
Diagnose von Schwindelsyndromen
Autor:
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. h.c Michael Strupp
Neurologische Klinik und Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum
Campus Grosshadern
Klinikum der LMU München
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Der Schwindel ist ein Leitsymptom verschiedener Erkrankungen und unterschiedlicher Ätiologien. Im folgenden Artikel sind die einzelnen Schritte zur diagnostischen Einordnung sowie die Klassifizierung der Schwindelformen zusammengefasst.
Epidemiologie und Ursachen
Schwindel ist nach Kopfschmerz das zweithäufigste Leitsymptom, nicht nur in der Neurologie. In einer bevölkerungsbezogenen Studie lag die Lebenszeitprävalenz für mittelstarken bis heftigen Schwindel bei 29,5%.1 Wie eine Befragung von über 30000 Personen zeigte, liegt die Prävalenz von Schwindel in Abhängigkeit vom Alter zwischen 17% (bei Jüngeren) und 39% (bei den über 80-Jährigen);2 die in der Literatur dazu angegebenen Zahlen hängen auch von der jeweiligen Fachdisziplin ab.3 Die jährliche Inzidenz liegt bei ca. 11% und Betroffene haben gegenüber Nichtbetroffenen eine 1,7-fach höhere Mortalität.4
Es ist zu betonen, dass es sich bei Schwindel nicht um eine Krankheitseinheit, sondern ein Leitsymptom verschiedener Erkrankungen unterschiedlicher Ätiologie handelt. Es lassen sich drei Formen unterscheiden: (1) Störungen, die vom peripheren vestibulären System (Innenohr oder Gleichgewichtsnerv) oder vom zentralen vestibulären System (Hirnstamm oder Kleinhirn) ausgehen; (2) funktioneller Schwindel, wie der phobische Schwankschwindel, und (3) andere Ursachen wie Blutdruckregulationsstörungen, orthostatischer Schwindel5 oder unerwünschte Wirkungen von Medikamenten; die letztere Gruppe wird meist überschätzt. Isolierte Polyneuropathien oder reduzierter Visus werden oft fälschlich als Ursache angenommen; sie führen meist zu einer Gangunsicherheit. Aktuelle Übersichten finden sich in Strupp M et al.: Vestibular disorders6 undStrupp M et al.: Vertigo – Leitsymptom Schwindel.7
Diagnosestellung
Anamnese
Die meisten Schwindelsyndrome lassen sich nach sorgfältiger Anamnese und körperlicher Untersuchung auch ohne apparative Zusatzuntersuchung diagnostisch korrekt einordnen.8, 9
Die vier wichtigen Unterscheidungskriterien der verschiedenen Schwindelsyndrome sind die Dauer der Symptome, die Art des Schwindels, Auslöser und Modulatoren des Schwindels sowie Begleitsymptome.
Dauer der Symptome
Schwindelattacken erstrecken sich über Sekunden bis wenige Minuten, z.B. im Rahmen von benignem peripherem paroxysmalem Lageschwindel (BPPV), Vestibularisparoxysmie, Syndromen des dritten mobilen Fensters (Bogengangsdehiszenz, knöcherner Defekt des meist anterioren Bogengangs), paroxysmalen Hirnstammattacken, orthostatischer Dysregulation, transitorischer ischämischer Attacke (TIA), oder über viele Minuten bis Stunden, z.B. bei Morbus Menière, vestibulärer Migräne, episodischen Ataxien. Die Schwindelattacken beruhen meist auf einer pathologischen einseitigen Hemmung oder Erregung des bilateral angelegten peripheren oder zentralen vestibulären Systems.
Akut einsetzende Symptome können auch über Tage bis wenige Wochen anhalten (z.B. akute einseitige Vestibulopathie, Hirnstamm- oder Kleinhirninfarkt). Diese Symptome werden durch eine meist einseitige periphere oder zentrale Läsion verursacht. Pathophysiologisch lassen sich die Symptome durch eine vestibuläre Tonusimbalance erklären, die über Tage bis wenige Wochen zentral kompensiert wird.
Schliesslich können Symptome auch über Monate bis Jahre anhalten, beispielsweise bei bilateraler oder chronischer unilateraler Vestibulopathie, funktionellem (somatoformem) Schwindel, neurodegenerativen Erkrankungen wie zerebellären Ataxien, Downbeat-Nystagmussyndrom, Multisystematrophie, Parkinsonsyndrom oder Normaldruckhydrozephalus. Diese Symptome werden bei einer peripheren vestibulären Läsion durch das sensorische Defizit verursacht, bei funktionellem Schwindel durch die permanente Selbstbeobachtung der Balance und bei zentralen Erkrankungen durch Störungen der Koordination.
