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Chronische Schmerzen: psychische Komorbiditäten und Besonderheiten der Psychopharmakotherapie

<p class="article-intro">Die Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen stellt eine grosse Herausforderung dar, die von «Einzelkämpfern» nicht gelöst werden kann. Waren in der Frühzeit der spezifischen Schmerztherapie insbesondere interventionelle Fähigkeiten gefragt und Schmerzambulanzen meist fest in der Hand der Anästhesie, etablierten sich in der jüngeren Vergangenheit zunehmend interdisziplinär arbeitende Schmerzzentren, in deren Arbeit dem sogenannten bio-psychosozialen Schmerzmodell Rechnung getragen wird. Hierbei wird berücksichtigt, dass neben den biologisch-somatischen Faktoren auch soziale und psychische Aspekte eine tragende Rolle in der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen spielen.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Insbesondere Schlafst&ouml;rungen, Depressionen und Angstst&ouml;rungen sind bei chronischen Schmerzpatienten h&auml;ufig anzutreffende psychische Komorbidit&auml;ten, deren Erkennung und leitliniengerechte Behandlung im Sinne eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells einen wesentlichen Faktor in der Gesamtprognose darstellt.</li> <li>Hierbei kommt der Psychopharmakologie eine wesentliche Rolle zu, zum einen bez&uuml;glich der Anwendung als Psychopharmakon im eigentlichen Sinne zur Behandlung der psychiatrischen Begleiterkrankung selbst, zum anderen in der Anwendung als schmerzmodulierendes und -hemmendes Koanalgetikum.</li> <li>Idealerweise lassen sich beide Behandlungsstr&auml;nge verkn&uuml;pfen, was entsprechende Expertise auf dem psychiatrischen und schmerztherapeutischen Fachgebiet voraussetzt, insbesondere in Bezug auf den Einsatz der vorwiegend geeigneten Antidepressiva, einschliesslich ihrer Nebenwirkungs- und Interaktionsraten.</li> <li>Die Ziele sind weit gefasst zu sehen in einer psychischen Stabilisierung, Schmerzreduktion und Verbesserung der Lebensqualit&auml;t.</li> </ul> </div> <p>In Bezug auf die psychische Komponente interdisziplin&auml;rer Schmerztherapie sind oft geh&ouml;rte Schlagworte &laquo;Schmerzbew&auml;ltigung &raquo;, &laquo;Schmerzumgang&raquo; und &laquo;Schmerzakzeptanz &raquo;. Die diesbez&uuml;gliche Diagnostik und Therapie in Einzel- oder Gruppensetting sind Dom&auml;ne der meist psychologischen Schmerzpsychotherapeuten. Dar&uuml;ber hinaus muss jedoch auch ber&uuml;cksichtigt werden, dass die Erkrankung &laquo;chronischer Schmerz&raquo; mit einer Reihe von psychischen Erkrankungen im engeren Sinn komorbide assoziiert ist und es hier krankheitsspezifisch h&auml;ufig psychotherapeutische, aber oft auch psychopharmakologische Behandlungsans&auml;tze braucht. Letztere sind in der Regel Dom&auml;ne von Psychiatern. Die Situation wird allerdings noch komplexer durch den Umstand, dass diverse Psychopharmaka und im Besonderen Antidepressiva selbst analgetische Eigenschaften haben. Die besondere Aufgabe des psychopharmakologisch Behandelnden ist die Etablierung einer Therapie, die m&ouml;glichst beiden Zielbereichen gleichermassen gerecht wird.