Herausforderungen im Management der Parkinsonerkrankung
Autorin:
Dr. med. Julia Müllner
Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern
E-Mail: Julia.Muellner@insel.ch
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Die «Swiss Parkinson App» bietet nicht nur Therapeut:innen, sondern vor allem auch Parkinsonbetroffenen und ihren Angehörigen eine Hilfestellung in ihrem oft herausfordernden Alltag. Zahlreiche Funktionen, wie Übungsvideos, Medikamentenplan oder Tagebuchfunktion, ermöglichen eine strukturierte und zielgerichtete Betreuung.
Parkinson ist nach Alzheimer die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung, rund 1% der über 65-Jährigen und etwa 2% der über 80-Jährigen sind betroffen. Doch Parkinson kann auch jüngere Menschen treffen, insbesondere wenn es sich um genetische Varianten der Parkinsonerkrankung handelt. Ursache ist ein progredienter Neuronenverlust, insbesondere der dopaminproduzierenden Neuronen der Substantia nigra. Die motorischen Symptome sind anfänglich gut medikamentös zu behandeln. Im späteren Verlauf nimmt die Anzahl der dopaminergen Neuronen jedoch weiter ab, wodurch es zu einer kürzeren Wirkdauer der Levodopa-Medikation und zum Auftreten von Dyskinesien kommt. Die Betroffenen merken das Nachlassen der Levodopa-Wirkung deutlich (sog. «wearing off») und es wird immer schwieriger, den Betroffenen eine kontinuierlich gute Beweglichkeit zu ermöglichen. Neben den motorischen Symptomen wird die Lebensqualität der Betroffenen häufig bereits vor Beginn der Bewegungsstörungen durch nichtmotorische Symptome beeinträchtigt.1 Hierzu gehören Schlafstörungen, vegetativ-autonome Störungen, psychiatrische Symptome und kognitive Veränderungen.2
Zusätzlich treten mit fortschreitender Erkrankung auch immer mehr Symptome in den Vordergrund, die nur unzureichend medikamentös zu therapieren sind.3 Hierzu zählen Gangstörungen, wie Freezing, Fehlhaltungen, Schmerzen, Dysphagie, Hypophonie und Dysarthrie, abnehmende Schutzreflexe, kognitive Probleme und Stürze.
Die Fähigkeit zum Erlernen von spezifischen Strategien zur Haltungskorrektur und Überwindung von z.B. Freezing nimmt jedoch mit dem Fortschreiten der Erkrankung ab. Eine rechtzeitige therapeutische Schulung ist daher sehr wichtig.
Ausserhalb der grossen Zentrumsspitäler sind jedoch die Kenntnisse darüber, wie den Herausforderungen insbesondere der fortgeschrittenen Parkinsonerkrankung begegnet werden kann, sehr heterogen (keine Subspezialisierung für Neurologen mit Schwerpunkt Bewegungsstörungen) und das Angebot von parkinsonspezifisch ausgebildeten Therapeut:innen ist insbesondere ausserhalb der städtischen Ballungsgebiete dünn (das Angebot des CAS Physiotherapie bei Parkinson an der Universität Basel besteht erst seit 2019).
Wie könnte man also die Gesundheitsfachpersonen für die Herausforderungen der Parkinsonerkrankung sensibilisieren und gleichzeitig die Betroffenen stärken? 2015 wurde das Berner Therapienetzwerk Parkinson gegründet, das sich seither im Raum Bern für eine bessere interprofessionelle Vernetzung, ein höheres Bewusstsein für die spezifischen Bedürfnisse von Parkinsonbetroffenen und eine höhere Versorgungsqualität im ambulanten Setting einsetzt.
Niederlande als Vorbild
Das Konzept der interprofessionellen Vernetzung ist mittlerweile gut etabliert, insbesondere die Niederlande sind hier mit der Plattform «ParkinsonNet» Vorreiter.4 Sie haben diese als Geschäftsmodell etabliert und unter anderem an Norwegen und Luxemburg verkauft. Sie konnten nachweisen, dass die interprofessionelle Vernetzung und die Erhöhung der Awareness für parkinsonspezifische Herausforderungen in der Therapie die Versorgungsqualität erhöht, Betroffene und Versorger zufriedener macht und sogar Hospitalisationen reduziert. Die Umsetzung des niederländischen Systems wäre in der Schweiz schwierig – einerseits aufgrund der hohen Kosten für das Produkt, andererseits aufgrund der Mehrsprachigkeit und der deutlich stärker föderalistisch geprägten Strukturen in der Schweiz. Aber wie könnte trotzdem eine Edukation von Betroffenen, Therapeut:innen und Angehörigen in drei Sprachen schweizweit gelingen? Mit einer Smartphone-App wäre es möglich, den Betroffenen relevante Informationen in die Hosentasche zu stecken und sie in ihrem Selbstmanagement zu bestärken.