Art des Schwindels
Hier unterscheidet man drei Arten. Der Drehschwindel erinnert an Karussellfahren (z.B. bei BPPV, akuter einseitiger Vestibulopathie). Typischerweise entsteht isolierter Drehschwindel wie bei einem BPPV durch eine Störung der Funktion der Bogengänge, da diese Drehbeschleunigungen detektieren, oder durch die Störung des vestibulären Nervs oder Kerngebietes.
Der Schwankschwindel ähnelt dem Gefühl beim Bootfahren (z.B. bei bilateraler Vestibulopathie, posttraumatischem Otolithenschwindel oder funktionellem Schwindel). Ein sensorisches Defizit manifestiert sich als bewegungsabhängiger Schwankschwindel. Isolierter Schwankschwindel findet sich auch beim posttraumatischen Otolithenschwindel, aber auch nach erfolgreichen Befreiungsmanövern beim BPPV durch die partielle Reposition der Otokonien auf den Utrikulus.10
Schliesslich kann sich der Schwindel auch als Benommenheitsschwindel äussern (z.B. funktioneller Schwindel oder unerwünschte Medikamentenwirkung).
Auslöser und Modulatoren von Schwindelsymptomen
Schwindel kann bereits in Ruhe vorhanden sein oder spontan auftreten (z.B. akute einseitige Vestibulopathie, Hirnstamm- oder Kleinhirninfarkt, Morbus Menière, Vestibularisparoxysmie). Die Symptome werden durch die vestibuläre Tonusimbalance verursacht und verstärken sich bei Bewegung. Schwindel kann ebenso beim Gehen auftreten (z.B. bilaterale oder chronische einseitige Vestibulopathie, funktioneller Schwindel). Die Beschwerden beruhen dabei auf dem sensorischen Defizit, wobei diese Patienten typischerweise keine Symptome in Ruhe im Liegen und Sitzen haben; dies ist eine wichtige Frage zur Differenzialdiagnose.
Schliesslich kann Schwindel auch ausgelöst werden durch:
-
Kopflageänderung relativ zur Schwerkraft (z.B. BPPV oder zentraler Lagenystagmus),
-
horizontale Kopfdrehungen (z.B. Vestibularisparoxysmie, «vertebral artery compression/occlusion syndrome»),
-
Husten, Pressen, Niesen oder Heben schwerer Lasten (Syndrome des 3. mobilen Fensters) oder
bestimmte soziale Situationen wie Menschenmengen, Kaufhaus (z.B. funktioneller Schwindel).
Eine Besserung der Symptome nach leichtem Alkoholgenuss, beim Sport, bei Ablenkung und kaum oder wenige/keine Symptome morgens nach dem Aufwachen11 sind typisch für funktionellen Schwindel.12
Mögliche Begleitsymptome
Die Begleitsymptome des Schwindels können vielfältig sein:
-
«Otogene» Symptome: z.B. attackenartig verstärkter Tinnitus oder Hypakusis, die für einen M. Menière sprechen, aber auch seltener bei Hirnstammischämien auftreten können. Eine Autophonie, d.h. verstärktes Hören körpereigener Geräusche, findet sich beim Bogengangsdehiszenzsyndrom.
-
Potenzielle Hirnstammsymptome wie Doppelbilder, Gefühlsstörungen im Gesicht oder an den Extremitäten, Schluck-, Sprechstörungen, Lähmungen oder Feinmotorikstörungen (diese Symptome deuten auf eine zentrale Läsion, meist im Hirnstamm, hin)
-
Episodischer Kopfschmerz und/oder Licht- oder Lärmempfindlichkeit, visuelle Aura zusammen mit den Schwindelbeschwerden oder bekannte Migräne: Diese deuten auf eine vestibuläre Migräne hin. Kopfschmerz kann natürlich aber auch bei einer Hirnstammischämie oder Blutungen in die hintere Schädelgrube auftreten.