</p> <h2>Psychische Komorbidit&auml;ten bei chronischer Schmerzerkrankung</h2> <p>Die wohl h&auml;ufigste und aus eigener Erfahrung h&auml;ufig unterdiagnostizierte psychische Komorbidit&auml;t mit einer Pr&auml;valenz von 50 bis 70 % bei Schmerzpatienten sind Schlafst&ouml;rungen, im Vordergrund hierbei die prim&auml;re nicht organische Insomnie. Welche Bedeutung allein diesem Umstand beikommt, l&auml;sst sich erahnen aus der erh&ouml;hten Korrelation zu anderen psychischen St&ouml;rungen wie Depression oder Angstst&ouml;rung. Zahlreiche Studien zeigen, dass chronische Schmerzpatienten eine deutlich erh&ouml;hte Wahrscheinlichkeit f&uuml;r komorbide Depressionen, Angstst&ouml;rungen, posttraumatische Belastungsst&ouml;rungen und auch substanz- und hier insbesondere alkoholassoziierte Probleme haben: um &ndash; je nach Studie &ndash; das Doppelte bis Vierfache. Mit Depressionen gehen jedoch auch als Symptome der psychischen Erkrankung diverse Schmerzbeschwerden einher, sodass nicht immer klar ist, ob die Depression als Risikofaktor respektive Ausl&ouml;ser f&uuml;r die Schmerzerkrankung oder umgekehrt anzusehen ist.<br /> Sowohl Lebenszeit- als auch 12-Monats-Suizidalit&auml;t sind bei chronischen Schmerzpatienten um das 2- bis 3-Fache erh&ouml;ht. Dies korreliert sowohl mit der Dauer der Schmerzerkrankung als auch mit psychischen Erkrankungen wie Major Depression, generalisierter Angsterkrankung, posttraumatischer Belastungsst&ouml;rung und Alkoholerkrankung. Bis zu zwei Drittel chronischer Schmerzpatienten hatten zumindest einmal schon Suizidgedanken.<br /> Patienten mit chronischer Schmerzerkrankung scheinen bez&uuml;glich ihrer Pers&ouml;nlichkeitsstruktur &uuml;berproportional h&auml;ufig zu einer Borderline- oder neurotischen Pers&ouml;nlichkeitsorganisation zu neigen, was das Risiko einer psychisch relevanten Erkrankung zus&auml;tzlich erh&ouml;hen kann.<br /> In Bezug auf die Prognose und die Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben ist zus&auml;tzlich hervorzuheben, dass Patienten mit einer Depressions- und Angsterkrankung ihre Schmerzerkrankung an sich als st&auml;rker behindernd erleben im Vergleich zu den psychisch Gesunden.</p> <h2>Einsatz von Psychopharmaka bei chronischer Schmerzerkrankung</h2> <p>Der Einsatz von &laquo;Thymoleptika und Neuroleptika&raquo; zur Behandlung schwerer, chronischer Schmerzzust&auml;nde ist f&uuml;r sich genommen keine neue Erkenntnis moderner Schmerztherapie. Hinweise und Behandlungsempfehlungen zu einer Kombinationstherapie von Trizyklika wie Imipramin und Neuroleptika wie Haloperidol finden sich bereits in den 70er-Jahren des letzten Jahrtausends. Zu einer Zeit, als Antidepressiva noch nach dem sogenannten Kielholzschema in antriebsd&auml;mpfend, -neutral oder -steigernd eingeteilt wurden, wurde die analgetische Wirkung dieser Substanzklassen am ehesten einer Ver&auml;nderung des Schmerzerlebens zugesprochen, Schlagworte waren &laquo;Entpers&ouml;nlichung des Schmerzes &raquo; oder &laquo;Distanzierung der Pers&ouml;nlichkeit zum k&ouml;rperlichen Geschehen&raquo;. Es wurde damals angenommen, dass Psychopharmaka zwar nicht das Schmerzgeschehen als solches, wohl aber dessen bewusstes Erleben im Sinne des &laquo;Erleidens &raquo; sowie auch seine emotionale Ausl&ouml;sung beeinflussen w&uuml;rden.<br /> Mittlerweile wissen wir infolge fortschreitender neurobiologischer Forschung um die Bedeutung absteigender exzitatorischer und inhibitorischer Kontrollen in der zentralnerv&ouml;sen Schmerzleitung und -verarbeitung. Zu den anatomischen Strukturen, die als bedeutend f&uuml;r die absteigenden Schmerzbahnen identifiziert worden sind, z&auml;hlen das limbische Vorderhirn, das Mittelhirn und Regionen im Hirnstamm. Informationen &uuml;ber sch&auml;digende Reize werden vom limbischen System und von Mittelhirnstrukturen (Amygdala, Hypothalamus) &uuml;ber die periaqu&auml;duktale graue Substanz zum Hirnstamm, insbesondere zur rostroventralen Medulla, geleitet. Diese filtert die neuronalen Signale, die nach unten zum Hinterhorn des R&uuml;ckenmarks ziehen. Die absteigenden Bahnen k&ouml;nnen bahnende oder hemmende Neurone stimulieren, um die