
Mechanische Thrombektomie bei Kindern und Jugendlichen
Autoren: Dr. Tomas Dobrocky1
Dr. Eike Piechowiak1
Dr. Sara Pilgram-Pastor1
Dr. Daniel Brechbühl2
PD Dr. David Seiffge3
Prof. Dr. Pasquale Mordasini1
Dr. Katarzyna Pospieszny1
PD Dr. Johannes Kaesmacher1
Prof. em. Dr. Maja Steinlin2
Prof. Dr. Jan Gralla1
1 Universitätsinstitut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie
2 Neuropädiatrie
3 Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital
Universitätsspital Bern
Korrespondierender Autor:
Dr. Tomas Dobrocky
E-Mail: Tomas.Dobrocky@insel.ch
Obwohl die Inzidenz des akuten ischämischen Schlaganfalls (AIS) bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen gering ist, sind die Auswirkungen unverhältnismäßig groß, da die meisten Patienten während ihrer verbleibenden Kindheit und im Erwachsenenalter mit körperlichen und kognitiven Behinderungen sowie sozialen und psychischen Problemen zu kämpfen haben.
Die Ätiologie des akuten schämischen Schlaganfalls (AIS) bei Kindern unterscheidet sich erheblich von jener bei Erwachsenen und ist oft multifaktoriell.1 Häufig resultieren AIS aus erworbenen Risikofaktoren (z.B. Infektion, Trauma) und einer genetischen Prädisposition.
Ohne auf diesen Punkt im Detail einzugehen, sind neben embolischen Verschlüssen (v.a. kardioembolisch) Arteriopathien eine weitere wichtige Ursache. Hierbei treten lokale (oft transiente) Gefäßveränderungen auf, welche sich radiologisch als Stenosen und/oder Gefäßverschlüsse präsentieren.
Abb. 1: Karotisendstrecken-Verschluss links bei 13-jährigem Patienten. Dilatative Kardiomyopathie unter Antikoagulation. Ejektionsfraktion ca. 10%. (A) CTA zeigt einen Verschluss im Carotis-T mit flauer, retrograder Kontrastierung der M2-Äste distal vom Verschluss über leptomeningeale Kollateralen. (B) Erstes Bild in der konventionellen Angiografie zeigt die fehlende Kontrastierung im M1-Segment der A. cerebri media (rote Pfeile) und eine flaue Kontrastierung im A1-Segment der A. cerebri anterior (schwarzer Pfeil). (C) Nicht subtrahiertes Bild nach temporärem Absetzen eines Stentretrievers (SR) im M1-Segment (distaler und proximaler Marker des SR mit rotem Pfeil markiert). (D) Erstes Bild nach Rückzug des SR zeigt ein offenes Carotis-T sowie die distalen Äste der A. cerebri media. (E) Vergrößerte Aufnahme weist leichte Spasmen im M1-Segment auf (violett), alle abgehenden lentikulostriatalen Äste sind jedoch offen
Anders als bei embolischen Verschlüssen, welche einer mechanischen Thrombektomie (MT) prinzipiell zugänglich sind, ist eine MT bei Arteriopathien nicht immer möglich und manchmal potenziell mit einem erheblichen interventionellen Risiko verbunden. Dies beruht auf der Tatsache, dass eine mechanische Manipulation in einem entzündlich veränderten Gefäßsegment eine lokale Thrombusbildung begünstigen und aufgrund erhöhter Vulnerabilität gar zu einer Gefäßruptur führen kann.
Mechanische Thrombektomieim zeitlichen Kontext
Die Behandlungsstrategie des AIS hat im Laufe der letzten Jahre einen rasanten Wandel durchgemacht. Zusätzlich zu der in den späten 1990ern aufkommenden intravenösen Thrombolyse (IVT) hat sich der endovaskuläre Ansatz zunehmend als ein zentraler Pfeiler der Schlaganfalltherapie etabliert.
Der breitere Einsatz der MT wurde initial durch die negativen Resultate von drei großen randomisierten Studien verzögert. Hierbei haben die ungeeignete Patientenselektion (kein Nachweis von einem Gefäßverschluss, Einschluss von Patienten mit Stroke-Mimickern) und der Einsatz von endovaskulären Tools der ersten Generation (z.B. Merci-Device) zu den inferioren Resultaten beigetragen. Die Notwendigkeit einer mechanischen Methode wurde jedoch durch Studien verdeutlicht, die zeigen konnten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die IVT ein Gefäß eröffnet, sehr stark von der Thrombuslänge abhängt und bei >8mm vernachlässigbar klein ist.