-
Scheinbewegungen der Umgebung (sog. Oszillopsien): Diese finden sich spontan bei Patienten mit Nystagmus (Ausnahme: kongenitaler/infantiler Nystagmus) oder beim Gehen und bei Kopfbewegungen bei Patienten mit bilateraler Vestibulopathie aufgrund des VOR-Defizits (VOR: vestibulo-okulärer Reflex).
Übelkeit, Erbrechen: Hierbei handelt es sich um unspezifische Begleitsymptome, die bei akuten peripheren oder auch zentralen vestibulären Störungen, aber selten auch bei funktionellen Störungen vorkommen können

Abb. 1: Klinische Untersuchung mittels der M-Brille: neues leichtes (8 g) mittels der elastischen Bügel an der Nase selbständig sitzendes Untersuchungsinstrument mit vergrößernden Fresnel-Linsen (+20 dpt.) (13). Diese verhindern die visuelle Fixation, die typischerweise einen Spontannystagmus unterdrückt (visuelle Fixationssuppression). Ferner erleichtern diese die Beobachtung der Augenbewegungen des Patienten auch ohne innere Beleuchtung7
Körperliche Untersuchung
Untersuchung des vestibulären Systems
Hierbei kommen die folgenden Methoden zum Einsatz:
Untersuchung auf einen peripheren vestibulären Spontannystagmus mittels Frenzelbrille oder M-Brille13 (Abb. 1). Dies ermöglicht auch eine Differenzierung zum zentralen Fixationsnystagmus. Ein Nystagmus, der sich durch visuelle Fixation nicht unterdrücken lässt, ist kein peripherer vestibulärer Spontannystagmus (Übersicht in Halmagyi GM et al., 2020).14
Kopfimpulstest nach Halmagyi-Curthoys mit der Frage nach einem ein- oder beidseitigen Funktionsdefizit des VOR (Abb. 2) oder, wenn möglich, Video-Kopfimpulstest (vHIT, s.u.), der der klinischen Untersuchung deutlich überlegen ist.15
Untersuchung auf das Vorliegen der möglichen Komponenten einer «ocular tilt reaction»:
-
Kopfverkippung (diese findet sich aber auch bei einer Trochlearisparese mit Beugung zur gesunden Seite)
-
vertikale Divergenz der Augen (sog. «skew deviation») mit dem alternierenden Abdecktest. Eine vertikale Divergenz findet sich praktisch nur bei zentralen Läsionen, aber nicht alle zentralen Läsionen gehen mit einer vertikalen Divergenz einher; die Häufigkeit bei akuten Hirnstamminfarkten liegt bei 30%.16, 17
-
Auslenkung der subjektiven visuellen Vertikalen (SVV) mittels des «Eimertests»:18 Dies ist ein empfindlicher Test auf eine akute einseitige vestibuläre Läsion,19 differenziert aber nicht zwischen peripheren und zentralen Störungen.
-
Lagerungsmanöver mit der Frage nach einem BPPV oder einem zentralen Lagerungs-/Lagenystagmus. Wichtigstes Unterscheidungskriterium zwischen den beiden ist die Richtung des ausgelösten Nystagmus:20 Bei einem BPPV entspricht die Richtung des Nystagmus der Ebene des betroffenen Bogengangs: vertikal-torsionell beim posterioren Kanal, linear-horizontal beim horizontalen Bogengang. Bei einem zentralen Lagerungsnystagmus findet sich in unterschiedlichen Kopfpositionen eine jeweils sehr ähnliche Nystagmusrichtung, meistens in Form eines Downbeat-Nystagmus.
Untersuchung des Stand- (Romberg- Test) und Gehvermögens mit offenen und geschlossenen Augen und verschiedenen Schwierigkeitsgraden (Füsse nebeneinander, Tandem-Romberg, Stehen auf einem Bein), insbesondere mit der Frage nach sensorischen Defiziten vor allem des vestibulären Systems.
