
Behandlung im Kontext der Multimodalität
Jatros
Autor:
Prim. Univ.-Doz. Dr. Klaus Engelke
Ärztlicher Leiter Klinikum Theresienhof – Krankenhaus für Orthopädie und orthopädische Rehabilitation, Frohnleiten<br> E-Mail: engelke@theresienhof.at
30
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15.09.2016
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<p class="article-intro">Es gilt, sowohl im Rahmen des Algorithmus für den akuten Schmerz frühzeitig regelhaft Standards einzuführen, die auf eine Chronifizierung hindeuten können, um rechtzeitig multimodale Konzepte einzuleiten, als auch einen Algorithmus für den chronischen Schmerz des Stütz- und Bewegungssystems aufzustellen. Nur wenn wir lernen, die Erkrankungsbilder, die in diesem Bereich zu Schmerzen führen, differenziert und frühzeitig ursächlich zu diagnostizieren und entsprechend differenziert von Anfang an, u.U. auch multimodal zu therapieren, wird es gelingen, eine Mehrzahl der Patienten vor einem Abgleiten in den prächronischen oder chronischen Bereich zu bewahren. Sekundäre und tertiäre Präventionsmaßnahmen sollten aber im Gesamtzusammenhang mit dem Kollektiv der Patienten mit chronischen Schmerzen des Stütz- und Bewegungssystems einen besonderen Schwerpunkt erhalten.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Möglichst frühes Erkennen einer Chronifizierungstendenz während der Behandlung von Akutschmerzen</li> <li>Entwicklung von relevanten medizinischen Kennzahlen für die Behandlung des Kollektivs von Patienten mit chronischen Schmerzen des Stütz- und bewegungssystems</li> <li>Differenzierende klinische, bildgebende und interventionelle Diagnostik zur Reduktion des Kollektivs „unspezifischer Kreuzschmerz“</li> <li>Schaffung von ausreichenden konservativ-orthopädischen Einheiten</li> <li>Schließen des Behandlungskreises durch standardisierte Verfahren im Rahmen der sekundären und tertiären Prävention</li> </ul> </div> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Ortho_1605_Weblinks_Seite57.jpg" alt="" width="" height="" /> 20 % der Menschen in Europa leiden an chronischen Schmerzen. Das sind rund 100 Millionen Menschen und somit bedeutend mehr als etwa die Diabetiker mit rund 60 Millionen Betroffenen in Europa. 65,56 % der Menschen mit andauernden Schmerzzuständen haben Rückenschmerzen; 51,66 % Gelenksschmerzen; 32,20 % Nackenschmerzen; 31,36 % haben regelmäßig Kopfschmerzen. Kaum ein anderes Gesundheitsproblem belastet die Betroffenen mehr als der Schmerz. Am höchsten ist der Anteil der Schmerzpatienten unter den 40- bis 59-Jährigen. Das bedeutet, dass die Betroffenen besonders häufig in der Gruppe der Bevölkerung zu finden sind, die am Ende der Berufstätigkeit steht. Depressionen und Rückenschmerzen sind zwei der fünf häufigsten Ursachen für Invalidität in Europa.</p> <h2>500 Millionen Krankenstandstage</h2> <p>Chronische Schmerzzustände stecken als Ursache hinter jährlich rund 500 Millionen Krankenstandstagen in Europa. Die Kosten machen allein dadurch rund 34 Milliarden Euro aus. In Österreich sind es pro Jahr 406.000 Krankenstandstage mit einem Produktivitätsverlust von 1,12 Milliarden Euro, die auf überwiegend chronische Schmerzzustände zurückzuführen sind. Hinzu kommen 21.000 Frühpensionierungen mit Kosten in Höhe von 600 Millionen Euro. Das ergibt volkswirtschaftliche Kosten von 1,7 Milliarden Euro. Rechnet man noch die direkten Invaliditätspensionsleistungen von 430 Millionen Euro und die Aufwendungen für die Behandlung hinzu, kommt man auf jährliche Gesamtkosten von 3,8 Milliarden Euro.<br /> 3–10 % des BIP in Europa gehen durch chronische Schmerzen verloren. Fast die Hälfte der Krankenstände über drei Tage geht auf chronische Schmerzen zurück. 