Der Durchbruch der endovaskulären Therapie (EVT) folgte um das Jahr 2015, als der Vorteil der MT + IVT gegenüber der IVT alleine in sieben großen, randomisierten Schlaganfallstudien gezeigt werden konnte.2–8 Diese hatten Patienten mit einem proximalen Verschluss der vorderen Zirkulation mit einem Mismatch-Areal (als Surrogat für eine große Penumbra) mit Devices der dritten Generation, sog. Stent-Retrievern (SR), behandelt. Dabei handelt es sich um Laser-geschnittene Stents, welche temporär am Ort des Verschlusses geöffnet werden und somit den Thrombus zwischen den Stent-Maschen und der Gefäßwand komprimieren. In einem zweiten Schritt wird der geöffnete SR mit dem Thrombus bis in den in der Arteria carotis interna (ACI) liegenden Führungskatheter zurückgezogen. Studien konnten zeigen, dass die zusätzliche, transiente Blutumkehr in der ACI mittels Ballon und Aspiration über den Führungskatheter zu superioren Rekanalisationsergebnissen führt.
Studienlage der mechanischen Thrombektomie bei Kindern
Im Gegensatz zur Studienlage bei Erwachsenen, bei denen heute eine solide Evidenz vorliegt (Level I), ist die Datenlage zur kindlichen Thrombektomie mangelhaft und basiert lediglich auf einzelnen Fallberichten und wenigen retrospektiven Kohortenstudien.9, 10 Dies beruht auf der niedrigen Inzidenz in dieser Altersgruppe und der Tatsache, dass Patienten <18 Jahren bei allen großen RCT ausgeschlossen worden sind. Die größte retrospektive Studie zum pädiatrischen Schlaganfall, die Save ChildS Study, hat 73 Kinder, die zwischen 2000 und 2018 von einer endovaskulären Rekanalisation profitiert haben, eingeschlossen.11 Bei insgesamt 27 partizipierenden Zentren ergibt dies eine Thrombektomierate von 4 Patienten/Jahr bzw. 0,15 Patienten/Zentrum/Jahr.
Ein SR wurde bei 60 Kindern (82%) eingesetzt, während bei 7 Kindern (10%) die Kontaktaspiration des Thrombus die primäre Methode der Wahl war. Lediglich bei 7 Eingriffen kamen aktuell nicht mehr gebräuchliche Thrombektomie-Tools zum Einsatz. Die erfolgreiche angiografische Reperfusion, definiert als Modified Treatment in Cerebral Infarction (mTICI) Score (≥mTICI 2b), gelang bei 62 von 71 Patienten (87%), davon bei 35 Patienten vollständig (mTICI 3). Abgesehen von transienten und unter Nimotop-Gabe reversiblen Vasospasmen traten keine periinterventionellen Komplikationen auf. Insbesondere wurde keine Gefäßdissektion, keine Gefäßruptur und keine lokale Komplikation im Bereich der femoralen Einstichstelle berichtet. Mit 1,4% lag die Rate an symptomatischen intrakraniellen Blutungen bei der ChildS-Studie unter jener der HERMES-Metaanalyse bei Erwachsenen (2,8%). Die meisten Kinder zeigten ein gutes neurologisches Outcome, wobei dieses zum Teil deutlich über jenem der positiven rendomisierten Studien bei Erwachsenen liegt.12 Dies ist primär durch die größere neuronale Plastizität im Kindesalter zu erklären.
Die Autoren konkludieren, dass das Sicherheitsprofil der MT bei Kindern mit jenem bei Erwachsenen vergleichbar ist und somit den Einsatz in der Therapie des kindlichen Schlaganfalls rechtfertigt.
Besonderheiten der mechanischen Thrombektomie bei Kindern
Zu den besonderen Herausforderungen bei Neurointerventionen bei Kindern und Jugendlichen zählen Minimierung der Strahlenexposition und der Kontrastmittel-Menge, Vermeidung von Komplikationen im Zugangsweg und Navigation der supraaortalen und intrakraniellen Gefäße. Im Vergleich zu den früheren Modellen ermöglichen die heutigen biplanen Angiografieanlagen aufgrund der modernen Detektortechnologie eine deutliche Strahlenreduktion.
Für eine weitere Strahlenersparnis können im Rahmen pädiatrischer Interventionen die Bildfrequenz und die Bildqualität reduziert werden (ALARA-Prinzip) und bei manchen Arbeitsschritten kann lediglich monoplan (d.h. mit einem Detektor) gearbeitet werden. Um den empfohlenen Grenzwert an Kontrastmittel von 6ml/kg nicht zu überschreiten, wird das KM in einem 1:1-Verhältnis mit einer sterilen Kochsalzlösung verdünnt.