Abb. 2: Klinische Untersuchung des horizontalen vestibulo-okulären Reflexes (VOR).22 Zur Prüfung des horizontalen VOR hält man den Kopf des Patienten zwischen beiden Händen, bittet ihn, ein Ziel zu fixieren, und führt schnelle horizontale Kopfbewegungen nach rechts und links durch. Beim Gesunden führen diese Kopfrotationen zu raschen entgegengesetzten kompensatorischen Augenbewegungen (die die gleiche Geschwindigkeit haben wie die Kopfbewegung, sodass das Bild auf der Retina stabil bleibt) (A). Bei einseitigem Labyrinthausfall (in B am Beispiel des Ausfalls des rechten horizontalen Bogengangs erläutert) bewegen sich die Augen bei Kopfrotationen zur betroffenen Seite mit dem Kopf mit. Der Patient muss deshalb eine Sakkade machen, um das Ziel wieder fixieren zu können. Diese Refixationssakkade ist das klinische Zeichen für ein Defizit des vestibulo-okulären Reflexes (VOR). Auf diese Weise können ein- und beidseitige Störungen des VOR einfach diagnostiziert werden. In (C) ist die Untersuchungssituation dargestellt7
Testung des Hörvermögens und Otoskopie
Klinisch kann dies durch Reibegeräusche und mittels Stimmgabel im Seitenvergleich erfolgen. Bei Verdacht auf eine Störung ist insbesondere für die Diagnose eines M. Menière eine audiometrische Testung erforderlich; bei Letzterem wird eine Hörminderung unter 2000 Hz für die Diagnosestellung gefordert.21 Berichten Patienten über Ohrenschmerzen, ist eine Otoskopie indiziert.
Schon allein durch die Kombination von Anamnese und körperlichen Befunden lässt sich in den meisten Fällen die richtige Diagnose stellen, zumal die diagnostischen Kriterien auf diesen Informationen beruhen.
Eine Unterscheidung zwischen akutem peripherem und akutem zentralem Schwindel ist meist mittels vier klinischer Zeichen mit einer Sensitivität und Spezifität von über 90% möglich:
Vertikale Divergenz («skew deviation»)
Zentraler Fixationsnystagmus (vs. peripheren vestibulären Spontannystagmus)
Blickrichtungsnystagmus entgegen der Richtung des Spontannystagmus
Normaler Kopfimpulstest bei akutem Schwindel und Nystagmus17
Die häufigsten Schwindelformen
Periphere vestibuläre Schwindelsyndrome
Anatomisch, pathophysiologisch und funktionell lassen sich drei Formen peripherer vestibulärer Störungen mit typischen Symptomen und klinischen Zeichen differenzieren (Übersicht in Strupp M et al.)23:
-
Funktionsminderung/-ausfall beidseitig des Nervus vestibularis und/oder der Vestibularorgane: bilaterale Vestibulopathie (BVP) mit der Übergangsform zur normalen Funktion, der Presbyvestibulopathie,24
-
akute unilaterale Vestibulopathie (AUVP)/Neuritis vestibularis, die sich als akutes peripheres vestibuläres Syndrom (APVS) manifestiert und
paroxysmale pathologische Erregungen des Nervus vestibularis und/oder der Vestibularorgane (BPPV, Morbus Menière (zunächst Exzitation, dann Inhibition), Vestibularisparoxymie (VP), Syndrome des dritten mobilen Fensters, insbesondere die Bogengangsdehiszenz («superior canal dehiscence syndrom [SCDS]) oder seltener Hemmung.
Bilaterale Vestibulopathie (BVP)
Die aktuellen diagnostischen Kriterien25 sind bei der bilateralen Vestibulopathie:
chronisches vestibuläres Syndrom mit mindestens zwei der folgenden Symptome:
-
Unsicherheit beim Gehen oder Stehen
-
bewegungsinduziertes unscharfes Sehen oder Oszillopsien beim Gehen oder bei schnellen Kopfbewegungen
-
Verschlechterung des Schwankschwindels in der Dunkelheit und/oder auf unebenem Boden
-
Keine Symptome beim Sitzen oder Liegen unter statischen Bedingungen
Bilateral reduzierte/fehlende Funktion des VOR dokumentiert durch bilateral pathologischen vHIT für den horizontalen Bogengang (Verstärkungsfaktor des VOR <0,6) und/oder bilateral reduzierte kalorische Erregbarkeit (Summe der Geschwindigkeit des kalorisch induzierten Nystagmus bds. <6°/s)
Nicht besser durch eine andere Krankheit erklärbar
und bei der wahrscheinlichen bilateralen Vestibulopathie
1, 2, 4: wie oben
3: bds. pathologischer Bedside-Kopfimpulstest für den horizontalen Bogengang
Für die Diagnosestellung einer BVP ist eine quantitative Testung der vestibulären Funktion erforderlich, da der Bedside-Kopfimpulstest eine geringe Sensitivität und Spezifität hat,15 ansonsten kann man nur eine wahrscheinliche BVP diagnostizieren.
