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Chronische Schmerzen: psychische Komorbiditäten und Besonderheiten der Psychopharmakotherapie
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Autor:
Dr. med. Sven Brockmüller, MSc
Leitung psychiatrisch-psychologische Schmerzmedizin, Oberarzt Neurologie<br> Zentrum für Schmerzmedizin, SPZ Nottwil<br> E-Mail: sven.brockmueller@paraplegie.ch
30
Min. Lesezeit
05.06.2019
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<p class="article-intro">Die Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen stellt eine grosse Herausforderung dar, die von «Einzelkämpfern» nicht gelöst werden kann. Waren in der Frühzeit der spezifischen Schmerztherapie insbesondere interventionelle Fähigkeiten gefragt und Schmerzambulanzen meist fest in der Hand der Anästhesie, etablierten sich in der jüngeren Vergangenheit zunehmend interdisziplinär arbeitende Schmerzzentren, in deren Arbeit dem sogenannten bio-psychosozialen Schmerzmodell Rechnung getragen wird. Hierbei wird berücksichtigt, dass neben den biologisch-somatischen Faktoren auch soziale und psychische Aspekte eine tragende Rolle in der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen spielen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Insbesondere Schlafstörungen, Depressionen und Angststörungen sind bei chronischen Schmerzpatienten häufig anzutreffende psychische Komorbiditäten, deren Erkennung und leitliniengerechte Behandlung im Sinne eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells einen wesentlichen Faktor in der Gesamtprognose darstellt.</li> <li>Hierbei kommt der Psychopharmakologie eine wesentliche Rolle zu, zum einen bezüglich der Anwendung als Psychopharmakon im eigentlichen Sinne zur Behandlung der psychiatrischen Begleiterkrankung selbst, zum anderen in der Anwendung als schmerzmodulierendes und -hemmendes Koanalgetikum.</li> <li>Idealerweise lassen sich beide Behandlungsstränge verknüpfen, was entsprechende Expertise auf dem psychiatrischen und schmerztherapeutischen Fachgebiet voraussetzt, insbesondere in Bezug auf den Einsatz der vorwiegend geeigneten Antidepressiva, einschliesslich ihrer Nebenwirkungs- und Interaktionsraten.</li> <li>Die Ziele sind weit gefasst zu sehen in einer psychischen Stabilisierung, Schmerzreduktion und Verbesserung der Lebensqualität.</li> </ul> </div> <p>In Bezug auf die psychische Komponente interdisziplinärer Schmerztherapie sind oft gehörte Schlagworte «Schmerzbewältigung », «Schmerzumgang» und «Schmerzakzeptanz ». Die diesbezügliche Diagnostik und Therapie in Einzel- oder Gruppensetting sind Domäne der meist psychologischen Schmerzpsychotherapeuten. Darüber hinaus muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass die Erkrankung «chronischer Schmerz» mit einer Reihe von psychischen Erkrankungen im engeren Sinn komorbide assoziiert ist und es hier krankheitsspezifisch häufig psychotherapeutische, aber oft auch psychopharmakologische Behandlungsansätze braucht. Letztere sind in der Regel Domäne von Psychiatern. Die Situation wird allerdings noch komplexer durch den Umstand, dass diverse Psychopharmaka und im Besonderen Antidepressiva selbst analgetische Eigenschaften haben. Die besondere Aufgabe des psychopharmakologisch Behandelnden ist die Etablierung einer Therapie, die möglichst beiden Zielbereichen gleichermassen gerecht wird.