Hinterhornaktivit&auml;t im R&uuml;ckenmark entweder zu erh&ouml;hen oder zu senken. Die in diesem Prozess involvierten Zellen werden &raquo;On-Zellen&raquo; genannt, sie werden durch sch&auml;digende Stimuli aktiviert und erh&ouml;hen die Nozizeption. Im Gegenzug dazu gibt es die &raquo;Off-Zellen&raquo;, die die Aktivit&auml;t der spinalen Neurone hemmen. Hirnstammgebiete, von denen bislang angenommen wurde, dass sie haupts&auml;chlich f&uuml;r die kardiovaskul&auml;re Funktion und die autonome Regulation zust&auml;ndig sind (beispielsweise der Locus coeruleus), spielen massgeblich eine Rolle bei der Modulation der spinalen Schmerz&uuml;bertragung. Spinales Noradrenalin und Serotonin vermitteln die durch Stimulation ausgel&ouml;ste von diesen Regionen absteigende Hemmung und Erregung der Schmerz&uuml;bertragung. Noradrenalin ist in erster Linie an der inhibitorischen Kontrolle beteiligt, w&auml;hrend Serotonin sowohl f&uuml;r die inhibitorische wie auch die exzitatorische Kontrolle von Bedeutung ist. Ein Versagen der absteigenden Hemmung spielt bei chronischen Schmerzzust&auml;nden eine Rolle.<br /> Heute werden Antidepressiva entsprechend ihrer pharmakologischen Wirkprinzipien bzw. ihrem Rezeptorprofil eingeteilt. Antidepressiva mit Wirkung sowohl auf das serotonerge als auch auf das noradrenerge System zeigen hierbei entsprechend den genannten Erkenntnissen eine unmittelbare Wirkung auf das schmerzleitende und -verarbeitende System und werden daher der Gruppe der Koanalgetika zugeordnet. Zu diesen Substanzen geh&ouml;ren die &laquo;alten&raquo; Wirkstoffe wie Amitriptylin oder Nortriptylin (aufgrund ihrer chemischen Struktur als Trizyklika bezeichnet), aber auch moderne Antidepressiva wie Duloxetin, Venlafaxin oder Mirtazapin. Substanzen, die lediglich monoaminerg wirken, zeigen keine unmittelbaren analgetischen Wirkungen.</p> <h2>Verkn&uuml;pfung von Psycho- und Analgopharmakotherapie</h2> <p>Die genannten Faktoren unterstreichen die Bedeutung eines psychometrischen Screenings, beispielsweise in Form standardisierter Frageb&ouml;gen und gegebenenfalls tiefergehender psychiatrischer Diagnostik chronischer Schmerzpatienten. Dabei detektierte manifeste psychische St&ouml;rungen mit Krankheitswert und/oder Einfluss auf die schmerzspezifische Therapieprognose m&uuml;ssen unbedingt entsprechend den bestehenden psychiatrischen Leitlinien im Sinne eines multimodalen interdisziplin&auml;ren Behandlungskonzeptes begleitend behandelt werden. Bei leichterer Auspr&auml;gung reicht hierbei oft auch eine rein psychotherapeutische Behandlung, meist durchgef&uuml;hrt vom therapeutisch ausgebildeten Psychologen. Bei st&auml;rkerer Auspr&auml;gung bedarf es jedoch h&auml;ufig einer adjuvanten oder auch alleinigen medikament&ouml;sen Behandlung. Die besondere Aufgabe des in der Schmerztherapie t&auml;tigen Psychiaters ist dabei eine sinnvolle Verkn&uuml;pfung der Verwendung von Psychopharmaka als Psychopharmakon im eigentlichen Sinne einerseits und als Koanalgetikum andererseits.<br /> Die meisten psychotrop relevanten Substanzen, insbesondere Antidepressiva, werden &uuml;ber das Cytochrom-P450-System verstoffwechselt. Ein besonderer Aspekt ist daher die Beachtung von Pharmakointeraktionen der oft multipharmakologisch behandelten Schmerzpatienten. Hier k&ouml;nnen die mittlerweile zur Verf&uuml;gung stehenden internetbasierten Interaktionsprogramme wertvolle Hilfe leisten. Wichtig ist auch das Wissen um Nebenwirkungen, die vermieden werden sollen (wie Gewichtszunahme) oder sich auch zunutze gemacht werden k&ouml;nnen (wie sedierend-hypnotische Effekte).