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Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz
Leading Opinions
Autor:
PD Dr. med. Georg Bosshard
Klinik für Geriatrie<br> Universitätsspital Zürich<br> E-Mail: georg.bosshard@usz.ch
30
Min. Lesezeit
24.05.2018
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<p class="article-intro">Die Nationale Demenzstrategie der Schweiz (NDS) fordert, dass sich die Behandlung, Betreuung und Pflege von demenzkranken Menschen an ethischen Leitlinien orientieren sollen. Im Auftrag der NDS hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie (SGG) entsprechende medizin-ethische Richtlinien ausgearbeitet. Nach einer umfassenden öffentlichen Vernehmlassung ist die definitive Version der Richtlinien im Dezember 2017 publiziert worden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Im Auftrag der Nationalen Demenzstrategie der Schweiz (NDS) wurden in der Schweiz medizin-ethische Richtlinien für die Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz entwickelt.</li> <li>Anders als bei gesunden Menschen ist die Lebensqualität von Menschen mit Demenz entscheidend abhängig von der Unterstützung, die ihnen zuteil wird.</li> <li>Menschen mit Demenz sind in besonderem Masse gefährdet für eine medizinische Fehlversorgung.</li> <li>Die Behandlungsplanung soll vorausschauend (Advance Care Planning), unter Berücksichtigung einer allfälligen Patientenverfügung und unter Einbezug aller wichtigen Akteure, immer wieder an die aktuelle Situation angepasst werden.</li> </ul> </div> <p>Im Zusammenhang mit der steigenden Lebenserwartung werden Demenzerkrankungen immer häufiger. Die damit verbundenen Fragen und Herausforderungen sind für das Gesundheitssystem eines Landes, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes von grosser Bedeutung. Vor diesem Hintergrund wurde in der Schweiz 2014 die Nationale Demenzstrategie 2014–2019 ins Leben gerufen.<sup>1</sup> Eines von deren Teilprojekten, nämlich das Projekt 5.1 «Verankerung ethischer Leitlinien», wurde gemeinsam von der SAMW und der SGG übernommen.</p> <h2>Erarbeitung und öffentliche Vernehmlassung</h2> <p>Die SAMW ist eine vom Bund unterstützte akademische Institution, welche sich als Brückenbauerin zwischen Wissenschaft und Gesellschaft engagiert. Sie hat sich u.a. mit der Erarbeitung verschiedener medizin-ethischer Richtlinien einen Namen gemacht. Diese werden breit abgestützt erarbeitet und geniessen in der Schweiz eine hohe Akzeptanz. In aller Regel werden die SAMW-Richtlinien durch die Schweizerische Ärztegesellschaft (FMH) auch in die ärztliche Standesordnung übernommen.</p> <p>Die Ausarbeitung der vorliegenden SAMW-Richtlinien folgte dem üblichen Prozedere:<br /> Eine von der Zentralen Ethikkommission der SAMW eingesetzte interprofessionelle Subkommission mit Fachleuten aus Medizin, Pflege, Gerontologie, Ethik und Jurisprudenz erarbeitete ab Februar 2015 einen Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie. Dieser Vorschlag wurde Ende Mai 2017 zur sog. öffentlichen Vernehmlassung publiziert. Das Interesse war gross: Fast 80 Institutionen (ärztliche, pflegerische und weitere Fachgesellschaften, Gesundheitsämter des Bundes und der Kantone, akademische Institutionen, Ethikkommissionen etc.) sowie auch einige Privatpersonen nahmen zu dem Vorschlag zum Teil sehr detailliert Stellung. Aufgrund dieser Rückmeldungen wurden die Richtlinien überarbeitet und schliesslich wurde im Dezember die vom Senat der SAMW genehmigte definitive Version publiziert.<sup>2</sup></p> <h2>Richtlinien im Überblick</h2> <p>Das Ziel der vorliegenden medizinischethischen Richtlinien ist es, eine anwendungsbezogene Orientierungshilfe für die Betreuung und Behandlung von demenzerkrankten Menschen zu bieten. Die Sprache ist allgemein verständlich gehalten, die Guideline richtet sich bewusst nicht primär an akademische Tätige, sondern an Fachkräfte, die direkt in die Betreuung von Menschen mit Demenz involviert sind. Die Richtlinien positionieren sich damit zwischen eher akademisch-ethisch orientierten Erwägungen zum Thema, wie sie beispielsweise durch den Deutschen Ethikrat erarbeitet wurden,<sup>3</sup> und eher klinisch orientierten Konsensuspapieren zur Diagnostik, Behandlung und Betreuung von Menschen mit Demenz,<sup>4, 5</sup> die implizit oder explizit auch zahlreiche ethische Themen berühren.