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Innovative Ansätze bei Diagnose und Therapie der Parkinsonerkrankung
Jatros
Autor:
Dr. Gabriele Senti
30
Min. Lesezeit
01.11.2017
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<p class="article-intro">Der Internationale Kongress zur Parkinsonkrankheit und zu Bewegungsstörungen versammelte zum 21. Mal Teilnehmer, die die neuesten Forschungsergebnisse und State-of-the-Art-Behandlungsmöglichkeiten bei Bewegungsstörungen diskutierten. Kliniker aus der ganzen Welt präsentierten in Vorträgen und Postern über 1500 wissenschaftliche Arbeiten für mehr als 3900 Ärzte und Forscher aus 89 Ländern.</p>
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<p class="article-content"><h2><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1705_Weblinks_26.jpg" alt="" width="1456" height="950" /></h2> <h2>Rückenmarkstimulation: neuer therapeutischer Ansatz für motorische Symptome</h2> <p>Dopaminerge Therapien und „deep brain stimulation“ (DBS) lindern motorische Symptome der Parkinsonkrankheit (PD), aber ihr positiver Effekt auf Gangdysfunktionen nimmt bei Fortschreiten der Krankheit ab. Ein Team von Forschern am London Health Sciences Center in London, Kanada, untersuchte insgesamt fünf männliche Patienten mit fortgeschrittener PD, die sich einer thorakalen Rückenmarkstimulation („spinal cord stimula­tion“, SCS) unterzogen hatten. Die Probanden erfüllten nicht die für die Genehmigung einer DBS notwendigen Kriterien und wiesen signifikante Gangstörungen, Einfrieren des Gangs („freezing of gait“, FOG) und Haltungsinstabilität auf. Im Studienablauf wurden verschiedene SCS-Einstellungen getestet und deren Auswirkung auf unterschiedliche Bewegungsabläufe untersucht. Die aktuelle Verfassung der Patienten wurde bei jeder Sitzung anhand verschiedener Analysemethoden (FOG-Fragebogen, Unified Parkinsonʼs Disease Rating Scale [UPDRS], Activity-specific Balance Confidence Scale [ABC], Parkinsonʼs Disease Questionnaire [PDQ-8]) ausgewertet.<br />Sechs Monate nach der Implantation gab es eine durchschnittliche Verbesserung von 39,4 % im UPDRS-Motor-Score, 26,8 % beim FOG-Fragebogen und 116,9 % im ABC-Score. Die mittlere Anzahl der FOG-Episoden sank signifikant von 16 vor Chirurgie auf 0, während die Patienten „on“ Levodopa und „off“ Stimulation waren. Darüber hinaus bestätigte die Studie die Sicherheit und Wirksamkeit der SCS zur Verringerung von Gangdysfunktionen bei Patienten mit fortgeschrittener PD.<br />Prof. Dr. Nir Giladi, Vorsitzender der Abteilung für Neurologie am Tel Aviv Medical Center, sagt: „Dies ist eine sehr interessante erste Beobachtung mit potenziell langfristigen Implikationen. FOG ist ein sehr beeinträchtigendes Symptom, das häufige Stürze verursacht und negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Patienten hat. Die Beobachtung, dass SCS FOG lindern und das Gehen verbessern könnte, gibt Hoffnung für viele Patienten, bei denen DBS nicht angewandt werden kann und die mit Medikamenten alleine nicht mehr auskommen. Weitere Studien sind allerdings erforderlich, um die Überlegenheit von SCS gegenüber Placebo zu demonstrieren.“</p> <h2>Anti-Tau-Antikörper bei progressiver supranukleärer Lähmung</h2> <p>BMS-986168 ist ein monoklonaler Antikörper, der menschliches extrazelluläres Tau-Protein (eTau) erkennt. Eine Studie von Ifran Qureshi und einem Team von US-Forschern beurteilte die Sicherheit und Wirksamkeit von BMS-986168 bei Patienten mit progressiver supranukleärer Lähmung (PSP). 48 Patienten erhielten im Abstand von 4 Wochen über einen Zeitraum von 12 Wochen ansteigende Dosen des Antikörpers als intravenöse Infusionen. Die Ergebnisse zeigen, dass BMS-986168 sicher und gut verträglich ist und eine deutliche Unterdrückung des freien eTau in der Zerebrospinalflüssigkeit von Patienten mit PSP bewirkt.<br />Prof. Dr. Werner Poewe, Vorsitzender der Abteilung für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck, erklärte: „Immuntherapien, die auf Proteine ausgerichtet sind, welche für die Neurodegeneration bei Parkinson oder atypischen Parkinsonerkrankungen wie PSP oder MSA von zentraler Bedeutung sind, sind ein vielversprechender Ansatz, um eine Krankheitsveränderung zu erreichen. Insbesondere haben Immuntherapien, die gegen das Tau-Protein gerichtet sind, vielversprechende Ergebnisse in transgenen Mausmodellen dieser Störung gezeigt. Der Bericht von Qureshi und Kollegen beschreibt die erste klinische Studie bei Patienten mit PSP unter Verwendung eines humanisierten monoklonalen Antikörpers gegen extrazelluläres Tau.