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Ein neuer Aspekt in der Hautkrebsdebatte

Sonnenlicht in der kardiovaskulären Prävention

Es scheint an der Zeit für eine Neuevaluierung der Sachlage: War das Sonnenlicht früher vor allem als Nutzbringer bekannt, folgte in den letzten Jahren fast eine Verteufelung. Neuesten Daten zufolge ist ein völliges Vermeiden von UV-Strahlung allerdings mit einer signifikanten Steigerung von kardiovaskulärer und der Gesamtmortalität verbunden. Das Schlüsselmolekül ist dabei in der Haut gespeichertes und von UV-Strahlung freigesetztes Stickstoffmonoxid (NO).

Vor 100 Jahren war das Sonnenlicht hauptsächlich als Heilbringer bekannt: In Schottland beispielsweise wurden auf Klinikgeländen drehbare Hütten aufgestellt, damit sich Tuberkulosepatient:innen konstant der Sonne aussetzen konnten; an der Aussenwand dunkler Wohnungen wurden Körbe installiert, um Kleinkindern regelmässige Sonnenbäder für die Prävention der Rachitis zu erlauben. Demgegenüber stünden heutzutage die Gefahren des Sonnenlichts, hauptsächlich bezüglich Hautkrebserkrankungen, eindeutig im Vordergrund, erklärt Univ.-Prof. Dr. med. Richard B. Weller von der Universität Edinburgh: So heisse es fast grundsätzlich: Bitte Sonne vermeiden, Sonnenschutz und langärmelige Kleidung tragen.

Saisonal bedingter Blutdruck

Selbstverständlich ist das UV-Licht ein Risikofaktor für Melanome. Für vorzeitige Morbidität und Mortalität insgesamt ist aber eindeutig die Hypertonie der wichtigste Risikofaktor – der hohe Blutdruck hat damit das Rauchen überholt.1

Interessanterweise korreliert der Blutdruck dabei weltweit mit dem Breitengrad und der Jahreszeit: Je näher die Lage eines Landes zum Äquator, desto geringer sei der durchschnittliche Blutdruck der Bevölkerung. Es sind natürlich unterschiedliche Länder, mit anderen Sitten und Ernährungsgewohnheiten. Aber bei der Beobachtung einzelner Länder ist «klar erkennbar», dass der Blutdruck im Sommer signifikant niedriger ist als im Winter; laut Studien ist der Effekt der Jahreszeit dabei ebenso hoch wie der Effekt eines Blutdrucksenkers.2 Welcher Mechanismus könnte dieser Beobachtung zugrunde liegen?

Orales Vitamin D bietet keinen Schutz

Der offensichtliche erste Kandidat ist Vitamin D, nachweislich ein ausgezeichneter Marker für die Exposition an Sonnenlicht. Und: Je niedriger gemessene Vitamin-D-Werte, desto höher die Wahrscheinlichkeit für Hypertonie, kardiovaskuläre Erkrankungen und die Gesamtmortalität.3–5 Doch Korrelation ist bekanntlich nicht Kausalität: Laut einer Metaanalyse (n=250000) hat die orale Vitamin D-Ergänzung keinen Einfluss auf Blutdruck, Krebsinzidenz, Myokardinfarkt und Schlaganfall.6

Ein New-England-Journal-of-Medicine (NEJM)-Editorial forderte daher von Gesundheitsversorgern, «weder Vitamin-D-Werte zu erheben noch Vitamin D zu empfehlen; Menschen sollten aufhören, Vitamin-D-Ergänzungsmittel zur Prävention schwerer Krankheiten oder zur Lebensverlängerung einzunehmen».7

Vitamin D ist ein Marker der Sonnenlichtexposition, es verhindert sicher die Rachitis und kann vielleicht das Fortschreiten mancher Krebserkrankungen verlangsamen – aber das sei es auch schon, fasst Weller zusammen. Die «gigantische» Variabilität der Mortalitätsraten je nach Jahreszeit sei damit jedenfalls nicht geklärt.