Akute unilaterale Vestibulopathie (AUVP, Neuritis vestibularis)
Die AUVP26 ist gekennzeichnet durch:
-
akut einsetzenden, ohne Therapie >24 h anhaltenden Drehschwindel, mit Oszillopsien, Fallneigung und Übelkeit
-
einen horizontal-torsionellen Spontannystagmus mit schneller Komponente zur mutmasslich nicht betroffenen Seite, durch Fixation supprimierbar
-
eine einseitige peripher-vestibuläre Funktionsstörung des VOR: vHIT-Verstärkungsfaktor <0,7 und/oder Seitendifferenz der kalorischen Prüfung >25% (nach Jongkees-Formel)
-
pathologische Einstellung der subjektiven visuellen Vertikalen zur Seite des betroffenen Labyrinths
keine zentrale Zeichen oder Hinweise für eine akute Hörstörung
Die Erkrankung wird auch Neuritis, Neuronitis oder Neuropathia vestibularis genannt. Der Terminus «akute unilaterale Vestibulopathie (AUVP)26 wurde vorgeschlagen, weil eine entzündliche Genese (s.u.) wahrscheinlich, aber nicht sicher belegt ist und den o.g. typischen Symptomen nicht immer zugrunde liegen muss.
Beim akuten vestibulären Syndrom (AVS) ist die wichtige Differenzialdiagnose zur AUVP eine zentrale Läsion im Bereich von Hirnstamm oder Kleinhirn (s.u.), die eine AUVP imitieren kann.
Benigner peripherer paroxysmaler Lageschwindel (BPPV)
Der BPPV ist die häufigste Schwindelform, vor allem im höheren Alter. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 2,4%.1 Die diagnostischen Kriterien des posterioren Kanal BPPV sind wie folgt:27
Rezidivierende Attacken mit Lagerungsschwindel, hervorgerufen durch Hinlegen oder Umdrehen in der Rückenlage
Dauer der Attacken <1min
Lagerungsnystagmus, der nach einer Latenz von einer oder wenigen Sekunden durch das seitliche Lagerungsmanöver (diagnostisches Sémont-Manöver) oder Dix-Hallpike-Manöver entsteht. Der Nystagmus ist eine Kombination aus einem torsionellen Nystagmus (oberer Pol der Augen schlägt zum unten liegenden Ohr) und einem vertikalen Nystagmus, der nach oben (in Richtung der Stirn) schlägt, und dauert typischerweise <1min.
Nicht auf eine andere Störung zurückzuführen
Die Canalolithiasishypothese kann alle Symptome des Lagerungsnystagmus erklären.28, 29 Anstelle fest auf der Cupula haftender Teilchen werden bei der Canalolithiasis frei im Bogengang bewegliche, aus vielen Otokonien zusammengesetzte und das Lumen des Bogengangs annähernd ausfüllende Konglomerate als Ursache des Lagerungsschwindels angenommen.
BPPV des horizontalen Kanals (Canalolithiasis und Cupulolithasis)
Die Canalolithiasis des horizontalen Kanals ist wie folgt definiert:27
Rezidivierende Attacken mit Lagerungsschwindel, hervorgerufen durch Hinlegen oder Umdrehen in der Rückenlage
Dauer der Attacken < 1 min
Lagerungsnystagmus, der nach keiner oder kurzer Latenz beim Umdrehen in Rückenlage nach rechts und links auftritt und horizontal zum jeweils unten liegenden Ohr schlägt (geotrop); Dauer <1min
Nicht auf eine andere Störung zurückzuführen
Die sehr viel seltenere Cupulolithiasis des horizontalen Kanals ist wie folgt definiert:27
Rezidivierende Attacken mit Lagerungsschwindel, hervorgerufen durch Hinlegen oder Umdrehen in der Rückenlage
Lagerungsnystagmus, der ohne Latenz oder nach kurzer Latenz beim Umdrehen in Rückenlage nach rechts und links auftritt und horizontal zum jeweils oben liegenden Ohr schlägt (apogeotrop); Dauer > 1 min
Nicht auf eine andere Erkrankung zurückzuführen
Morbus Menière
Die aktuellen diagnostischen Kriterien für den Morbus Menière (MM) sind wie folgt:21
-
zwei oder mehr spontan auftretende Schwindelattacken von 20 min bis 12 h Dauer
-
audiometrisch nachgewiesene Hörminderung für Frequenzen < 2000 Hz (Knochenleitung in mindestens zwei benachbarten Frequenzen um mindestens 30dB schlechter als auf der Gegenseite), assoziiert mit Schwindelattacke,