22 % der chronischen Schmerzpatienten, die in den Krankenstand gehen müssen, sind deshalb pro Jahr mehr als zehn Tage zu Hause.<br /> Patienten mit chronischen Schmerzen haben das siebenfache Arbeitslosigkeitsrisiko im Vergleich zu Nichtbetroffenen. 19 % dieser Kranken haben bereits einmal ihre Arbeit verloren, 13 % deshalb den Arbeitsplatz gewechselt. Obwohl es wirksame Therapien gibt, leiden 68 % der Betroffenen pro Tag mehr als zwölf Stunden an ihren Beschwerden. 21 % haben außerdem Depressionen.</p> <h2>Das duale Problem</h2> <p>Chronische Schmerzen im Bereich des Stütz- und Bewegungssystems können vielfältige Ursachen haben und stellen für den Behandler meist eine zumindest zweidimensionale Herausforderung dar. Einerseits gestaltet sich die Diagnostik hinsichtlich der konkreten Schmerzursache aus vielfältigen Gründen häufig ausgesprochen schwierig. Andererseits sind zielführende Therapiekonzepte sehr komplex und in dem derzeitigen Struktursetting nach „Evidence-based“-Kriterien fast nicht möglich. Diese Kriterien erfordern eine multimodale Therapie in einem Ausmaß von 100 Therapiestunden (z.B. „functional restoration program“, „Heidelberger Modell“).<br /> Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist allerdings nicht nur das Therapiekonzept selbst, sondern auch der diagnostische Algorithmus, der letztendlich die Grundlage für eine zielgerichtete Therapie sein muss. In diesem Zusammenhang erscheint es besonders in der über die letzten Jahre geführten Art der Diskussion wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass Schmerz ein Symptom ist, das durch spezifische Rezeptoren­aktivitäten ausgelöst wird. Hierbei ist der Schmerz ein wichtiges Signal für die Ursache einer Störung von Strukturen oder Funktionen des menschlichen Körpers. Diese körpereigenen Signale zu identifizieren und zu entschlüsseln sind die wesentlichen diagnostischen Aufgaben neben der Therapie von Schmerzen per se.<br /> Bei der Betrachtung der chronischen Wirbelsäulenschmerzpatienten ist diese Behandlungskaskade häufig in Richtung der Schmerztherapie gekippt, während die differenzialdiagnostische Suche nach den Ursachen des Schmerzsignals häufig z.B. unter der Rubrik „ unspezifischer Kreuzschmerz“ zu früh subsumiert wurde. Heute ist der 80 % ige Anteil „unspezifischer“ Kreuzschmerz nicht mehr haltbar und die diagnostisch nicht identifizierbaren Schmerzursachen lassen sich derzeit auf 10–30 % reduzieren, Tendenz weiter fallend. Tatsache dabei ist aber auch, dass der diagnostische Aufwand sich in diesem Kollektiv mit lang bestehender Chronifizierung deutlich und teilweise sogar enorm vergrößert hat; und das ist wiederum verbunden mit ausgeklügelten multidisziplinären diagnostischen Strategiekonzepten und auch gezielten interventionellen diagnostischen Methoden.</p> <h2>Therapieziele</h2> <p>Generell sollte überdacht werden, welche Therapieziele für dieses Kollektiv definiert werden und nach welchen Kriterien diese Therapieziele priorisiert werden. Übergeordnet ergeben sich neben anderen Kriterien zwei klassische Therapieziele: einerseits die Aktivierung des Patienten und andererseits die Reduktion der Schmerzen.<br /> Die häufigsten Ursachen für chronische Schmerzen im Stütz- und Bewegungssystem sind mit der Wirbelsäule assoziiert (mehr als 50 % ). Eine wesentliche Frage dabei ist, ob eine Chronifizierung verhindert werden kann. Derzeit steht allerdings fest, dass Patienten mit akuten Schmerzen zu oft in die Chronifizierung übergehen.