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Impfkomplikationen sind selten, aber es gibt sie
Leading Opinions
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02.03.2017
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<p class="article-intro">Die Sorge um Impfkomplikationen treibt viele Eltern um, auch wenn der zu erwartende Nutzen einer Impfung viel grösser ist als das Risiko einer unerwünschten Wirkung. Wie man mit diesen Sorgen umgeht, wie die korrekte Meldung nach einer schwerwiegenden Impfreaktion aussieht und wer in einem solchen Fall haftet, über diese und andere Themen berichten wir vom IX. Schweizer Impfkongress.</p>
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<p class="article-content"><p>Eine vollständige Garantie, dass nach der Impfung von Kindern keine Nebenwirkungen auftreten, gibt es nicht. «Diese Botschaft sollte man den Eltern vor der Schutzimpfung ehrlich kommunizieren», empfahl Prof. Dr. med. Ulrich Heininger, Leitender Arzt der Abteilung für Infektiologie und Vakzinologie am Universitätskinderspital beider Basel, am IX. Schweizer Impfkongress. Aufgrund der Zahlen zur Impfschutzwahrscheinlichkeit könne man den Eltern aber versichern, dass der zu erwartende Nutzen grösser ist als das Risiko einer Impfkomplikation.<br /> Bei den Impfkomplikationen ist es nicht immer einfach, Nebenwirkungen und unerwünschte Ereignisse voneinander zu unterscheiden. Während Nebenwirkungen immer in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Arzneimittelgabe stehen, treten unerwünschte Ereignisse in einem zeitlichen Zusammenhang auf, sie können aber sowohl ursächlich wie auch zufällig sein. «Am einfachsten ist die Unterscheidung bei einer lokalen Impfreaktion», sagte Heininger. Schwierig bis teilweise unmöglich ist die Differenzierung, wenn bei den Kindern nach der Impfung Fieber auftritt, wie er anhand einer Grafik (Abb. 1) zur Häufigkeit von Impfkomplikationen im Vergleich zu Placebo verdeutlichte.<sup>1</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Innere_1701_Weblinks_s11_abb1.jpg" alt="" width="1425" height="948" /></p> <h2>Entschädigung und Genugtuung nach Impfschäden</h2> <p>Für Schäden, die im Zusammenhang mit den vom Bund empfohlenen Schutzimpfungen auftreten, leistet der Bund konsequenterweise auch eine angemessene Hilfe. «Diese Regelung war bereits im Epidemiengesetz (EpG) von 1970 vorgesehen, aber nur wenigen Personen bekannt und kam deshalb selten zur Anwendung», sagte Dr. med. Catherine Bourquin von der Sektion Impfempfehlungen und Bekämpfungsmassnahmen des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Das am 1. Januar 2016 in Kraft getretene revidierte EpG (Art. 64–69) sieht neu ein einheitliches Verfahren für die Gesuche vor. Die Beurteilung und Entscheidung, ob eine Entschädigung oder Genugtuung gesprochen wird, obliegt dem EDI. Bund und Kantone übernehmen eine subsidiäre Haftung. Mit anderen Worten: Diese übernehmen die Entschädigung, wenn der Schaden nicht durch Dritte gedeckt wird. Das Ziel dieser Regelung ist, ungenügende Leistungen Dritter zu ergänzen. Als Ausdruck der gesellschaftlichen Anerkennung der schwierigen Situation, die der Person durch einen Impfschaden entstanden ist, wurde im Gesetz neu die Genugtuung aufgenommen. Die Zahlung einer Genugtuung ist auf schwere physische und psychische Beeinträchtigungen begrenzt und abhängig von der Schwere. Auch in diesem Fall übernehmen Bund und Kantone eine subsidiäre Haftung.</p> <h2>Was und wann melden?</h2> <p>Der Verdacht auf schwerwiegende, bisher unbekannte oder auch ungenügend in der Fachinformation erwähnte unerwünschte Wirkungen sollte an das kantonale Pharmakovigilanz-Zentrum gemeldet werden. Die Kontakte und der genaue Ablauf der Meldung sind auf der Website der Swissmedic zu finden. Schwerwiegende Ereignisse sollten innert 15 Tagen gemeldet werden, nicht schwerwiegende in einem Zeitraum von 60 Tagen. «Die zeitnahe Meldung ist wichtig, damit man beispielsweise im Zusammenhang mit einer neu ausgelieferten Impfstoffcharge rasch darauf reagieren kann», betonte Heininger. Neben dem konventionellen Meldeformular gibt es seit zwei Jahren die Möglichkeit, die Vorkommnisse über das «Electronic Vigilance System» (ElViS) zu melden. Dazu muss man sich zunächst registrieren. Über die Swissmedic-Website hat man zudem die Möglichkeit, sich über die gemeldeten