-
fluktuierender Tinnitus oder Ohrdruck im betroffenen Ohr
keine Hinweise auf andere Ursachen
Ohne den audiometrischen Nachweis einer Tieftonschwerhörigkeit lässt sich nach den o.g. Kriterien nur die Diagnose eines «wahrscheinlichen MM» stellen. Umso wichtiger ist es, dass inzwischen portable iPad-basierte Audiometriegeräte zur Aufzeichnung des Hörvermögens durch den Patienten zur Verfügung stehen.30
Vestibularisparoxysmie
Terminus, klinische Charakteristika und Pathophysiologie wurden bereits 1994 von Brandt und Dieterich beschrieben.31 Die aktuellen diagnostischen Kriterien sind wie folgt: mindestens 10 Sekunden bis zu einer Minute dauernde, spontan auftretende, relativ gleichförmig ablaufende Schwindelattacken und Ansprechen auf eine Behandlung mit einem Natriumkanalblocker in adäquater Dosis.32 Die angenommene Ursache ist ein Gefäss-Nervus-vestibularis-Kontakt, der sich bildgebend allerdings auch bei 30% aller Gesunden findet. Deshalb ist eine MRT insbesondere zum Ausschluss anderer Ätiologien indiziert.
Zentrale vestibuläre Syndrome
Zentrale vestibuläre Syndrome können sich wie folgt manifestieren:
-
akutes vestibuläres Syndrom (AVS), Schwankschwindel, Drehschwindel oder posturale Instabilität, meist durch eine Ischämie in Hirnstamm oder Zerebellum,
-
rezidivierende Attacken, wie bei der vestibulären Migräne oder der episodischen Ataxie Typ 2, oder
-
persistierendes Syndrom wie zerebellärer Schwindel.
Zerebrale Ischämien (Hirnstamm oder Kleinhirn) als akutes vestibuläres Syndrom
Beim AVS ist das wichtige Kriterium zur Unterscheidung von AUVP eine zentrale Läsion im Bereich des Hirnstamms oder Kleinhirns. Als sensitives Instrument zur Differenzierung hat sich die folgende Kombination erwiesen:35
-
Anamnestische Angaben: Verlauf («erste Episode»), Auslöser («spontanes Auftreten»), Dauer («> 60 min») zusammen mit dem ABCD2-Score («age, blood pressure, central acompanying symptoms, duration, diabetes») sowie
-
Untersuchungsbefunde:
«skew deviation» (vertikale Divergenz, ein Auge steht über dem anderen)
Art des Spontannystagmus (ein nicht durch Fixation unterdrückbarer Nystagmus ist kein peripherer vestibulärer Spontannystagmus)
HIT (besser Video-HIT): normal
Blickrichtungsnystagmus entgegen der Richtung des Spontannystagmus und/oder vertikal;
Patient ist nicht in der Lage, alleine zu stehen
Vestibuläre Migräne
Nach den aktuellen diagnostischen Kriterien ist die vestibuläre Migräne wie folgt definiert:36
-
Mindestens fünf Episoden mit vestibulären Symptomen mittlerer oder starker Intensität und einer Dauer von 5 min bis 72h
-
Aktive oder frühere Migräne mit oder ohne Aura nach den Kriterien der ICHD
-
Ein/mehrere Migränesymptome während mindestens 50% der vestibulären Episoden – Kopfschmerzen mit mindestens zwei der folgenden Merkmale: einseitige Lokalisation, pulsierender Charakter, mittlere oder starke Schmerzintensität, Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten, Photophobie und Phonophobie, visuelle Aura; nicht auf eine andere vestibuläre oder ICHD-Diagnose zurückzuführen
Zerebellärer Schwindel
Schwindel- und Gleichgewichtsstörungen infolge zerebellärer Erkrankungen sind eine besondere differenzialdiagnostische Herausforderung. Typischerweise stellen sich diese Patienten nicht mit dem kompletten Spektrum zerebellärer Symptome vor. Die Entität eines zerebellären Schwindels wurde deshalb genauer untersucht.37 In dieser Studie mit 369 Patienten litten 81% unter persistierenden Schwindelbeschwerden, 31% unter Schwindelattacken und 21% unter beidem. 95% der Patienten hatten Zeichen einer zentralen Okulomotorikstörung (z.B. sakkadierte Blickfolge, allseitiger Blickrichtungsnystagmus, zentraler Fixationsnystagmus, insbesondere ein Downbeat-Nystagmus (DBN); 11% hatten isolierte zerebelläre Okulomotorikstörungen. Die Diagnose zerebellärer Ataxien und damit zerebellären Schwindels hat sich in den letzten 10 Jahren deutlich verbessert und zwar durch die genetische Testung38 und den Nachweis von immer mehr Autoantikörpern (autoimmunologische vestibulo-zerebelläre Syndrome).39