“</p> <h2>Anti-α-Synuclein-Antikörper gegen PD</h2> <p>PRX002, ein investigativer monoklonaler Antikörper, könnte die Zell-zu-Zell-Übertragung von α-Synuclein hemmen und die Progression der Parkinsonkrankheit modifizieren. Eine Studie, geleitet von Joseph Jankovic und einem Team von Forschern am Baylor College of Medicine, untersuchte die Anwendung von PRX002 in einer doppelblinden, placebokontrollierten Phase-Ib-Dosis-Studie (mehrfach ansteigend). Die Patientengruppe bestand aus 80 überwiegend kaukasischen Männern mit leichter bis mäßiger PD. PRX002 war gut verträglich und zeigte eine schnelle dosis- und zeitabhängige Reduktion der Konzentration von α-Synuclein von bis zu 97 % nach einer einzigen Anwendung. Dieser Effekt konnte auch nach zwei zusätzlichen Applikationen in monatlichen Intervallen beobachtet werden. Eine Phase-2-Studie ist nun geplant, um PRX002 als krankheitsmodifizierende Behandlung für PD zu bewerten.<br />Prof. Dr. Anthony Lang, Direktor der Klinik für Bewegungsstörungen am Toronto Western Hospital, sagt: „Diese Studie berichtet über eine wichtige Entwicklung auf dem Gebiet der Parkinsonkrankheit. Es besteht ein beträchtliches Interesse an der Möglichkeit der passiven und aktiven Immunisierung bei der Behandlung von neurodegenerativen Erkrankungen. Die dafür eingesetzten Antikörper sind gegen Proteine gerichtet, von denen angenommen wird, dass sie zu Neurotoxizität und Zelltod führen. Das Potenzial dieser Behandlungen ergibt sich aus der von vielen Experten vertretenen Theorie, dass das Fortschreiten dieser Erkrankungen auf der Zell-zu-Zell-Übertragung fehlerhafter Proteine, im Falle der Parkinsonkrankheit α-Synuclein, beruht.“</p> <h2>Neue Einblicke durch Smartphone-Daten</h2> <p>Bislang unzugängliche Daten, die nunmehr per Smartphone gesammelt werden können, liefern täglich wichtige Einsichten in das Verhalten und die funktionalen Fähigkeiten von Patienten mit Parkinsonerkrankung. Ein Team von Forschern aus Basel, Schweiz, untersuchte das Potenzial für eine Smartphone-basierte Datenerhebung, die eine automatisierte, passive Überwachung von Gang und Mobilität bei PD-Patienten in einem frühen Stadium ermöglicht. Die klinische Studie analysierte für 24 Wochen 44 PD-Patienten in ihrer gewohnten Umgebung mit einer Smartphone-basierten Überwachung. Die Probanden führten in dieser Zeit rund um die Uhr ein Smartphone mit sich – in der Hosentasche oder in einer Hüfttasche –, welches kontinuierlich Messungen von Bewegung und Lage durchführte. Die Daten wurden in verschiedene Arten menschlicher Aktivitäten kategorisiert und mit den klinischen Daten der Studie verglichen. Insgesamt wurden mehr als 25 000 Stunden passive Überwachungsdaten gesammelt – die aus der Smartphone-basierten Technologie gewonnenen Ergebnisse waren überzeugend: Die erfassten Mobilitätsmuster korrelieren mit der Schwere der Erkrankung, gemessen anhand klinischer Goldstandards.<br />Alberto Espay, Associate Professor für Neurologie an der Universität von Cincinnati, über die Studie: „Diese Untersuchung ist von Interesse, auch wenn sie nur vorläufige Hinweise darauf liefert, dass Smartphones eine noch unerschlossene Quelle zusätzlicher Mobilitätsdaten von Parkinsonpatienten darstellen. Sie ist vor allem im Hinblick auf das Umfeld wichtig, in dem die Daten gesammelt werden – außerhalb einer Klinik oder eines Bewegungslabors.“ Und weiter: „Ein wichtiger Vorbehalt gegenüber passiver Datenerfassung ist allerdings, dass die Algorithmen in der Lage sein müssen, verschiedene Arten der Bewegung, beispielsweise absichtliche Bewegung im Vergleich zu Peak-Dosis-Dyskinesie oder diphasischen Dyskinesien, und verschiedene Arten von Ruhezuständen wie Sitzen und Lesen im Vergleich zu Schlummern zu unterscheiden.“</p> <h2>Länger selbstständig durch multidisziplinäre Rehabilitation</h2> <p>Ein multidisziplinäres Rehabilitationsprogramm kann die Unterbringung in einem Pflegeheim verzögern und die Gesamtkosten der Betreuung von Patienten mit PD reduzieren. Während die Krankheit fortschreitet, verlieren PD-Patienten typischerweise körperliche und kognitive Fähigkeiten, was ihr tägliches Leben beeinträchtigt und es ihnen schwieriger macht, unabhängig zu leben. An der Rehabilitationseinheit des Parkinson-Kompetenzzentrums (RU-PEC) in Groningen, Niederlande, wurde ein multidisziplinäres Programm mit einer „kundenspezifischen“ Ausrichtung und einer Optimierung der Medikamente entwickelt. In dieses Programm wurden 24 Patienten mit fortgeschrittener PD aufgenommen. <br />Die Studie ergab, dass insgesamt 83 % der Patienten nach der Teilnahme am RU-PEC-Programm nach Hause zurückkehren konnten. Nach 2 Jahren lebten 65 % und nach 5 Jahren 28 % noch immer unabhängig zu Hause. Darüber hinaus hatten 78 % der Patienten einen verbesserten ALDS-Score (im Durchschnitt 9,9 Punkte). Insgesamt verbesserte das Programm die Lebensqualität der Patienten und verzögerte die Pflegeheimeinweisung, was letztlich die Gesamtbetreuungskosten pro Patient reduzierte.</p></p>
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<p class="article-quelle">Quelle: 21<sup>st</sup> International Congress of Parkinson’s Disease and Movement Disorders, 4.–8. Juni 2017, Vancouver</p>
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