeigen.
War Ihre Präsidentschaft mit ein Grund, weshalb der Kongress in Wien stattfinden wird?
C. Lampl: (lacht) – Als Präsident hat man nicht nur Pflichten, sondern auch gewisse Freiheiten. Für mich war vollkommen klar, dass der Kongress in meinem ersten Präsidentschaftsjahr in Wien stattfinden soll. Damit setzen wir ein Ausrufezeichen hinter die österreichische Forschung und können Wien und Österreich international präsentieren. Außerdem finde ich, dass Wien in seiner vorweihnachtlichen Stimmung als Kongressort bestens geeignet ist.
Welche Gelegenheiten bietet der Kongress speziell für junge Kolleg*innen?
C. Lampl: Da wir in der EHF im ersten Jahr meiner Präsidentschaft einen klaren Schwerpunkt auf die Edukation von jungen Kolleg*innen gesetzt haben, ist mir diese Frage besonders wichtig. Wir werden auf dem Kongress ein „Headache Juniors Forum“ gründen, wo sich junge Kolleg*innen, die sich für das Thema Kopfschmerz interessieren, während des Kongresses zusammenfinden, austauschen und zur gemeinsamen Diskussion treffen. Um das als dauerhafte Einrichtung zu etablieren, werden wir von der EHF auch die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen.
Welche weiteren Optionen bietet die EHF für junge Kolleg*innen außerhalb des Kongresses?
C. Lampl: Allen voran unsere „School of Advanced Studies“, kurz SAS. In diesem Rahmen veranstalten wir zweimal jährlich ein Meeting, zu dem wir Jungwissenschaftler*innen einladen. Unter dem Motto „Meet the Professor“ möchten wir sie ermuntern, an etablierte Wissenschaftler*innen heranzutreten, sich auszutauschen und ohne Scheu Fragen zu stellen. Außerdem bietet dieses Treffen die Gelegenheit, sich nicht nur zum Thema Kopfschmerz weiterzubilden, sondern auch wesentliche Skills für wissenschaftliches Arbeiten zu erlernen, etwa: Wie gelingt eine umfassende Literaturrecherche? Wie lese ich wissenschaftliche Arbeiten kritisch? Wie kann ich eigene Erkenntnisse publizieren?
Derzeit ist das SAS-Meeting noch auf europäische Teilnehmer*innen beschränkt, allerdings haben wir uns für das nächste Jahr vorgenommen, ein SAS-Meeting außerhalb Europas abzuhalten.
Welche anderen Themen beschäftigen Sie seit dem Antritt Ihrer Präsidentschaft im September 2021?
C. Lampl: Wir haben im vergangenen Jahr vor allem die Ausrichtung der Gesellschaft und ihrer Aufgabenbereiche umgestaltet, etwa den angesprochenen Schwerpunkt zur Aus- und Weiterbildung junger Ärzt*innen. Zudem sind wir aufgrund des Brexit dabei, den Sitz der Gesellschaft aus Großbritannien in die EU zu verlegen.
Eines meiner großen Anliegen und auch ein erster Erfolg war der Ausbau unserer internationalen Zusammenarbeit. Zum Beispiel konnten wir die Gründung der neurologischen Gesellschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten entscheidend unterstützen und daraus eine internationale „Headache Special Interest Group“ aufbauen. Auch die Interessenvertretungen der einzelnen europäischen Länder innerhalb der Gesellschaft konnten wir stärken und arbeiten als Vertreter*innen aus den unterschiedlichsten europäischen Ländern im Rahmen der EHF eng zusammen.
Gibt es Länder, von denen man in puncto Versorgung etwas lernen kann?
C. Lampl: Ich denke, man kann immer von anderen Ländern lernen. Jedoch sind die Gepflogenheiten der Verschreibungen und der Zugang zum Patienten in erster Linie ressourcenbestimmt. Nehmen wir beispielsweise Dänemark: Es gibt in Kopenhagen ein Kopfschmerzzentrum, in dem sich alle Neurologen nahezu ausschließlich dem Kopfschmerz widmen. Dagegen haben wir im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz an meiner Abteilung 120 Betten, die mit Patient*innen aus der gesamten neurologischen Bandbreite belegt sind. Daher stellt der Kopfschmerz bei uns nur einen kleinen Ausschnitt dar und die Zeit für diesbezügliche Wissenschaft und Forschung ist begrenzt.
Was ich im Gegensatz zu manchen Kolleg*innen nicht glaube, ist, dass wir von den USA am meisten lernen können. Auch dort kocht man sprichwörtlich „nur mit Wasser“. Aber wir können Schlüsse aus den US-amerikanischen „Real world“-Daten für unsere Patienten ziehen. Diese sind für uns von erheblicher Relevanz, da man in Amerika bei neuen Therapieoptionen deutlich progressiver ist, z.B. beim Einsatz von Opiaten.
Denken Sie, dass es für jeden Kopfschmerzpatienten und jeden Migräniker bereits die passende Therapie gibt?
C. Lampl: Ich gehe davon aus, dass wir mit dem Armamentarium, das wir derzeit sowohl in der Akuttherapie als auch in der Prophylaxe haben, eine bestmögliche individuelle Therapie anbieten können. Insofern würde ich die Frage mit Ja beantworten.
Im Sommer hat die EHF eine Guideline zu monoklonalen Antikörpern publiziert. Welche Projekte werden folgen?
C. Lampl: Wir arbeiten an einer Reihe von Publikationen. Derzeit befindet sich eine Guideline in Publikation, bei der wir definitorische Fragen aufgreifen und Klarheit bei der Unterscheidung von therapierefraktärer und -resistenter Migräne schaffen. Auch eine Publikation zu den verschiedenen Verschreibungsrestriktionen und Erstattungen der europäischen Länder ist geplant. Und dann kann ich noch verraten, dass wir auf dem Kongress eine weitere spannende Publikation präsentieren werden. Dazu aber mehr im Dezember in Wien!
Ich danke für das Gespräch und wünsche einen erfolgreichen Kongress!
Nehmen Sie teil am 16. EHF-Kongress
Der Kongress der European Headache Federation (EHF) findet in diesem Jahr vom 7. bis 10. Dezember in Wien und online statt! Auf dem Programm stehen neben der aktuellen Migräneforschung auch andere primäre und sekundäre Kopfschmerzursachen sowie deren Einfluss auf die Lebensqualität.
Zur Registrierung gelangen Sie hier: www.headache-congress.org/registration Für Kolleg*innen, die in der Ukraine leben oder aufgrund des Krieges fliehen mussten, gibt es die Möglichkeit einer kostenlosen Registrierung.
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