NO der Haut: Vasodilatation unter UV-Bestrahlung

Der nächste Kandidat war Stickstoffmonoxid (NO). Weller selbst wies bereits Ende der 1990er-Jahre nach, dass die Haut signifikante Speicher oxidierter Formen von NO enthält.8 Zur Erinnerung: Arginin wird von der NO-Synthase (NOS) zu NO umgebaut, dann weiter zu Nitrit und Nitrat, was über die Nieren ausgeschieden wird. 2003 folgte die Erkenntnis, dass UV-Licht in Anwesenheit von Thiol(SH)-Gruppen diesen Vorgang tatsächlich rückgängig machen und das – bis dato als stabil angesehene – Nitrat wieder zu Nitrit und NO umbauen kann.9 UV-Licht wiederum kann diese NO-Speicher in der Haut freisetzen (die Aminosäuren in der Haut enthalten viele Thiol-Gruppen).10

Das von UV-Licht freigesetzte NO wiederum wirkt tatsächlich als arterieller Vasodilatator, wie in einer Studie mittels Plethysmografie am Unterarm nachgewiesen wurde.11 Der unter UV-Licht erhöhte Blutfluss erfolgte dabei unabhängig von der NOS-Aktivität, was auf eine Beteiligung von bereits existierenden NO-Speichern verweise, ergänzte der Dermatologe.

Als nächsten Schritt führte Weller eine grosse Studie an 342457 Hämodialyse-Patient:innen durch, an denen dreimal wöchentlich der Blutdruck gemessen wurde; unter Berücksichtigung von Wetterkarten wurde demonstriert, dass die Exposition an UV-Strahlung mit niedrigerem Blutdruck assoziiert war, unabhängig von der Umgebungstemperatur.12 Könnte daher umgekehrt unzureichendes Sonnenlicht ein Risikofaktor für Hypertonie sein?

Weller verweist auf relativ neue Daten, wonach in Grossbritannien zwischen Winter und Sommer ein Unterschied von 6mmHg systolisch beobachtet werden kann.13 Und die Senkung des systolischen Blutdrucks um 6mmgHg entspricht einer Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse um 20–25%.14,15 Diese Studiendaten spiegeln ausserdem weitere Ergebnisse wider, wonach die kardiovaskuläre Mortalität in Grossbritannien im Winter um 23% höher ist als im Sommer – wobei die Temperatur für die Hälfte dieses Unterschiedes verantwortlich ist.16

2016 wurden die Ergebnisse einer 1990 instigierten Studie an 30000 Frauen und deren Sonnenexposition veröffentlicht, korrigiert für mögliche Störfaktoren wie körperliche Aktivität, Alter, Rauchen, Alkohol, Ausbildung und Komorbiditäten; primärer Endpunkt war die Gesamtmortalität.17 Demnach hatten Frauen mit dem höchsten UV-Score von 4 «zwar mehr Fälle an Melanom – aber auch ein um rund 50% geringeres Mortalitätsrisiko als Frauen mit Sonnenexposition 0.»

Reduzierte kardiovaskuläre und Krebsmortalität

Noch nicht veröffentlicht ist eine aktuelle Untersuchung von Weller zur Frage, ob die UV-Exposition auch in Grossbritannien die Mortalität beeinflusst. Basis der Analyse war die «UK-Biobank» mit rund einer halben Million Menschen mittleren Alters, deren Daten erstmals zwischen 2000 und 2005 erhoben wurden – inklusive der Exposition an UV durch Solarium oder UV-Lampen, denn man wisse, dass diese Menschen auch aktiver die Sonne aufsuchen und sich häufiger sonnen, also quasi «Sonnenanbeter:innen» sind, so Weller.

Die zweite berücksichtigte Messung war der Breitengrad, und auch hier wurde für mögliche Störfaktoren korrigiert. Demnach haben Sonnenanbeter:innen tatsächlich höhere Messwerte von Vitamin D im Blut – aber auch eine um 14% reduzierte Gesamtmortalität im Vergleich zu den «Sonnenvermeider:innen», vor allem eine reduzierte kardiovaskuläre Mortalität. Wirklich interessant sei ausserdem das Ergebnis, dass die Sonnenanbeter:innen eine um 13% reduzierte Krebsmortalität haben, einschliesslich Hautkrebs!. Und: Je weiter im Süden die Menschen leben, desto höher ihre Vitamin-D-Werte; mit jeden 300km weiter südlich ist eine 6%ige Reduktion der Gesamtmortalität und eine 9%ige Reduktion der kardiovaskulären Mortalität verbunden.

