
Genetische Diagnostik in der neuromuskulären Ambulanz
Autor:
Dr. Martin Krenn, PhD
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: martin.krenn@meduniwien.ac.at
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Das „next-generation sequencing“ hat die genetische Diagnostik von Grund auf verändert − auch bei neuromuskulären Erkrankungsbildern. Mittlerweile können 30% der Fälle geklärt werden, aber ein Großteil der Patient*innen bleibt weiterhin ohne genetische Diagnosesicherung. Bei welchen Konstellationen die genetische Diagnose erschwert sein kann und weshalb, wird im Folgenden diskutiert.
Neuromuskuläre Erkrankungen stellen sowohl klinisch als auch genetisch eine enorm heterogene Erkrankungsgruppe dar. Durch die zeitgleiche Sequenzierung aller 20000−25000 Gene des humanen Genoms, welche das „next-generation sequencing“ (NGS) ermöglichte, konnten einerseits neue Krankheitsgene identifiziert, andererseits aber auch die klinische Diagnoserate für Patient*innen mit neuromuskulären Erkrankungen wesentlich erhöht werden.
Während diese modernen Methoden kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert werden, besteht eine noch immer häufig unterschätzte Herausforderung in der Interpretation der generierten Datenmengen. Es ist dabei von besonderer Bedeutung, herauszufinden, welche genetischen Varianten (Mutationen) tatsächlich im Kontext eines bestimmten klinischen Bildes (Phänotyp) als kausal betrachtet werden können. Zu diesem Zweck wurden 2015 vom „American College of Medical Genetic and Genomics“ Richtlinien veröffentlicht, die dabei helfen sollen, genetische Varianten in einem diagnostischen Setting einheitlich zu beurteilen und zu interpretieren.1 Demnach sollten nur Fälle mit „wahrscheinlich pathogenen“ und „pathogenen“ Varianten in bekannten Krankheitsgenen als gelöst angesehen werden.
Der Umgang mit „Varianten unklarer Signifikanz“ (VUS) im klinischen Alltag wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Die stringente Klassifizierung von genetischen Varianten hat mitunter relevante Implikationen in Hinblick auf die Prognose, Therapie und Beratung von Angehörigen.
Wie hoch ist die diagnostische Ausbeute?
Es liegen zahlreiche Studien vor, die die diagnostische Trefferquote von NGS bei neuromuskulären Erkrankungen untersucht haben. Die Trefferraten hängen dabei wesentlich von der Patient*innenselektion und der verwendeten NGS-Methode ab. Je nach diagnostischem Labor unterscheiden sich die Methoden mitunter deutlich voneinander, auch wenn mittlerweile in den allermeisten Fällen NGS zur Anwendung kommt. Teilweise werden anhand des vorliegenden Phänotyps nur wenige Krankheitsgene untersucht (Gen-Panel), wohingegen andere Anbieter regelhaft gesamte Exome (alle codierenden Regionen des Genoms) oder sogar Genome (alle codierenden und nicht codierenden Regionen des Genoms) analysieren.
Eine Real-World-Studie mit einer klinisch heterogenen neuromuskulären Kohorte (u.a. Neuropathien, Myopathien, Motoneuronerkrankungen, spastische Paraparesen) erbrachte eine Trefferquote von 31% mittels diagnostischer Exomsequenzierung. Die gleiche Studie konnte auch zeigen, dass eine erneute klinische Beurteilung von unklaren Befunden (VUS) die diagnostische Ausbeute weiter erhöhen kann.2 In Arbeiten, die sich auf ausgewählte phänotypische Subgruppen beschränkten, findet sich allerdings eine größere Spannbreite. Beispielsweise zeigte sich eine diagnostische Trefferrate von 21% bei amyotropher Lateralsklerose,3 30% bei hereditären Neuropathien,4 31% bei spastischen Paraparesen5 und 52% bei Gliedergürteldystrophien.6
Diagnostische Fallstricke
Auch wenn die genetische Diagnostik in den letzten Jahren deutlich verbessert werden konnte, bleibt der Großteil der Patient*innen trotz der Anwendung von NGS nach wie vor ohne eine genetische Diagnosesicherung. Es gibt zahlreiche Konstellationen, die eine genetische Diagnose erschweren oder unmöglich machen können: Einerseits können komplexe klinische Bilder durch das Vorhandensein mehrerer genetischer Diagnosen in einem einzelnen Individuum erklärbar sein (duale Diagnose). In einer Exom-basierten Studie wurde ein derartiger Befund bei 5% aller genetisch gelösten Fälle gefunden.7
Andererseits können auch atypische klinische Präsentationen eine molekulare Diagnosesicherung erschweren. Beispielsweise verursachen Mutationen im Gen MFN2 in den allermeisten Fällen eine axonale, hereditäre Polyneuropathie, wobei in äußerst seltenen Fällen eine Paraspastik als führendes Symptom auftreten kann.8 In solchen Fällen führt ein Phänotyp-basiertes Gen-Panel nicht zur korrekten Diagnose, was wiederum als Argument für eine möglichst breit angelegte molekulargenetische Diagnostik, beispielsweise im Sinne eine Exom-Analyse, angesehen werden kann.
