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Nutzen und Risiko - eine Übersicht

Endovaskuläre Schlaganfalltherapie

Die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) fand 2023 ganz in der Nähe der Schweiz und daher auch unter Beteiligung von Experten aus der Schweiz statt. Prof. Dr. Urs Fischer, Department für Neurologie am Universitätsspital Basel, erläuterte die Möglichkeiten und Limitationen der endovaskulären Thrombektomie mit und ohne vorangegangene Lysetherapie.

Patient*innen mit einem ischämischen Schlaganfall aufgrund eines Verschlusses grosser Gefässe sollen unverzüglich mittels Thrombolyse, gefolgt von einer Thrombektomie, behandelt werden. Diese Empfehlung basiert auf den Daten gross angelegter Studie, in denen gezeigt werden konnte, dass die endovaskuläre Thrombektomie im Vergleich zum Standard of Care bei Verschlüssen der Arteria carotis interna und der Arteria cerebri media signifikante Vorteile aufweist.1 Die „number needed to treat“ (NNT), um nach 90 Tagen die Behinderung um zumindest einen Punkt in der „modified Rankin Scale“ (mRS) zu reduzieren, liegt damit bei 2,6.

Aber auch für die Behandlung von Schlaganfällen aufgrund von Verschlüssen der Basilararterie mittels endovaskulärer Thrombektomie liegt gute Evidenz vor.2,3 Die Thrombektomie 6 bis 24 Stunden nach dem Ereignis resultierte in einem verbesserten funktionellen Outcome nach 90 Tagen. Fischer mahnt bei der Interpretation dieser Daten jedoch zur Vorsicht; einerseits, da beide Studien in China durchgeführt wurden, und andererseits, weil die Thrombolyseraten bei nur 32% respektive 18% lagen. Das Fazit aus diesen Arbeiten könnte daher lauten, dass die endovaskuläre Thrombektomie bei asiatischen Patient*innen mit moderaten bis schweren Defiziten, limitierten frühen ischämischen Veränderungen und begrenzten Thrombolyseraten funktioniert.

Grosse Schlaganfälle

Die endovaskuläre Therapie des akuten Schlaganfalls wird bei ausgedehnter Ischämie nicht empfohlen. Eine rezent publizierte Arbeit hat jedoch gezeigt, dass mittels endovaskulärer Thrombektomie das therapeutische Outcome auch bei Patient*innen mit niedrigem ASPECTS (Alberta Stroke Program Early Computed Tomographic Score), was Ausdruck für eine grosse Ausdehnung des ischämischen Areals ist, verbessert und dem Standard of Care überlegen ist.4 Allerdings war auch die Rate an intrakraniellen Blutungen bei Patient*innen mit endovaskulärer Thrombektomie erhöht. Diese Resultate wurden auch in der ANGEL-ASPECT-5 und der SELECT-2-Studie6 bestätigt. Auch hier macht Fischer darauf aufmerksam, dass, obwohl der Behandlungseffekt gross ist, ein relativ grosser Anteil an Patient*innen stirbt oder eine relevante Behinderung erleidet.

Thrombolyse und Thrombektomie

Heute ist es laut Fischer bereits möglich, Patient*innen mit einem Verschluss grosser Gefässe innerhalb von weniger als 15 Minuten nach Eintreffen im Spital einer Thrombektomie zuzuführen („door-to-groin time“). Dies wirft die Frage auf, welche Rolle die Thrombolyse bei Thrombektomie spielt und ob sie bei derartig kurzer „door-to-groin time“ überhaupt nötig ist. Für die Thrombolyse vor der Thrombektomie sprechen die bessere prä- und postinterventionelle Reperfusion sowie ein besseres Outcome, dagegen ist die Kombination mit einem erhöhten Blutungsrisiko und damit wiederum einem schlechteren Outcome assoziiert.7

Tab. 1: Vor- und Nachteile der Kombination von Thrombolyse/ Thrombektomie gegenüber der direkten mechanischen Thrombektomie bei großen Schlaganfällen (nach Fischer U et al., 2017)7

2016 publizierte die Arbeitsgruppe um Fischer eine Arbeit, in der die Outcomes von Patient*innen retrospektiv analysiert wurden, die entweder eine Bridging-Lyse vor der endovaskulären Thrombektomie erhalten hatten oder nicht.8 Dabei zeigt sich kein Unterschied zwischen den Behandlungsstrategien. Die mechanische Intervention alleine erwies sich als genauso effektiv wie die kombinierte Reperfusionsstrategie. In der Literatur finden sich sowohl Publikationen, die für eine Bridging-Lyse sprechen, als auch solche, die dagegen sprechen. Eine Metaanalyse dieser Studien, bei denen es sich um Beobachtungsstudien handelt, hat ebenfalls ergeben, dass kein Unterschied hinsichtlich des Outcomes zwischen diesen beiden Strategien besteht.9 Dieses Resultat könnte aber auch auf einer gewissen Patientenselektion in den Beobachtungsstudien basieren und der Vergleich erfolgte zwischen zwei Kohorten und nicht zwischen Behandlungen.