unerwünschten Ereignisse zu informieren. Im Jahr 2015 wurden 278 Verdachtsfälle von unerwünschten Wirkungen in Zusammenhang mit Impfungen gemeldet. Das waren ungefähr gleich viele Fälle wie 2014 (296 Fälle), aber rund doppelt so viele wie im Jahr 2013 (138 Fälle). «Da die Gesamtzahl der Impfungen, die 2015 durchgeführt wurden, unbekannt ist, können aus der Melderate keine definitiven Schlussfolgerungen gezogen werden», erklärte Heininger. Die Analyse der 2015 gemeldeten Fälle zeigt, dass unerwünschte Ereignisse am häufigsten in der Altersgruppe der 17- bis 69-Jährigen auftraten, wobei Frauen häufiger betroffen waren als Männer. Die Ursache für diesen Geschlechterunterschied ist unklar. Eine Erklärung könnte sein, dass Frauen eher Rückmeldung erstatten als Männer. Der Spezialist äusserte allerdings seine Zweifel an der Zuverlässigkeit im Umgang mit Impfkomplikationen. So wurden 2015 bei den unter 2-jährigen Kindern nur gerade 30 Verdachtsfälle gemeldet, obwohl in dieser Altersgruppe sehr viel geimpft wird.<br /> Beim Vergleich der gemeldeten Verdachtsfälle nach Impfstoffgruppen zeigte sich, dass die meisten unerwünschten Wirkungen im Zusammenhang mit der Influenzaimpfung aufgetreten sind (Abb. 2).<sup>2</sup> «Dies verwundert nicht, denn mit mehr als 1 Million Dosen jährlich ist diese die am häufigsten verwendete Impfung in der Schweiz», so der Spezialist.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Innere_1701_Weblinks_s11_abb2.jpg" alt="" width="1783" height="1173" /></p> <h2>Nationale Impfstrategie zur Masernelimination</h2> <p>Das EpG ermächtigt das BAG unter Einbezug der Kantone und interessierter Kreise, ein nationales Impfprogramm auszuarbeiten. Die nationale Strategie zu Impfungen steht mit dem globalen Impfaktionsplan der WHO und mit dem europäischen Impfaktionsplan in Einklang und basiert auf den spezifischen Bedürfnissen und Erfahrungen, die für die Schweiz identifiziert wurden.<br /> In der Schweiz genehmigte der Bundesrat 2011 die nationale Strategie zur Elimination der Masern. Diese war vom BAG in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren entwickelt worden und wurde von 2012 bis 2015 umgesetzt. Den Hintergrund bildeten zwei bedeutende Masernepidemien in Europa und der Schweiz in den Jahren 2006 und 2011. Diese führten dazu, dass die WHO als Ziel für die Eurozone (zu der auch die Schweiz zählt) per 31. Dezember 2015 eine Durchimpfrate (2 Impfdosen) von 95 % und eine Maserninzidenz von weniger als 1 Fall/1 Mio. erklärten.<br /> Die Masern gehören seit 1999 zu den meldepflichtigen Erkrankungen. Zum Zeitpunkt der 2. Masernepidemie war die Durchimpfrate mit 73–95 % in den Kantonen sehr heterogen. «Einige Ergebnisse der Evaluierung (Juli 2015 bis November 2016) lassen sich bereits zusammenfassen, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Auswirkungen der Strategie erkennbar sind», sagte Valérie Henry vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin in Lausanne. Was die operativen Ziele betrifft, konnte die Durchimpfungsrate von 95 % nicht erreicht werden. Die Durchimpfungsrate wurde aber in allen Kantonen verbessert und liegt zum Teil sehr nahe an den Zielvorgaben. Eine anhaltende Inzidenz von Zu den Faktoren, die die Durchimpfungsrate ungünstig beeinflussten, gehörten die schwierige Erreichbarkeit bestimmter Zielgruppen, darunter Erwachsene und Kleinkinder in Betreuungseinrichtungen. Andere Gründe waren Vorbehalte bei gewissen Fachpersonen gegenüber der Impfung und Unterschiede in den personellen und finanziellen Ressourcen zwischen den Kantonen. Die niedrige Durchimpfungsrate in den angrenzenden Nachbarländern verdeutlichte aber auch, dass die Schweiz die Masern nicht alleine ausrotten kann. Es handelt sich vielmehr um ein Problem, das nur gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern bewältigt werden kann.</p> <h2>Welche Faktoren beeinflussen die Durchimpfungsrate in den Kantonen?</h2> <p>Bei den Durchimpfungsraten gegen Hepatitis- B-Viren (HBV) und humane Papillomaviren (HPV) bei Teenagern existieren ebenfalls deutliche Unterschiede zwischen den Kantonen. Mit dem Ziel, mehr über die Faktoren zu erfahren, die die Impfrate beeinflussen, wurden in der FEVAC-Studie kantonale Behörden, Gesundheitsfachleute, Eltern und Jugendliche befragt.