In Untersuchungen zum Einsatz von Smartphone-Applikationen im ambulanten Care-Management von Parkinsonpatient:innen werden diese überwiegend als nützlich bewertet,5 jedoch gab es auf dem deutschsprachigen Markt bislang kein Produkt, welches umfassende Funktionen bot und auch die Bedürfnisse der Mehrsprachigkeit für den Schweizer Markt abdeckte.
Die «Swiss Parkinson App»
Funktionen der App
Symptomerfassung
Abb. 1: Die «Swiss Parkinson App» steht als kostenloser Download im Apple Store und Google Play Store zur Verfügung
Ein wichtiger Teil der Anamnese bei Parkinson beinhaltet Wirkungsschwankungen im Tagesverlauf, die Compliance bzgl. der Medikamenteneinnahme und Stürze. Bei der Konsultation können sich die meisten Betroffenen jedoch nur unzureichend erinnern, wodurch die anamnestischen Angaben meistens wenig präzise sind. Mit einer elektronischen Erfassung der Motorik lässt sich das von den meisten ungeliebte Bewegungstagebuch aus Papier ersetzen: Die Beweglichkeit wird täglich zu wechselnden Uhrzeiten jeweils einmal abgefragt. Bei der Erfassung über mehrere Wochen und Monate entsteht so ein gutes Bild der Beweglichkeit im Tagesverlauf, ohne dass die Betroffenen zu häufig von der App gestört werden.
Das Auftreten von Symptomen wie Schmerzen, Stürzen oder Freezing kann in einem Patientenjournal erfasst werden. In regelmässigen Erhebungen werden Parkinsonsymptome alle drei Monate systematisch erfasst. Die Fragen orientieren sich dabei an der MDS-UPDRS-Skala Teil I und II.6 Die Einträge im Bewegungsprotokoll und im Patientenjournal wie auch die Ergebnisse der regelmässigen, umfassenden Symptomerhebungen können der Gesundheitsfachperson weitergeleitet werden.
Medikationsplan
Ein Medikationsplan mit Erinnerungsfunktion kann die Compliance unterstützen und durch Abfrage der Einnahme ist es auch möglich, die Therapieadhärenz zu überprüfen. Die Medikamente lassen sich einfach über den Barcode auf der Packung einscannen.
Übungsvideos
Betroffene können mittels parkinsonspezifischer Übungsvideos (orientiert an: European Physiotherapy Guideline for Parkinson’s disease, developed with twenty European professional organisations) Eigentraining betreiben. Aus verschiedenen physiotherapeutischen und logopädischen Videos können Betroffene z.B. gemeinsam mit ihren Therapeut:innen ein Übungsprogramm erstellen, welches sie dann selbstständig zu Hause durchführen. Eine Erinnerungsfunktion kann bei der Therapieadhärenz unterstützen. Die Übungsvideos sind in Kategorien wie Kraft, Gleichgewicht und Koordination sowie nach Anspruchsniveau unterteilt.7
Die Übungsvideos können auch als Unterstützung für Therapeut:innen, die in ihrem Praxisalltag nur wenig Bezug zum Thema Parkinson haben, dienen. Die logopädischen Videos wurden in Zusammenarbeit mit der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik erstellt. Die physiotherapeutischen Videos wurden von Parkinson Schweiz zur Verfügung gestellt.