<br /> Aus psychiatrischer Sicht kommt der Substanzgruppe der Antidepressiva eine besondere Bedeutung zu. Gerade in der Behandlung von h&auml;ufig begleitend zu behandelnden Depressionen und auch Schlafst&ouml;rungen, bei denen Antidepressiva gegen&uuml;ber klassischen Hypnotika aus dem Bereich der Benzodiazepine oder Benzodiazepinanaloga aufgrund der fehlenden Abh&auml;ngigkeitsproblematik gerne der Vorzug gegeben wird, stellen sie die erste Wahl der Pharmakotherapie war. Auch Angstst&ouml;rungen werden pharmakologisch neben der unbedingt notwendigen Psychotherapie unter anderem mit Substanzen aus der Gruppe der Antidepressiva behandelt. Des Weiteren k&ouml;nnen &ndash; wie oben dargestellt &ndash; gewisse Antidepressiva aber auch einen unmittelbaren analgetischen Einfluss aus&uuml;ben, im Sinne eines Koanalgetikums. Antidepressiva sind sowohl in der Behandlung neuropathischer als auch nicht neuropathischer Schmerzen wirksam und werden teilweise als Monotherapie eingesetzt (insbesondere in der Prophylaxe von Kopfschmerzen) wie auch meist in Kombination mit klassischen Analgetika (NSAIR, Opioide) oder weiteren Koanalgetika (insbesondere Antiepileptika). Trizyklika zeigen analgetische Effekte in der Behandlung neuropathischer Schmerzen, der Fibromyalgie, von unspezifischen R&uuml;ckenschmerzen und Kopfschmerzen. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Trizyklika auch eine lokalan&auml;sthetische Wirkung entfalten, auf Basis einer Natriumkanalblockade, was in der Anwendung in extern zu applizierenden Salbenformulierungen genutzt wird. Moderne dual wirksame Substanzen (Duloxetin, Venlafaxin) sind empfohlen in der Behandlung von neuropathischen Schmerzen, Migr&auml;ne und Fibromyalgie. Es ist zu beachten, dass Trizyklika in der rein analgetischen Anwendung nur etwa ein Drittel so hoch dosiert werden wie in der urspr&uuml;nglich antidepressiven Anwendung, die modernen Antidepressiva allerdings in der auch &uuml;blicherweise antidepressiv eingesetzten Dosierung. Die Wirkung setzt nicht unmittelbar ein, zur analgetischen Bedarfsmedikation sind die Substanzen nicht geeignet. Die aus der Depressionsbehandlung bekannte Wirklatenz von 2&ndash;3 Wochen findet sich bei der analgetischen Anwendung allerdings meist nicht, d. h., die schmerzhemmenden Effekte treten deutlich fr&uuml;her ein. Zu beachten ist unbedingt, dass lediglich Duloxetin zur Behandlung von Schmerzen auch offiziell zugelassen ist (Schmerzen bei diabetischer Neuropathie), eine entsprechende Aufkl&auml;rung der Patienten ist unbedingt zu empfehlen, da sich besonders Patienten ohne zu behandelnde psychische Komorbidit&auml;t sonst rasch &laquo;in die psychiatrische Ecke gestellt&raquo; f&uuml;hlen.<br /> Neuroleptika haben in der Behandlung chronischer Schmerzen einen nur geringen Stellenwert. Haupteinsatzgebiet war fr&uuml;her die adjuvante Therapie von &Uuml;belkeit und Erbrechen, was allerdings mit einem erheblichen Nebenwirkungspotenzial (insbesondere exrapyramidale motorische St&ouml;rungen) der Neuroleptika der 1. Generation erkauft wurde. Moderne Neuroleptika der 2. Generation (beispielsweise Olanzapin und Ziprasidon) sind diesbez&uuml;glich unproblematischer. Ein m&ouml;gliches Einsatzgebiet liegt in der Behandlung von Coen&auml;sthesien, bizarr geschilderter Schmerzen, wobei hier auch durchaus eine psychotisch anmutende Genese anzunehmen und der Einsatz damit eher schon dem psychiatrischen Fachgebiet zuzuordnen ist.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Neuro_1902_Weblinks_lo_neuro_1902_s19_tab1_brockmuller.jpg" alt="" width="800" height="946" /></p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>beim Verfasser</p> </div> </p>
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