Inkonklusives Bild

In der SWIFT-DIRECT-Studie sollte in randomisiert-kontrollierte Weise untersucht werden, ob Schlaganfallpatient*innen mit einem Verschluss eines grossen Gefässes, die direkt in ein Stroke Center kommen und mit einer direkten Thrombektomie behandelt werden, ein vergleichbares Therapieergebnis aufweisen wie Patient*innen mit einer Kombination aus Lyse und Thrombektomie.10

In der Studie kamen die Daten von 408 Patient*innen aus 48 Zentren, die im Verhältnis 1:1 randomisiert wurden, zur Auswertung. Primärer Endpunkt war der mRS-Score nach 90 Tagen. 57% der Patient*innen mit direkter mechanischer Thrombektomie erreichten nach 90 Tagen einen mRS-Core von 0–2, während es in der Kombinationsgruppe 65% waren. Damit wurde das Nichtunterlegenheitskriterium für die Thrombektomie zwar nicht erreicht, die Überlegenheit der Kombinationstherapie konnte allerdings auch nicht nachgewiesen werden.

Ein ähnliches Bild gaben weitere Vergleichsstudien zwischen endovaskulärer Thrombektomie und Kombinationsstrategie, bei denen die Nichtunterlegenheit der alleinigen Thrombektomie sowohl nachgewiesen11,12 als auch nicht nachgewiesen wurde.13,14 Um die Aussagekraft dieser Studie zu verbessern, wurden die Daten in eine Datenbank der IRIS(„Improving Reperfusion strategies in Ischemic Stroke“)-Kollaboration eingespeist und analysiert. Zur Auswertung standen nun die Daten von 2314 Patient*innen aus 190 Zentren in 15 Ländern zur Verfügung. Wiederum gelang es nicht, das Nichtunterlegenheitskriterium für die endovaskuläre Thrombektomie zu erfüllen. Ein Vorteil für eine Lyse vor der Thrombektomie bestand allerdings nur in einem geringen Ausmass von rund 2%. Fischer schliesst daraus, dass die Thrombektomie den grössten Behandlungseffekt und die Lyse in dieser Situation nur einen geringen Einfluss hat. Die Kombinationsbehandlung bleibt aus rein historischen Gründen die Standardtherapie, ist aber nicht besser als die alleinige Thrombektomie. Diese Erkenntnisse bieten allerdings die Chance, die Therapie zu individualisieren, etwa auf Basis des Blutungsrisikos der Patient*innen.

Inkomplette Reperfusion

Die Qualität der Reperfusion ist ein wichtiger prädiktiver Faktor für das Outcome nach Schlaganfall. So ist ein Reperfusionsergebnis von TICI („Thrombolysis In Cerebral Infarction“) ≥2b das therapeutische Ziel der Reperfusionsmassnahmen. In einer Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass bei Erreichen von TICI 3 verglichen mit TICI 2b der Vorteil im mRS nach 90 Tagen 20% beträgt.15

Wie eine Studie gezeigt hat, lässt sich die Reperfusion nach fehlgeschlagener oder inkompletter mechanischer Thrombektomie durch die intraarterielle Gabe von Urokinase erreichen.16 Da es sich bei dieser Arbeit nur um eine observationelle Kohortenstudie handelt, hat die Arbeitsgruppe um Fischer nun die TECNO-Studie aufgesetzt, in der Sicherheit und Wirksamkeit von intraarteriell applizierter Tecnecteplase bei inkompletter Reperfusion intrakranieller Verschlüsse evaluiert wird.17

Fazit

Die endovaskuläre Schlaganfalltherapie hat eine Revolution in der Geschichte der Neurologie ausgelöst. Trotz grosser Fortschritte leiden allerdings immer noch viele Patient*innen an relevanten Defiziten. Daher sind neue Therapiekonzepte nötig, um die Reperfusion und Neuroprotektion zu verbessern.

20. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN), 22.–24. März 2023, Bregenz

1 Goyal M et al.: Lancet 2016; 387(10029): 1723-31 2 Tao C et al.: N Engl J Med 2022; 387(15): 1361-72 3 Jovin TG et al.: N Engl J Med 2022; 387(15): 1373-84 4 Yoshimura S et al.: N Engl J Med 2022; 386(14): 1303-13 5 Huo X et al.: N Engl J Med 2023. Online ahead of print 6 Sarraj A et al.: N Engl J Med 2023. Online ahead of print 7 Fischer U et al.: Stroke 2017; 48(10): 2912-8 8 Broeg-Morvay A et al.: Stroke 2016; 47(4): 1037-44 9 Kaesmacher J et al.: J Neurointerv Surg 2019; 11(1): 20-7 10 Fischer U et al.: Lancet 2022; 400(10346): 104-15 11 Yang P et al.: N Engl J Med 2020; 382(21): 1981-93 12 Zi W et al.: JAMA 2021; 325(3): 234-43 13 Mitchell PJ et al.: Lancet 2022; 400(10346): 116-25 14 LeCouffe NE et al.: N Engl J Med 2021; 385(20): 1833-44 15 Kaesmacher J et al.: J Neurol Neurosurg Psychiatry 2018; 89(9): 910-7 16 Kaesmacher J et al.: JAMA Neurol 2020; 77(3): 318-26 17 Kaesmacher J et al.: ClinicalTrials.gov Identifier: NCT05499832

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