</p> <p>Neben der ethisch-rechtlichen Fundierung kommt in den Richtlinien auch anwendungsbezogenen Kapiteln ein wichtiger Platz zu. Ein Überblick über die behandelten Themen findet sich in Tabelle 1. Im Folgenden werden einige spezifische Themen der Richtlinien beleuchtet – die Richtlinien als Ganzes sind frei abrufbar unter https://www.samw.ch/de/Ethik/ Vulnerable-Patientengruppen/Behandlung-und-Betreuung-von-Menschenmit- Demenz.html.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1802_Weblinks_lo_neuro_1802_s13_tab1_formkorr.jpg" alt="" width="400" height="883" /></p> <h2>Würde, Selbstbestimmung und Partizipation</h2> <p>Die Würde ist mit dem Menschsein bedingungslos und unverlierbar gegeben, unabhängig von allfälligen körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen. In Situationen der Schwäche und der Abhängigkeit – wie dies bei einer fortschreitenden demenziellen Entwicklung der Fall ist – ist die Gefahr besonders gross, dass die Würde einer betroffenen Person missachtet wird.</p> <p>Menschen mit Demenz haben das gleiche Recht auf Selbstbestimmung wie kognitiv Gesunde. Weil aber ihre Autonomiefähigkeit eingeschränkt ist, müssen sie bei der Ausübung der Selbstbestimmung nach individuellem Bedarf unterstützt werden. Vor allem aber sind auch Menschen mit Demenz soziale Wesen, für deren Entfaltung und Wohlbefinden soziale Interaktionen entscheidend sind. Sie benötigen aktive Unterstützung bei der Teilhabe (Partizipation) am sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Anders als bei kognitiv Gesunden, die sich ihr Umfeld selbst gestalten können, ist also die Lebensqualität von Menschen mit Demenz ganz entscheidend abhängig von der Unterstützung, die sie erhalten.</p> <h2>Angemessene Betreuung und Behandlung</h2> <p>Die Richtlinien gehen im Detail auf die Gefahr einer medizinischen Fehlversorgung von Menschen mit Demenz ein in einem Gesundheitssystem, das im Allgemeinen schlecht auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Patientengruppe vorbereitet ist. So ist es bei Hospitalisierungen im Akutspital entscheidend, dass nicht nur die zur Einweisung führende somatische Erkrankung professionell behandelt wird, sondern dass auch die Demenz erkannt wird und adäquate Massnahmen getroffen werden. Die Richtlinien betonen in diesem Zusammenhang die Bedeutung von geriatrischen, gerontopsychiatrischen oder neurologischen Konsiliar- und Liaisondiensten, und sie weisen auf die Möglichkeit der Unterstützung durch spezifisch geschulte Pflegefachpersonen als Case- Manager hin, die den Ein- und Austrittsprozess des demenzkranken Patienten begleiten.</p> <p>Neben der Gefahr einer Unterversorgung im Spital besteht aber auch die Gefahr einer Überversorgung, beispielsweise durch Hospitalisierungen, die nicht eigentlich medizinisch notwendig, sondern durch Unzulänglichkeiten des ambulanten Versorgungssystems bedingt sind. Die rechtzeitige Diagnostik und Therapie mancher internistischer Leiden, wie z.B. einer Lungenentzündung, eines Harnwegsinfekts oder einer Dehydratation, sollten auch in einem Pflegeheim möglich sein, wenn dieses über genügend geschulte Pflegefachpersonen und eine gut eingebundene ärztliche Betreuung verfügt.</p> <p>Neben diesen Themen wird im ausführlichen Kapitel 5.2. «Angemessene Behandlung und Betreuung » in je eigenen Unterkapiteln auch auf den Umgang mit Schmerzen, mit Polypharmazie und auf das Thema Delirmanagement eingegangen. Je ein weiteres Unterkapitel widmet sich den spezifischen ethischen Fragen, die sich bei der Betreuung von jüngeren Menschen mit Demenz und von Menschen mit einer demenziellen Entwicklung vor dem Hintergrund einer geistigen Behinderung ergeben.</p> <h2>Emotion und Verhalten</h2> <p>Mit der Demenzerkrankung verbundene Störungen der Emotionen und des Verhaltens können für die Betroffenen, aber auch für ihr Umfeld eine ganz erhebliche Belastung darstellen. Sie können zu sozialer Isolation, Vernachlässigung oder gar Misshandlung führen. Für die professionelle Behandlung und Betreuung von Patienten mit Demenz sind spezifisches Wissen und spezifische Kompetenzen im Umgang mit Emotion und Verhaltensstörungen zwingend notwendig. Grundsätzlich haben nicht medikamentöse Ansätze der Pflege und Betreuung Vorrang vor einer allfälligen medikamentösen Behandlung. Es gilt, die Lebenswelt der Patienten zu verstehen und den Betreuungsplan entsprechend anzupassen. Dabei sollen spezifische Instrumente eingesetzt werden, die eine stufenweise Evaluation von Emotions- und Verhaltensstörungen erlauben und entsprechende Handlungsanleitungen geben. Der Einsatz von Medikamenten wird dadurch oft überflüssig oder kann auf ein Minimum begrenzt werden.