Funktioneller Schwindel
Der somatoforme/psychogene Schwindel wird seit 2017 international «funktioneller Schwindel» genannt und stellt wohl die relativ häufigste Schwindelform dar. Auf der Basis der langjährigen Erfahrungen und vieler Gemeinsamkeiten mit dem phobischen Schwankschwindel in Deutschland, dem chronischen subjektiven Schwindel in den USA und dem visuellen Schwindel in GB42 hat die Bárány Society die Definition des «persistent postural-perceptual dizziness» erarbeitet:43
-
Persistierender Schwindel und/oder Unsicherheit an den meisten Tagen über einen Zeitraum von drei oder mehr Monaten, wobei die Symptome während eines Tages über Stunden, aber nicht notwendigerweise den ganzen Tag anhalten müssen.
-
Die Symptome treten spontan auf, können aber durch folgende Faktoren verstärkt werden: 1. aufrechte Körperposition, 2. aktive oder passive Körperbewegungen, 3. sich bewegende visuelle Stimuli.
-
Akute oder chronische organische vestibuläre, psychologische oder andere Störungen können diesen Symptomen vorausgehen, gleichzeitig mit ihnen bestehen und/oder sie überdauern.
-
Die Symptome verursachen eine merkliche funktionelle Beeinträchtigung.
Beschwerden sind nicht besser durch eine andere Erkrankung erklärbar.
Die Patienten klagen oft über einen mehr oder weniger permanenten Schwank- oder Benommenheitsschwindel, der während sportlicher Betätigung, bei Ablenkung, Genuss kleinerer Alkoholmengen oder am Morgen meist besser ist, hingegen in bestimmten Situationen (z.B. in Menschenmengen oder im Kaufhaus) zunimmt und zu Vermeidungsverhalten («phobischer Schwankschwindel») führen kann. Pathophysiologisch lässt sich der funktionelle Schwindel durch eine verstärkte Selbstbeobachtung der Balance erklären. Betroffen sind typischerweise Menschen mit perfektionistischen Persönlichkeitszügen. In etwa 25% der Fälle geht eine organische Erkrankung dem Beginn der Beschwerden voraus: sekundärer funktioneller Schwindel.
Interessenskonflikte:
Der Autor erklärt, dass er sich bei der Erstellung des Beitrages nicht von wirtschaftlichen Interessen leiten liess. Er legt die folgenden potenziellen Interessenkonflikte offen: M. Strupp ist Joint Chief Editor von «The Journal of Neurology», Editor in Chief von «Frontiers of Neurootology» und Section Editor von «F1000». Er erhielt Honoraria für Fortbildungsvorträge von Abbott, Actelion, Auris Medical, Biogen, Eisai, Grünenthal, GSK, Henning Pharma, Interacoustics, Merck, MSD, Otometrics, Pierre-Fabre, TEVA und UCB. Er hat Aktienanteile an der Firma IntraBio. Er ist als Consultant für Abbott, Actelion, AurisMedical, Heel, IntraBio und Sensorion tätig gewesen. Er vertreibt die M-Brille und die «Lagerungsschwindel»-App/«Positional Vertigo»-App.
Literatur:
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Kappa-FLC zur Prognoseabschätzung
Der Kappa-freie-Leichtketten-Index korreliert nicht nur mit der kurzfristigen Krankheitsaktivität bei Multipler Sklerose, sodass er auch als Marker zur Langzeitprognose der ...
Fachperson für neurophysiologische Diagnostik – Zukunftsperspektiven eines (noch) unterschätzten Berufes
Die Aufgaben der Fachperson für neurophysiologische Diagnostik (FND) haben sich in den letzten Jahren verändert. Dies geht zum einen mit den erweiterten Diagnostikmöglichkeiten und zum ...