Kommentar von Weller: Bekannt sei bereits, dass Patient:innen mit Hautmelanom und höheren Vitamin-D-Werten eine bessere Prognose haben, und dass im Freien Tätige eine geringere Melanom-bezogene Mortalität als solche, die drinnen arbeiten, haben. Damit habe man bestätigt, dass Menschen mit höherer Sonnenexposition eine geringere Melanom-bezogene Mortalität haben. Ausserdem hätten Sonnenanbeter:innen eine um 50 Tage längere Lebenserwartung als Sonnenvermeider:innen. Für den Experten scheint klar: Man muss das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Sonnenschein besser einstufen. Bei Medikamenten würde es ja auch heissen: Effektivität und Nebenwirkungen gegeneinander abwägen. Das scheine bei Sonnenlicht völlig vergessen zu werden.

Die Evidenz zeige, dass Sonnenlicht unabhängig von der Entwicklung von Vitamin D einen echten weiteren Nutzen habe, und darüber sollte man gründlich nachdenken, bevor man Patient:innen berät, forderte Weller abschliessend.

Vortrag «Sunscreens for all?» von Univ.-Prof. Dr. med. Richard B. Weller im Rahmen des Jahreskongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Dermatologie und Venerologie (SGDV), 6. September 2023, Lausanne

1 Lim SS et al.: A comparative risk assessment of burden of disease and injury attributable to 67 risk factors and risk factor clusters in 21 regions, 1990-2010: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2010. Lancet 2013; 380: 2224-60 2 Brennan PJ et al.: Seasonal variation in arterial blood pressure. BMJ 1982; 285: 919-23 3 Zhang D et al.: Effect of vitamin D on blood pressure and hypertension in the general population: an update meta-analysis of cohort studies and randomized controlled trials. Prev Chronic Dis 2020; 17: E03 4 Norman PE et al.: Vitamin D and cardiovascular disease. Circulation Res 2014; 114: 379-93 5 Chowdhury R et al.: Vitamin D and risk of cause specific death: systematic review and meta-analysis of observational cohort and randomised intervention studies. BMJ 2014; 348: g1903 6 Bolland MJ et al.: The effect of vitamin D supplementation on skeletal, vascular, or cancer outcomes: a trial sequential meta-analysis. Lancet Diabetes Endocrinol 2014; 2: 307-20 7 Cummings S et al.: VITAL findings – a decisive verdict on vitamin D supplementation. NEJM 2022; 387: 368-70 8 Weller RB et al.: Nitric oxide is generated on the skin surface by reduction of sweat nitrate. J Investig Dermatol 1996; 107: 327-31 9 Dejam A et al.: Thiols enhance NO formation from nitrate photolysis. Free Radic Biol Med 2003; 35: 1551-9 10 Feelisch et al.: Is sunlight good for our heart? Eur Heart J 2010; 31: 1041-5 11 Liu D et al.: UVA irradiation of human skin vasodilates arterial vasculature and lowers blood pressure independently of nitric oxide synthase. J Invest Dermatol 2014; 134: 1839-46 12 Weller RB et al.: Does incident solar ultraviolet radiation lower blood pressure? J Am Heart Assoc 2020; 9: e013837 13 Kollias A et al.: Seasonal blood pressure variation assessed by different measurement methods: systematic review and meta-analysis. J Hypertens 2020; 38: 791-8 14 Ettehad D et al.: Blood pressure lowering for prevention of cardiovascular disease and death: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2016; 387: 957-67 15 Rahimi K et al.: Age-stratified and blood-pressure-stratified effects of blood-pressure-lowering pharmacotherapy for the prevention of cardiovascular disease and death: an individual participant-level data meta-analysis. Lancet 2021; 398: 1053-64 16 Stewart S et al.: Seasonal variations in cardiovascular disease. Nat Rev Cardiol 2017; 14: 654-64 17 Lindqvist PG et al.: Avoidance of sun exposure as a risk factor for major causes of death: a competing risk analysis of the Melanoma in Southern Sweden cohort. J Intern Med 2016; 280: 375-87

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