Entspannungsübungen
Bei der Stressbewältigung und auch beim Einschlafen können Entspannungsübungen (Bodyscan, Fantasiereise Baum) hilfreich sein.8
Cueing-Funktion
Mit einer Metronomfunktion, die auf akustische Signale oder Vibration eingestellt werden kann, werden Betroffene von Freezing durch einen externen Rhythmus und Stimulus bei der Überwindung des Freezings unterstützt.9
6-Minuten-Gehtest
Der 6-Minuten-Gehtest wird in der kardiopulmonalen und neurologischen Rehabilitation häufig eingesetzt, um die körperliche Belastbarkeit und Selbstständigkeit im Alltag einzuschätzen.10 Mittels Schrittzähler, GPS und Timer des Smartphones wird die in sechs Minuten zurückgelegte Strecke erfasst. Dies kann im Therapierahmen genutzt werden oder dient Betroffenen zur Selbstkontrolle. Für die sichere Erfassung des GPS-Signals sollte ein 6-Minuten-Gehtest ausserhalb von Gebäuden stattfinden.
Empowerment
Mit der App wollen wir das krankheitsspezifische Wissen bei den Betroffenen und ihren Angehörigen vermehren, sie im Therapiemanagement unterstützen sowie ihre Selbstwirksamkeit und Lebensqualität steigern.
Patient:innenedukation
Häufig ist die Informationsvermittlung in den Konsultationen für Betroffene zu schnell und zu dicht. Sie können sich oft nur einen Bruchteil merken. Die «Swiss Parkinson App» erklärt daher Symptome, Krankheitsverlauf und Therapie in laienverständlicher Sprache und hilft so, das Krankheitsverständnis zu erhöhen. Die Informationen liegen in allen Schweizer Landessprachen plus Englisch vor. Eine gute Patientenedukation kann das Krankheitsverständnis und dadurch die Compliance deutlich verbessern.11
Der Umfang der Symptome ist den Betroffenen und ihren Angehörigen oft nicht bewusst. So werden verminderter Antrieb, depressive Verstimmung, Verdauungs- und Blasenentleerungsstörungen von den Betroffenen häufig nicht als der Parkinsonkrankheit zugehörig verstanden und in der Konsultation nicht erwähnt. Gleichzeitig wurde in den letzten Jahren immer offensichtlicher, wie sehr die Berücksichtigung und Behandlung der nichtmotorischen Symptome zur Lebensqualität beitragen kann. Wir wollen daher mit der «Swiss Parkinson App» auf breiter Basis eine Möglichkeit schaffen, die Komplexität der Parkinsonerkrankung besser zu verstehen.
Unterstützung für Therapeut:innen
Die Videos zu parkinsonspezifischen Übungen dienen einerseits der Verstärkung des Eigentrainings der Betroffenen, andererseits können sie auch Therapeut:innen dabei unterstützen, ein spezifisches Trainingsprogramm gemeinsam mit den Betroffenen zu erstellen.
Entwicklung und Usability
Bei der Entwicklung der App bezogen wir regelmässig Betroffene mit ein, besprachen unser Projekt mit ihnen und fragten explizit nach ihren Bedürfnissen und Erwartungen an eine App. Wir stiessen hier auf offene Ohren und sehr viel Engagement. Insbesondere waren die technikaffinen Betroffenen eine sehr grosse Unterstützung, indem sie die ersten Versionen der «Swiss Parkinson App» regelmässig testeten und uns auf Fehlfunktionen und Schwierigkeiten bei der Nutzbarkeit hinwiesen.
Herausforderungen bei der Entwicklung
Wir mussten den Balanceakt zwischen den hohen Anforderungen und Erwartungen der digitalaffinen Nutzer:innen, dem begrenzten finanziellen Rahmen, den Datenschutzbestimmungen der Schweiz und der Nutzbarkeit der App auch für ältere Personengruppen schaffen.
Einige Anforderungen, welche aus medizinischer Sicht sinnvoll gewesen und auch von den Nutzer:innen gewünscht worden wären, waren daher leider nicht zu verwirklichen – aus unterschiedlichen Gründen. Die App sollte ja auf jedem Smartphone funktionieren, Bewegungsanalysen (z.B. Regelmässigkeit des Fingertappings) oder auch die Genauigkeit der Positionsmessung sind jedoch produktabhängig.