<br /> Zurzeit gibt es zumindest zwei Strömungen im Sinne des Herangehens an das Kollektiv von chronischen Schmerzpatienten. Auf der einen Seite steht die Überzeugung, dass der Schmerz per se letztendlich die Diagnose selbst ist und die Therapie in erster Linie in einer komplexen Schmerztherapie besteht. Die Ursache für den Schmerz selbst, die somit häufig nicht differenziert diagnostiziert ist, wechselt dabei vom Symptom zur eigentlichen Diagnose und führt dann über das „Schmerzgedächtnis“ zum persistierenden therapeutischen Angriffsziel. Ob und ab welchem Zeitpunkt der Chronifizierung dieser Wechsel stattfindet, scheint von vielen individuellen Einflüssen abhängig zu sein und lässt sich nicht eindeutig festlegen. Es muss allerdings in vielen Fällen davon ausgegangen werden, dass bei diesen Patienten die eigentliche Schmerzursache oft nicht erfolgreich therapiert werden konnte bzw. die Schmerz­ursache häufig nicht differenziert diagnostiziert wurde. Nicht zuletzt dadurch werden diese Patienten in weniger qualifizierte Systeme geroutet, wodurch sich die Chronifizierung oft noch wesentlich verlängert.<br /> Auf der anderen Seite setzt sich im therapeutischen Ansatz zunehmend durch, dass das primäre Therapieziel der Schmerzminderung bzw. Schmerzbekämpfung hinter den Ansatz der Aktivierung des Patienten mit den Möglichkeiten der Teilhabe und einer zunehmenden Eigenverantwortlichkeit zurücktritt. Diesem Therapieansatz liegt das biopsychosoziale Therapiemodell zugrunde, das die Aktivierung, Teilhabe und soziale und/oder berufliche Reintegration des Patienten zum Ziel hat. Dieses Therapiemodell erfüllt – von seiner Struktur und seiner Zielsetzung her – an und für sich alle Kriterien, die im Rahmen der multimodalen Konzepte chronischer Schmerzpatienten zu erfüllen sind; und das sowohl in den personellen Strukturkriterien als auch in den Ansätzen der therapeutischen Multimodalität und Interdisziplinarität sowie den therapeutischen Zielsetzungen. Diese Kriterien des Struktursettings und der therapeutischen Ziele finden sich umfassend im Bereich der orthopädischen Rehabilitation mit den entsprechenden Leistungsanforderungen, allerdings mit Einschränkungen: Die geforderten Therapieintensitäten für z.B. ein „functional restoration program“ können nur ca. zur Hälfte erreicht werden: statt 100 Stunden nur etwa 40 Stunden. Auch die Gewichtung zwischen aktivierenden und z.B. psychologischen Einheiten sollte in diesem Kollektiv noch individueller gestaltet werden können. Ganz grundsätzlich ist auch vorstellbar, dass Teile der aktivierenden Programme im Rahmen von tertiären Präventionsmodellen ambulant absolviert werden können. Hier fehlen allerdings noch variable Konzepte, die durch alle Kostenträger mitgetragen werden. Erste Projekte liefern eventuell mögliche diesbezügliche Modelle, in die gezielt aus diesem Patientenkollektiv zugewiesen werden kann.<br /> Eines der größten Probleme in dem Kollektiv der chronischen Schmerzpatienten ist das „failed back surgery syn­drome“. Dies ist insofern besonders bemerkenswert, als im Wesentlichen relative Indikationen zu wirbelsäulennahen Eingriffen führen. Bei genauem Hinsehen liegt die Häufigkeit dieser operativen Interventionen aber nicht daran, dass grundsätzlich diese Operationen so besonders gern durchgeführt oder unkritisch indiziert werden, sondern neben einigen anderen Gründen auch daran, dass es zwar einen Algorithmus für die Behandlung von akuten Schmerzen im Bereich des Stütz- und Bewegungssystems gibt, die Übergänge in den prächronischen Bereich dabei aber weitgehend unklar bleiben und es für die Behandlung von chronischen Schmerzen für dieses Kollektiv zurzeit noch immer keinen Behandlungsalgorithmus gibt. Dazu kommt, dass, auch wenn es sinnvoll erscheint, vor einem relativ indizierten operativen Eingriff ein aussichtsreiches konservatives Behandlungsmanagement vorzuschalten, es dafür derzeit kaum qualifizierte Möglichkeiten gibt – wie auch, wenn es an dieser Nahtstelle keinerlei Vernetzung gibt und konservative orthopädische Abteilungen kaum zur Verfügung stehen, um diese Anforderungen qualifizierter Diagnostik und multimodaler Therapie in ausreichendem Maße erfüllen zu können?