<sup>6</sup><br /> Um den Zugang zu Menschen mit fortgeschrittener Demenz zu erleichtern, werden gelegentlich Instrumente eingesetzt, die eine virtuelle Realität simulieren – ein Beispiel dafür ist die Roboter-Robbe Paro. Die Richtlinien lehnen solche Instrumente nicht grundsätzlich ab. Sie betonen aber, dass deren Einsatz nicht dem Ersatz von menschlicher Zuwendung dienen darf, sondern im Gegenteil die menschliche Interaktion zwischen Betreuenden und Demenzerkrankten erleichtern und intensivieren soll.</p> <h2>Entscheidungen am Lebensende</h2> <p>Aufgrund des protrahierten Verlaufes des Demenzsyndroms mit einer oft über Jahre dauernden Pflegebedürftigkeit ist eine vorausschauende Behandlungsplanung (sog. Advance Care Planning) entscheidend. Gesundheitsfachleute sollen Patienten mit einer Demenzdiagnose frühzeitig auf die Möglichkeit des Erstellens resp. Aktualisierens einer Patientenverfügung ansprechen. Auch nach Eintritt der Urteilsunfähigkeit des Betroffenen soll das Advance Care Planning weitergeführt und der Behandlungsplan unter Berücksichtigung einer allfälligen Patientenverfügung und unter Einbezug aller wichtigen Akteure immer wieder an die aktuelle Situation angepasst werden.</p> <p>Ausführlich äussern sich die Richtlinien zum Vorgehen bei Mangelernährung im Rahmen einer fortgeschrittenen Demenz. Die Anlage einer PEG-Sonde wird als nicht sinnvoll beurteilt, da in dieser Situation von einer PEG kein medizinisch-pflegerischer Benefit zu erwarten ist, die Nebenwirkungen dagegen oft erheblich sind. Die Richtlinien empfehlen stattdessen konkrete pflegerische und betreuerische Massnahmen zur Verbesserung der Nahrungsaufnahme. Sie halten aber auch fest: «In manchen Fällen ist die eingeschränkte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme durch ein allgemeines Erlöschen der Lebenskräfte und des Lebenswillens im Rahmen der weit fortgeschrittenen Demenz bedingt. Die Betroffenen signalisieren dies typischerweise durch einen Unwillen und ein Wegdrehen des Kopfes beim Nahrungsangebot. Dieses Verhalten ist als verbindliche Willensäusserung zu akzeptieren, und es soll auf jeglichen Druck (wie z. B. Einführen des Löffels in den Mund gegen den Widerstand des Patienten) verzichtet werden.»<br /> Nur am Rande äussern sich die vorliegenden Richtlinien zur Frage der Beihilfe zum Suizid. Diese ist in der Schweiz vom Gesetz her in frühen Stadien einer Demenz nicht ausgeschlossen. Dagegen gestatten die aus dem Jahre 2004 stammenden SAMW-Richtlinien «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende » die ärztliche Beihilfe zum Suizid ausdrücklich nur am Lebensende. In der von Dezember 2017 bis Februar 2018 zur Vernehmlassung stehenden Neufassung der Richtlinien mit dem Titel «Umgang mit Sterben und Tod» nimmt die SAMW nun aber von der Bedingung des nahenden Lebensendes für die ärztliche Beihilfe zum Suizid Abstand.<sup>7</sup> Verlangt wird lediglich das Vorliegen eines unerträglichen Leidens, dem medizinisch fassbare Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen zugrunde liegen müssen. Es versteht sich von selbst, dass diese Erweiterung, sollte die SAMW in der definitiven Richtlinienversion «Sterben und Tod» daran festhalten, auch relevant für Menschen mit Demenz sein wird.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Nationale Demenzstrategie der Schweiz. https://www. bag.admin.ch/bag/de/home/themen/strategien-politik/ nationale-gesundheitsstrategien/nationale-demenzstrategie. html <strong>2</strong> Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2017): Medizin-ethische Richtlinien zur Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz. https://www.samw.ch/de/Publikationen/ Richtlinien.html <strong>3</strong> Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme des Deutschen Ethikrats (2012). http:// www.ethikrat.org/themen/medizin-und-pflege/demenz <strong>4</strong> Van der Steen JT et al.: White paper defining optimal palliative care in older people with dementia: a Delphi study and recommendations from the European Association for Palliative Care. Palliat Med 2014; 28: 197-209 <strong>5</strong> Monsch AU et al.: Schweizer Expertengruppe. Konsensus 2012 zur Diagnostik und Therapie von Demenzkranken in der Schweiz. Praxis 2012; 101: 1239-49 <strong>6</strong> Savaskan E et al.: Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD). Praxis 2014; 103: 135-48 <strong>7</strong> Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2017) Sterben und Tod. Medizinethische Richtlinien (Vernehmlassungsversion). https://www.samw.ch/de/Ethik/ Sterben-und-Tod.html</p>
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