<sup>3</sup> Verglichen wurden je 4 Kantone mit einer hohen («high vaccination coverage», HVC) und einer niedrigen Impfrate («low vaccination coverage», LVC).<br /> Dabei zeigten sich über alle Gruppen hinweg wichtige Unterschiede zwischen den verglichenen Kantonen. «Während beispielsweise die kantonalen Behörden der LVC-Kantone den Impfschutz nicht als prioritäre Aufgabe ansahen, betrachteten die Behörden der HVC-Kantone diesen als eine ihrer Hauptverantwortlichkeiten», sagte Dr. med. Virginie Masserey Spicher von der Sektion Impfkontrolle und Impfprogramm des BAG. Vergleichsweise gering war das Engagement der Behörden in den LVC-Kantonen, die das Thema Impfungen in der Verantwortung jedes Einzelnen sahen und den Gemeinden in Sachen Schulgesundheit viel Freiheit liessen. Im Unterschied dazu wurde in den HVC-Kantonen die Schulgesundheit kantonal koordiniert.<br /> Wichtige Unterschiede bestanden auch bei der Durchführung der Impfung. In den LVC-Kantonen waren fast ausschliesslich Privatärzte und in 2 von 4 vorwiegend Allgemeinärzte für die Impfungen verantwortlich. Dagegen erfolgte die Impfung von Teenagern gegen HBV/HPV in den HVC-Kantonen vorwiegend durch Kinderärzte und in den Schulen durch Pflegefachpersonen. Was die Rolle der Ärzte bei den Impfungen betraf, so nahmen diese in den LVC-Kantonen eine eher passive Rolle ein. Dagegen sahen die Ärzte der HVC-Kantone das Impfen als Teil ihrer täglichen Arbeit und einen wichtigen Beitrag zur Public Health. Die Bevölkerung der LVC-Kantone stand der Impfung insgesamt kritischer gegenüber. Die vorherrschende Meinung der befragten Personen aus den LVC-Kantonen war, dass Impfungen wichtig sind, um eine Verbreitung von Krankheiten zu verhindern und sich selbst und gefährdete Personen vor schweren Erkrankungen zu schützen. Daneben existierte aber auch die Meinung, dass ein Zuviel an Impfungen dazu führe, dass der Körper nicht mehr in der Lage sei, Krankheiten selbst zu bewältigen.<br /> Aus den Ergebnissen der Untersuchung liess sich ableiten, dass die Durchimpfungsrate verbessert werden könnte, wenn die Interventionen von kantonalen Gesundheits- und Schulbehörden systematischer, strukturierter und koordinierter erfolgen würden.</p> <h2>Der Erfolg einer Impfung ist abhängig von Impfstoff und Impfprogramm</h2> <p>Die perfekte Impfung besteht aus einem wirksamen Impfstoff und einem Impfprogramm, mit dem die notwendige Abdeckung erreicht wird. «Häufig ist es so, dass die Wirksamkeit (‹efficacy›) des Impfstoffes sehr gut untersucht ist, die Anwendung (‹effectiveness›) aber nicht», sagte Prof. Dr. med. Matthias Egger, Direktor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin in Bern. Einen Beitrag zur Problemlösung könnten pragmatische Impfstudien leisten, die nicht nur die Wirkung des Impfstoffs, sondern das gesamte Impfprogramm in einer breiteren Studienpopulation und im Routine-Setting beispielsweise Arztpraxen- oder Spital-basiert testen. Bis heute werden die meisten Impfstudien explanatorisch durchgeführt. Dazu wird der Impfstoff in einer eng definierten Studienpopulation mit zumeist gesunden Freiwilligen mit Placebo verglichen. «Da für das Ergebnis nur die Immunogenität angeschaut wird, sind in der Regel weitere Untersuchungen nötig, bevor der Impfstoff in einer grösseren Population zur Anwendung kommt», sagte Egger. Im Unterschied dazu könne ein Impfstoff, der in einer pragmatischen Studie getestet wurde, sofort eingesetzt werden. Als Beispiel führte er die randomisierte Studie der Ringimpfung gegen Ebola in Guinea, Westafrika, an.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: IX. Schweizer Impfkongress, 10.–11. November 2016,
Basel
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<p class="article-footer">
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<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Ruiz-Palacios GM et al: Dose response and efficacy of a live, attenuated human rotavirus vaccine in Mexican infants. Pediatrics 2007; 120: e253-61 <strong>2</strong> Swissmedic, Pharmacovigilance: Zusammenfassung zu den in der Schweiz gemeldeten unerwünschten Ereignissen nach Impfungen im Jahr 2015. https://www.swissmedic.ch/marktueberwachung/ 00135/00160/index.html?lang=de <strong>3</strong> Masserey Spicher V: Factors explaining differences in vaccination coverage across cantons in Switzerland 2014-2015. Unpublished data</p>
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