</p> <h2>Fragen und Antworten</h2> <p>Im Verlauf unserer Tätigkeit in diesem Bereich der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen im Bereich des Stütz- und Bewegungssystems haben sich wesentliche Fragen ergeben: Gibt es verwertbare medizinische Kennzahlen aus dem derzeitigen Behandlungssystem, die Rückschlüsse auf Behandlungsergebnisse dieses Patientenkollektivs zulassen? Gibt es im Verlauf des Behandlungsalgorithmus eine ausreichend differenzierte Aufschlüsselung dieses bei genauer Betrachtung sehr heterogenen Kollektivs? Kann es u.a. an Strukturmängeln in der Behandlung des akuten Schmerzes liegen, dass eine zu hohe Zahl von Patienten in den prächronischen oder chronischen Bereich abgleitet? Können und werden diese chronifizierten Patienten rechtzeitig in qualifizierte Einrichtungen übergeben, damit viel früher standardisierte Diagnoseverfahren zum Einsatz kommen und in denen einen Multimodalität möglich ist? Müsste regelhaft im Rahmen der Akutbehandlung früh eine Chronifizierungstendenz untersucht und erkannt werden? Könnte eine gezielte sekundäre Prävention die Zahl der Chronifizierungen deutlich senken? Gibt es tragfähige Konzepte, die mit einem, von einem Screening gesteuerten, sekundärpräventiven Ansatz eine Chronifizierung verhindern? Sind wirklich multimodale Ansätze mit ausreichenden Intensitäten sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie nach internationalem Standard überhaupt durchführbar? Ist im derzeitigen Struktursetting ein abgerundetes Konzept denkbar, das von einer sekundären Prävention über die Akutbehandlung und die multimodalen Therapiepläne bei einer Chronifizierung bis hin zu tertiären Präventivprogrammen führen kann?<br /> Differenzierte Kennzahlen werden derzeit entwickelt, und wir werden die ersten Jahresergebnisse in einem weiteren Artikel in dieser Ausgabe vorstellen. Eine Differenzierung des Kollektivs wurde dabei vorgenommen. Ob diese allerdings schon ausreicht, werden die Daten zeigen. Im Rahmen der Behandlung entlang des Algorithmus des akuten Schmerzes muss sicherlich standardisiert frühzeitig die Chronifizierungstendenz des Patienten erfasst werden, um rechtzeitig schon in diesem Bereich mit multimodalen, vorwiegend ambulanten Konzepten zu beginnen. Der Einsatz eines rechtzeitigen umfassenden diagnostischen Systems erscheint in diesem Zusammenhang eigentlich als eine Conditio sine qua non, speziell was die klinischen Untersuchungstechniken und die notwendigen bildgebenden Verfahren betrifft, ist aber bei Weitem nicht Standard – nicht zuletzt deswegen, weil qualifizierte konservative orthopädische Einrichtungen nicht rechtzeitig, nicht in ausreichendem Ausmaß oder überhaupt nicht zur Verfügung stehen.<br /> Prävention sowohl im sekundären wie auch im tertiären Setting ist ein wesentlicher Schlüssel in diesem Behandlungsalgorithmus, die diesbezüglichen Strukturschwächen sind allerdings seit Jahren bekannt. Zur Erinnerung: Seit 1999 laufen die Bemühungen um ein österreichisches Präventionsgesetz, das es bis heute noch immer nicht gibt. Besonders bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass sich in der Begutachtungsphase bis jetzt vorwiegend Kammern und nicht medizinische Institutionen zu Wort gemeldet haben, die Einwände oder strukturelle und inhaltliche Vorschläge medizinischer Fachgesellschaften allerdings bestenfalls enden wollend sind. Somit muss auch die Frage nach einem abgerundeten Konzept verneint werden.</p></p>
<p class="article-footer">
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<p>beim Verfasser</p>
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