</p> <h2>Psychische Komorbiditäten bei chronischer Schmerzerkrankung</h2> <p>Die wohl häufigste und aus eigener Erfahrung häufig unterdiagnostizierte psychische Komorbidität mit einer Prävalenz von 50 bis 70 % bei Schmerzpatienten sind Schlafstörungen, im Vordergrund hierbei die primäre nicht organische Insomnie. Welche Bedeutung allein diesem Umstand beikommt, lässt sich erahnen aus der erhöhten Korrelation zu anderen psychischen Störungen wie Depression oder Angststörung. Zahlreiche Studien zeigen, dass chronische Schmerzpatienten eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit für komorbide Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und auch substanz- und hier insbesondere alkoholassoziierte Probleme haben: um – je nach Studie – das Doppelte bis Vierfache. Mit Depressionen gehen jedoch auch als Symptome der psychischen Erkrankung diverse Schmerzbeschwerden einher, sodass nicht immer klar ist, ob die Depression als Risikofaktor respektive Auslöser für die Schmerzerkrankung oder umgekehrt anzusehen ist.<br /> Sowohl Lebenszeit- als auch 12-Monats-Suizidalität sind bei chronischen Schmerzpatienten um das 2- bis 3-Fache erhöht. Dies korreliert sowohl mit der Dauer der Schmerzerkrankung als auch mit psychischen Erkrankungen wie Major Depression, generalisierter Angsterkrankung, posttraumatischer Belastungsstörung und Alkoholerkrankung. Bis zu zwei Drittel chronischer Schmerzpatienten hatten zumindest einmal schon Suizidgedanken.<br /> Patienten mit chronischer Schmerzerkrankung scheinen bezüglich ihrer Persönlichkeitsstruktur überproportional häufig zu einer Borderline- oder neurotischen Persönlichkeitsorganisation zu neigen, was das Risiko einer psychisch relevanten Erkrankung zusätzlich erhöhen kann.<br /> In Bezug auf die Prognose und die Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben ist zusätzlich hervorzuheben, dass Patienten mit einer Depressions- und Angsterkrankung ihre Schmerzerkrankung an sich als stärker behindernd erleben im Vergleich zu den psychisch Gesunden.</p> <h2>Einsatz von Psychopharmaka bei chronischer Schmerzerkrankung</h2> <p>Der Einsatz von «Thymoleptika und Neuroleptika» zur Behandlung schwerer, chronischer Schmerzzustände ist für sich genommen keine neue Erkenntnis moderner Schmerztherapie. Hinweise und Behandlungsempfehlungen zu einer Kombinationstherapie von Trizyklika wie Imipramin und Neuroleptika wie Haloperidol finden sich bereits in den 70er-Jahren des letzten Jahrtausends. Zu einer Zeit, als Antidepressiva noch nach dem sogenannten Kielholzschema in antriebsdämpfend, -neutral oder -steigernd eingeteilt wurden, wurde die analgetische Wirkung dieser Substanzklassen am ehesten einer Veränderung des Schmerzerlebens zugesprochen, Schlagworte waren «Entpersönlichung des Schmerzes » oder «Distanzierung der Persönlichkeit zum körperlichen Geschehen». Es wurde damals angenommen, dass Psychopharmaka zwar nicht das Schmerzgeschehen als solches, wohl aber dessen bewusstes Erleben im Sinne des «Erleidens » sowie auch seine emotionale Auslösung beeinflussen würden.<br /> Mittlerweile wissen wir infolge fortschreitender neurobiologischer Forschung um die Bedeutung absteigender exzitatorischer und inhibitorischer Kontrollen in der zentralnervösen Schmerzleitung und -verarbeitung. Zu den anatomischen Strukturen, die als bedeutend für die absteigenden Schmerzbahnen identifiziert worden sind, zählen das limbische Vorderhirn, das Mittelhirn und Regionen im Hirnstamm. Informationen über schädigende Reize werden vom limbischen System und von Mittelhirnstrukturen (Amygdala, Hypothalamus) über die periaquäduktale graue Substanz zum Hirnstamm, insbesondere zur rostroventralen Medulla, geleitet. Diese filtert