Mitunter kann die Diagnosestellung auch dadurch erschwert sein, dass das zugrunde liegende kausale Krankheitsgen bisher noch nicht identifiziert wurde bzw. noch nicht als gesichert angesehen werden kann. Als besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür gilt das Gen SORD, welches das wohl häufigste autosomal-rezessive Charcot-Marie-Tooth-Gen darstellt, jedoch erst im Jahr 2020 erstbeschrieben wurde.9
Darüber hinaus bleibt zu bedenken, dass ein Teil der Patient*innen, die zu einer genetischen Diagnostik zugewiesen werden, in Wahrheit an einer erworbenen (nicht hereditären) Erkrankung leiden. Der diesbezüglichen Ursachenabklärung muss daher selbstverständlich weiterhin eine zentrale Bedeutung zukommen, insbesondere wenn die momentan zur Verfügung stehende genetische Abklärung unauffällig bleibt. Von besonderer Bedeutung ist auch die Kenntnis der technischen Limitationen von NGS-Methoden. So sind die meisten Gen-Panels bzw. die Exomsequenzierung nicht imstande, Repeat-Expansionen (z.B. myotone Dystrophie), Deletionen bzw. Duplikationen (Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung 1A) und intronische Varianten zuverlässig zu erfassen. Zudem gilt es zu bedenken, dass auch pathogene Varianten in Genen mit stark sequenzhomologen Pseudogenen (z.B. spinale Muskelatrophie) nicht durch NGS diagnostizierbar sind.
Ausblick
Obwohl das letzte Jahrzehnt ohnehin schon enorme Fortschritte in der genetischen Diagnostik neuromuskulärer Erkrankungen mit sich gebracht hat, ist davon auszugehen, dass sich die diagnostischen Möglichkeiten für diese Erkrankungsgruppe auch weiterhin verbessern werden. Dies wird einerseits am besseren Verständnis der genetischen Architektur dieser Erkrankungen liegen, andererseits kommt es laufend zu methodischen Optimierungen, die eine Diagnosestellung im Falle einer monogenen Ätiologie erleichtern können. Es wurde bereits für diverse monogene Erkrankungen gezeigt, dass eine systematische, periodische Neuauswertung von bereits generierten Exomdaten die Trefferquote erhöhen kann.10 Es ist anzunehmen, dass dies auch bei neuromuskulären Erkrankungen zutreffend ist.
Des Weiteren werden in Zukunft auch vermehrt gesamte Genome sequenziert werden, wodurch vor allem genetische Ursachen in intronischen (nicht codierenden) Bereichen identifiziert werden können. Bei anderen neurologischen Erkrankungen (z.B. Epilepsien) hat sich dieser Ansatz bereits bewährt.11 Darüber hinaus deuten erste Forschungsergebnisse darauf hin, dass die technisch etwas komplexere Erweiterung auf Transkriptomebene (Sequenzierung von mRNA) auch speziell für neuromuskuläre Erkrankungen zusätzliche diagnostische Vorteile bietet.12
Fazit
NGS-Anwendungen haben die genetische Diagnostik zur Abklärung neuromuskulärer Erkrankungen in den letzten Jahren deutlich verbessert. Aktuell können etwa 30% der Fälle genetisch diagnostiziert werden, und es ist davon auszugehen, dass die diagnostische Ausbeute in naher Zukunft durch weitere Optimierungen relevant erhöht werden kann.
Literatur:
1 Richards S et al.: Standards and guidelines for the interpretation of sequence variants: a joint consensus recommendation of the American College of Medical Genetics and Genomics and the Association for Molecular Pathology. Genet Med 2015; 17: 405-24 2 Krenn M et al.: Genotype-guided diagnostic reassessment after exome sequencing in neuromuscular disorders: experiences with a two-step approach. Eur J Neurol 2020; 27: 51-61 3 Shepheard SR et al.: Value of systematic genetic screening of patients with amyotrophic lateral sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2021; 92: 510-8 4 Cortese A et al.: Targeted next-generation sequencing panels in the diagnosis of Charcot-Marie-Tooth disease. Neurology 2020; 94: e51-61 5 Mereaux JL et al.: Clinical and genetic spectra of 1550 index patients with hereditary spastic paraplegia. Brain 2022; 145: 1029-37 6 Topf A et al.: Sequential targeted exome sequencing of 1001 patients affected by unexplained limb-girdle weakness. Genet Med 2020; 22: 1478-88 7 Posey JE et al.: Resolution of disease phenotypes resulting from multilocus genomic variation. N Engl J Med 2017; 376: 21-31 8 Ando M et al.: Clinical and genetic diversities of Charcot-Marie-Tooth disease with MFN2 mutations in a large case study. J Peripher Nerv Syst 2017; 22: 191-9 9 Cortese A et al.: Biallelic mutations in SORD cause a common and potentially treatable hereditary neuropathy with implications for diabetes. Nat Genet 2020; 52: 473-81 10 Wenger AM et al.: Systematic reanalysis of clinical exome data yields additional diagnoses: implications for providers. Genet Med 2017; 19: 209-14 11 Palmer EE et al.: Diagnostic Yield of Whole Genome Sequencing After Nondiagnostic Exome Sequencing or Gene Panel in Developmental and Epileptic Encephalopathies. Neurology 2021; 96: e1770-82 12 Cummings BB et al.: Improving genetic diagnosis in Mendelian disease with transcriptome sequencing. Sci Transl Med 2017; 9(386): eaal5209
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