Eine stärkere Ausrichtung auf diagnostische Zwecke der App selbst (z.B. das Erfassen der Geschwindigkeit des Fingertippens auf dem Touchscreen) hätte einen wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit erfordert (siehe hierzu die Medizinprodukteregelung von SwissMedic unter: https://www.swissmedic.ch/swissmedic/de/home/medizinprodukte/regulierung-medizinprodukte.html ). Solch ein wissenschaftlicher Nachweis ist mit hohem Aufwand und hohen Kosten verbunden und war für uns als kleines Team mit begrenzten Mitteln kaum zu erfüllen. Nach juristischer Beratung haben wir uns entschieden, darauf zu verzichten. Leider zieht dies nun den Nachteil mit sich, dass die App nicht als Heilmittel verschrieben und somit nicht über OKP vergütet werden kann.
Schirmherrschaft und Finanzierung
Die «Swiss Movement Disorder Society» unterstützte das Vorhaben und übernahm die Schirmherrschaft für das Projekt. «Parkinson Schweiz» und die «Stiftung Philanthropia» erklärten sich zur Finanzierung der Entwicklung bereit.
Wir möchten, dass jeder Schweizer Parkinsonbetroffene die App kostenlos nutzen kann und verzichten daher auf Abonnements oder Downloadgebühren. Natürlich haben wir deshalb keine Einnahmen und sind somit für die Weiterentwicklung weiterhin auf Spenden angewiesen. Es war uns sehr wichtig, dass die Nutzer:innen den Inhalten und den Funktionen der App vertrauen können, weshalb wir grossen Wert darauf gelegt haben, dass die Finanzgeber der Applikation unabhängig sind, um das Vertrauen der Nutzer:innen nicht zu beeinträchtigen.
Literatur:
1 Poewe W: Non-motor symptoms in Parkinson’s disease. Eur J Neurol 2008; 15(Suppl 1): 14-20 2 Emre M et al.: Clinical diagnostic criteria for dementia associated with Parkinson‘s disease. Mov Disord 2007; 22(12): 1689-707 3 Church FC: Treatment options for motor and non-motor symptoms of Parkinson‘s disease. Biomolecules 2021; 11(4): 612 4 Ypinga JHL et al.: Effectiveness and costs of specialised physiotherapy given via ParkinsonNet: a retrospective analysis of medical claims data. Lancet Neurol 2018; 17(2): 153-61 5 Susmit T et al.: Clinical review of smartphone applications in Parkinson’s disease. Neurologist 2022; 27(4): 183-93 6 Goetz CG et al.: Movement Disorder Society-sponsored revision of the Unified Parkinson’s Disease Rating Scale (MDS-UPDRS): scale presentation and clinimetric testing results. Mov Disord 2008; 23(15): 2129-70 7 Ellis T et al.: Efficacy of a physical therapy program in patients with Parkinson’s disease: a randomized controlled trial. Arch Phys Med Rehabil 2005; 86(4): 626-32 8 Gan R et al.: The effects of body scan meditation: a systematic review and meta-analysis. Appl Psychol Health Well Being 2022; 14(3): 1062-80 9 Thaut MH et al.: Rhythmic auditory stimulation in gait training for Parkinson’s disease patients. Mov Disord 1996; 11(2): 193-200 10 Bean JF et al.: The 6-minute walk test in mobility-limited elders: what is being measured? J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2002; 57(11): M751-6 11 Grosset KA, Grosset DG: Effect of educational intervention on medication timing in Parkinson’s disease: a randomized controlled trial. BMC Neurol 2007; 7: 20
Das könnte Sie auch interessieren:
Asbestbedingtes Larynx- und Lungen-karzinom – Primär- oder Sekundärtumor?
Im Folgenden wird der Fall eines deutschen Facharbeiters vorgestellt, der während seiner Berufstätigkeit asbesthaltigen Stäuben ausgesetzt war und dadurch an einem Plattenepithelkarzinom ...
Alpha-1-Antitrypsin-Mangel: blinder Fleck auch in der Pneumologie?
Der Alpha-1-Antitrypsinmangel (AATM) gilt als seltene genetische Erkrankung und betrifft überwiegend die Lunge und die Leber,jedoch mithoher klinischer Variabilität. Doch AATM ist nicht ...
Sjögren-Syndrom: ein Update
Prof. Dr. Stephan Gadola, MD, PhD, gab im Rahmen der Webinar-Reihe von Rheuma Schweiz einen Überblick über aktuelle Diagnose- und Klassifikationskriterien des Sjögren-Syndroms (SjS), ...