die neuronalen Signale, die nach unten zum Hinterhorn des Rückenmarks ziehen. Die absteigenden Bahnen können bahnende oder hemmende Neurone stimulieren, um die Hinterhornaktivität im Rückenmark entweder zu erhöhen oder zu senken. Die in diesem Prozess involvierten Zellen werden »On-Zellen» genannt, sie werden durch schädigende Stimuli aktiviert und erhöhen die Nozizeption. Im Gegenzug dazu gibt es die »Off-Zellen», die die Aktivität der spinalen Neurone hemmen. Hirnstammgebiete, von denen bislang angenommen wurde, dass sie hauptsächlich für die kardiovaskuläre Funktion und die autonome Regulation zuständig sind (beispielsweise der Locus coeruleus), spielen massgeblich eine Rolle bei der Modulation der spinalen Schmerzübertragung. Spinales Noradrenalin und Serotonin vermitteln die durch Stimulation ausgelöste von diesen Regionen absteigende Hemmung und Erregung der Schmerzübertragung. Noradrenalin ist in erster Linie an der inhibitorischen Kontrolle beteiligt, während Serotonin sowohl für die inhibitorische wie auch die exzitatorische Kontrolle von Bedeutung ist. Ein Versagen der absteigenden Hemmung spielt bei chronischen Schmerzzuständen eine Rolle.<br /> Heute werden Antidepressiva entsprechend ihrer pharmakologischen Wirkprinzipien bzw. ihrem Rezeptorprofil eingeteilt. Antidepressiva mit Wirkung sowohl auf das serotonerge als auch auf das noradrenerge System zeigen hierbei entsprechend den genannten Erkenntnissen eine unmittelbare Wirkung auf das schmerzleitende und -verarbeitende System und werden daher der Gruppe der Koanalgetika zugeordnet. Zu diesen Substanzen gehören die «alten» Wirkstoffe wie Amitriptylin oder Nortriptylin (aufgrund ihrer chemischen Struktur als Trizyklika bezeichnet), aber auch moderne Antidepressiva wie Duloxetin, Venlafaxin oder Mirtazapin. Substanzen, die lediglich monoaminerg wirken, zeigen keine unmittelbaren analgetischen Wirkungen.</p> <h2>Verknüpfung von Psycho- und Analgopharmakotherapie</h2> <p>Die genannten Faktoren unterstreichen die Bedeutung eines psychometrischen Screenings, beispielsweise in Form standardisierter Fragebögen und gegebenenfalls tiefergehender psychiatrischer Diagnostik chronischer Schmerzpatienten. Dabei detektierte manifeste psychische Störungen mit Krankheitswert und/oder Einfluss auf die schmerzspezifische Therapieprognose müssen unbedingt entsprechend den bestehenden psychiatrischen Leitlinien im Sinne eines multimodalen interdisziplinären Behandlungskonzeptes begleitend behandelt werden. Bei leichterer Ausprägung reicht hierbei oft auch eine rein psychotherapeutische Behandlung, meist durchgeführt vom therapeutisch ausgebildeten Psychologen. Bei stärkerer Ausprägung bedarf es jedoch häufig einer adjuvanten oder auch alleinigen medikamentösen Behandlung. Die besondere Aufgabe des in der Schmerztherapie tätigen Psychiaters ist dabei eine sinnvolle Verknüpfung der Verwendung von Psychopharmaka als Psychopharmakon im eigentlichen Sinne einerseits und als Koanalgetikum andererseits.<br /> Die meisten psychotrop relevanten Substanzen, insbesondere Antidepressiva, werden über das Cytochrom-P450-System verstoffwechselt. Ein besonderer Aspekt ist daher die Beachtung von Pharmakointeraktionen der oft multipharmakologisch behandelten Schmerzpatienten. Hier können die mittlerweile zur Verfügung stehenden internetbasierten Interaktionsprogramme wertvolle Hilfe leisten. Wichtig ist auch das Wissen um Nebenwirkungen, die vermieden werden sollen (wie Gewichtszunahme) oder sich auch zunutze gemacht werden können (wie sedierend-hypnotische Effekte).