Zur Vermeidung von lokalen Komplikationen im Bereich des femoralen Zugangs wird die Ultraschall-gezielte Punktion der A. femoralis communis mit einem Mikropunktionsset empfohlen. Im Gegensatz zu Erwachsenen, bei denen die Navigation der Halsgefäße aufgrund von Elongation und Tortuosität häufig eine Herausforderung darstellt und in seltenen Fällen sogar eine Karotis-Direktpunktion erfordert, verlaufen diese bei Kindern fast immer gestreckt und sind somit einfach sondierbar.
Bezüglich des Durchmessers des Zielgefäßes ist festzuhalten, dass die Zunahme des Kopfumfangs vorrangig in den ersten zwei Lebensjahren stattfindet und sich somit die Durchmesser der intrakraniellen Arterien danach kaum von denjenigen bei Erwachsenen unterscheiden. Außerdem sind für die MT von peripheren Verschlüssen bei Erwachsenen, welche oft einen Durchmesser von 0,5–1–5mmaufweisen, spezielle Tools (kleine Stent-Retriever) entwickelt worden, welche sich für den Einsatz bei kleineren Gefäßen bei Kleinkindern eignen.13,14
Zusammenfassung und Blick in die Zukunft
Die aktuelle Evidenz zur MT im Kindesalter beschränkt sich auf wenige retrospektive Studien mit geringen Fallzahlen, was die Forderung nach randomisierten Studien bekräftigt. Ist jedoch bei einer seltenen pädiatrischen Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit für schwerwiegende Spätfolgen bei gleichzeitig vorhandener effektiver Behandlungsmethode eine Randomisierung überhaupt ethisch? Vergleichbare randomisierte Studien zur MT bei Basilarisverschlüssen mussten bereits aufgrund von hohen Cross-over-Raten, langsamer Rekrutierung und ethischen Bedenken abgebrochen werden.15 Obwohl die MT in dieser Altersgruppe lediglich eine „Off-label“-Methode ist (und vielleicht bleibt), zählt sie aufgrund der hohen Rekanalisationsraten, gleichzeitig geringen Komplikationsraten und fehlenden Alternativen zu den zentralen Pfeilern der Schlaganfalltherapie.
Literatur:
1 Sporns PB et al.: Current treatment for childhood arterial ischaemic stroke. Lancet Child Adolesc Health 2021; 5: 825-32 2 Goyal M et al.: Randomized assessment of rapid endovascular treatment of ischemic stroke. N Engl J Med 2015; 372: 1019-30 3 Campbell BCV et al.: Endovascular therapy for ischemic stroke with perfusion-imaging selection. N Engl J Med 2015; 372: 1009-18 4 Berkhemer OA et al.: A randomized trial of intraarterial treatment for acute ischemic stroke. N Engl J Med 2015; 372: 11-20 5 Jovin TG et al.: Thrombectomy within 8 hours after symptom onset in ischemic stroke. N Engl J Med 2015; 372: 2296-306 6 Saver JL et al.: Stent-retriever thrombectomy after intravenous t-PA vs. t-PA alone in stroke. N Engl J Med 2015; 372: 2285-95 7 Mocco J et al.: Aspiration thrombectomy after intravenous alteplase versus intravenous alteplase alone. Stroke 2016; 47: 2331-8 8 Bracard S et al.: Mechanical thrombectomy after intravenous alteplase versus alteplase alone after stroke (THRACE): a randomised controlled trial. Lancet Neurol 2016; 15: 1138-47 9 Chabrier S et al.: Hyperacute recanalization strategies and childhood stroke in the evidence age. Stroke 2021; 52: 381-4 10 Buompadre MC et al.: Thrombectomy for acute stroke in childhood: a case report, literature review, and recommendations. Pediatr Neurol 2017; 66: 21-7 11 Sporns PB et al.: Feasibility, safety, and outcome of endovascular recanalization in childhood stroke: the Save ChildS Study. JAMA Neurol 2020; 77: 25-34 12 Goyal M et al.: Endovascular thrombectomy after large-vessel ischaemic stroke: a meta-analysis of individual patient data from five randomised trials. Lancet 2016; 387: 1723-31 13 Ho FLY, Chapot R: Removal of distal fragments of liquid embolic agents during arteriovenous malformation embolization using the TIGERTRIEVER 13: a technical report. J Neurointerv Surg 2020; 2: 1-4 14 Dobrocky T et al.: Stent retriever thrombectomy with mindframe capture LP in isolated M2 occlusions. Clin Neuroradiol 2018; available from: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30413830 15 Liu X et al.: Endovascular treatment versus standard medical treatment for vertebrobasilar artery occlusion (BEST): an open-label, randomised controlled trial. Lancet Neurol 2020; 19: 115-22