<br /> Aus psychiatrischer Sicht kommt der Substanzgruppe der Antidepressiva eine besondere Bedeutung zu. Gerade in der Behandlung von häufig begleitend zu behandelnden Depressionen und auch Schlafstörungen, bei denen Antidepressiva gegenüber klassischen Hypnotika aus dem Bereich der Benzodiazepine oder Benzodiazepinanaloga aufgrund der fehlenden Abhängigkeitsproblematik gerne der Vorzug gegeben wird, stellen sie die erste Wahl der Pharmakotherapie war. Auch Angststörungen werden pharmakologisch neben der unbedingt notwendigen Psychotherapie unter anderem mit Substanzen aus der Gruppe der Antidepressiva behandelt. Des Weiteren können – wie oben dargestellt – gewisse Antidepressiva aber auch einen unmittelbaren analgetischen Einfluss ausüben, im Sinne eines Koanalgetikums. Antidepressiva sind sowohl in der Behandlung neuropathischer als auch nicht neuropathischer Schmerzen wirksam und werden teilweise als Monotherapie eingesetzt (insbesondere in der Prophylaxe von Kopfschmerzen) wie auch meist in Kombination mit klassischen Analgetika (NSAIR, Opioide) oder weiteren Koanalgetika (insbesondere Antiepileptika). Trizyklika zeigen analgetische Effekte in der Behandlung neuropathischer Schmerzen, der Fibromyalgie, von unspezifischen Rückenschmerzen und Kopfschmerzen. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Trizyklika auch eine lokalanästhetische Wirkung entfalten, auf Basis einer Natriumkanalblockade, was in der Anwendung in extern zu applizierenden Salbenformulierungen genutzt wird. Moderne dual wirksame Substanzen (Duloxetin, Venlafaxin) sind empfohlen in der Behandlung von neuropathischen Schmerzen, Migräne und Fibromyalgie. Es ist zu beachten, dass Trizyklika in der rein analgetischen Anwendung nur etwa ein Drittel so hoch dosiert werden wie in der ursprünglich antidepressiven Anwendung, die modernen Antidepressiva allerdings in der auch üblicherweise antidepressiv eingesetzten Dosierung. Die Wirkung setzt nicht unmittelbar ein, zur analgetischen Bedarfsmedikation sind die Substanzen nicht geeignet. Die aus der Depressionsbehandlung bekannte Wirklatenz von 2–3 Wochen findet sich bei der analgetischen Anwendung allerdings meist nicht, d. h., die schmerzhemmenden Effekte treten deutlich früher ein. Zu beachten ist unbedingt, dass lediglich Duloxetin zur Behandlung von Schmerzen auch offiziell zugelassen ist (Schmerzen bei diabetischer Neuropathie), eine entsprechende Aufklärung der Patienten ist unbedingt zu empfehlen, da sich besonders Patienten ohne zu behandelnde psychische Komorbidität sonst rasch «in die psychiatrische Ecke gestellt» fühlen.<br /> Neuroleptika haben in der Behandlung chronischer Schmerzen einen nur geringen Stellenwert. Haupteinsatzgebiet war früher die adjuvante Therapie von Übelkeit und Erbrechen, was allerdings mit einem erheblichen Nebenwirkungspotenzial (insbesondere exrapyramidale motorische Störungen) der Neuroleptika der 1. Generation erkauft wurde. Moderne Neuroleptika der 2. Generation (beispielsweise Olanzapin und Ziprasidon) sind diesbezüglich unproblematischer. Ein mögliches Einsatzgebiet liegt in der Behandlung von Coenästhesien, bizarr geschilderter Schmerzen, wobei hier auch durchaus eine psychotisch anmutende Genese anzunehmen und der Einsatz damit eher schon dem psychiatrischen Fachgebiet zuzuordnen ist.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Neuro_1902_Weblinks_lo_neuro_1902_s19_tab1_brockmuller.jpg" alt="" width="800" height="946" /></p></p>
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