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MS State of the Art 2024

Die Bedeutsamkeit von Impfungen bei MS

Durch den Anstieg der Zahl wirkungsvoller, aber immunsuppressiver Behandlungen bei MS liegt ein besonderes Augenmerk auf der Vermeidung von Infektionskrankheiten. Prof. Renaud Du Pasquier vom Universitätsklinikum Lausanne und PD Dr. med. Ilijas Jelcic vom Neurozentrum Basel stellten die neuesten Studien und Empfehlungen zu Impfungen bei MS vor und betonten die Wichtigkeit eines behandlungsübergreifenden Konzeptes.

Die Zahl der immunmodulierenden und teils immunsupppressiven Therapien (DMT), welche unter anderem in der Behandlung der Multiplen Sklerose zum Einsatz kommen, ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Eine wachsende Anzahl von Patient:innen weist somit mehr oder weniger stark ausgeprägte Immundefizite auf, was mit einem erhöhten Risiko für eine Infektion einhergeht und eine komplexe Beratung und Vorsorge erfordert.

Unzureichender Impfstatus von MS-Patient:innen

Derzeitige MS-Behandlungsstrategien umfassen immer häufiger eine Behandlung mit DMT, welche nachweislich gerade zu Beginn der Erkrankung wirkungsvoller sind als Therapien mit oralen Wirkstoffen1. Da DMT immunsupppressive Eigenschaften haben, werden sie mit Dauer der Behandlung zwar deeskaliert, dennoch wurde ein stark erhöhtes Auftreten von Infektionen verzeichnet. Infektionskrankheiten, gegen die geimpft werden kann, wie Influenza, Herpes zoster, Pneumokokken, Masern, Hepatitis-B und Covid-19, können unter DMT mitunter schwere Verläufe aufweisen.1 Hinzu kommt, dass Patient:innen unter Immunsuppressiva selten ausreichend geimpft sind, da immer wieder Bedenken über die Sicherheit und die Effizienz der Impfungen vorliegen. Somit besteht ein unzureichender Schutz gegen vermeidbare Risiken, ein Problem, das vor allem Länder ohne Impfpflicht betrifft.

Auch Aussagen, die Impfungen mit einem Auftreten von MS in Verbindung bringen, sind dem nicht zuträglich. Eine rezente gross angelegte Retrospektivanalyse an einem bayerischen Register mit 12262 MS-Patient:innen und 210773 Kontrollpatient:innen konnte über einen Zeitraum von 5 Jahren nach Impfung keine Anzeichen für diesen Sachverhalt finden.2–4 Zudem konnte entgegen einigen Aussagen kein erhöhtes MS-Rückfallrisiko nach einer Hepatitis-B-, Influenza-, Gelbfieber- oder Tetanusimpfung nachgewiesen werden.5,6 Sehr wohl führt jedoch ein Ausbruch einer Infektionskrankheit wie Influenza zu einem erhöhten Rückfallrisiko.

Richtlinien zur Impfung unter DMT

Vor einer Impfung sollte generell immer eine Risiko-Nutzen-Analyse durchgeführt werden, unter besonderer Berücksichtigung des Immunstatus des Patienten/der Patientin.

Während einer DMT sollte keine aktive Immunisierung erfolgen, mit Ausnahme bei Niedrigdosis-Glukokortikoid- oder Methotrexat-Therapien.

Eine passive Immunisierung kann generell ohne erhöhtes Risiko auch während einer DMT stattfinden, jedoch können B- und T-Zell-verringernde monoklonale Antikörper wie Alemtuzumab, Ocrelizumab, Rituximab, Ofatumumab und Shingosin-1-Phosphat Blocker zu einer fast gänzlichen Suppression der Immunantwort nach der Impfung führen.7–10 Somit ist zwar der Erfolg der Impfung eingeschränkt, dennoch liefert sie nachweislich einen ausreichenden Schutz für die Mehrzahl der Patient:innen.

Auch der Zeitpunkt der Impfung muss mit der Therapie koordiniert werden: Eine aktive Immunisierung sollte mindestens 4 Wochen vor einer DMT erfolgen, eine passive Immunisierung hingegen 2 Wochen vor oder je nach Wirkstoff auch während einer DMT. Zusätzlich muss nach erfolgter Behandlung mit immunsuppressiven DMT je nach Wirkstoff eine bestimmte Zeit abgewartet werden, bis eine Impfung erfolgen kann.11 Bei neu diagnostizierten Patient:innen und/oder unsicherer Impfungshistorie können manche Titer auch im Blut nachgewiesen werden, unter anderem Masern, Rubella und Varizella.

Eine erfolgreiche Koordination von Therapie und Impfungen erfordert somit eine enge Zusammenarbeit zwischen den behandelnden Neuroimmunolog:innen und den Impfspezialist:innen/Infektiolog:innen.

Covid-19-Impfung bei MS

Covid-19 ist weiterhin präsent und tritt vermischt mit Influenza auf. Ab 65 Jahren sollte jede:r, vor allem auch MS-Patient:innen, weiterhin jährlich geimpft werden. Eine Impfung unabhängig vom Alter sollte insbesondere bei Patient:innen mit MS plus chronischen Erkrankungen wie Diabetes, kardialen Erkrankungen oder Übergewicht und solchen mit hochgradiger Gehbehinderung oder bei Patient:innen unter einer Anti-CD20-Therapie durchgeführt werden. Ein Impfung gegen die neue Covid-19-Variante XBB.1.5 ist bald erhältlich.

Wie bereits bei den anderen Impfungen angesprochen, haben vor allem Sphingosin-1-Phosphat-Blocker durch Modulation der T- und B-Zellantwort Einfluss auf die Immunantwort: Patient:innen unter einer Siponimod- oder Fingolimod-Therapie zeigen eine stark verzögerte oder nicht messbare Immunantwort.12 Ähnliches gilt auch für Anti-CD20-Therapien, bei denen aber zumindest eine T-Zell-Antwort dokumentiert wurde. Trotz dieser Datenlage scheint ein ausreichender Schutz durch eine Impfung gewährleistet zu sein.13

Eine aktuelle Studie an 322 MS-Patient:innen, 136 davon waren an Covid-19 erkrankt, zeigt, dass nach einem Nachbeobachtungszeitraum von 18–24 Monaten nach Covid-19 keine Unterschiede in MS-Aktivität, MRI und Wahrnehmungsbeeinträchtigungen gegenüber MS-Patient:innen ohne Covid-19 bestanden.14 Auch nach drei Covid-19-Impfungen (mRNA) konnten keine Veränderungen an MS-Symptomen und kein Anstieg neuronaler Autoantikörper festgestellt werden.15

Gerade bei Anti-CD20-Therapien muss der beste Zeitpunkt einer Impfung bestimmt werden. Eine aktuelle Studie hierzu konnte zeigen, das zwischen 2 und 5 Monaten nach Impfung die Immunantwort am stärksten ist, somit ist eine Impfung zwischen den Anti-CD20-Therapie-Intervallen günstig.16 Immunbeeinträchtigte Patient:innen mit Covid-19 können zudem in der Frühphase mit Nirmatrelvir behandelt werden, um die Erkrankung zu stoppen.17

Vorträge von Prof. Renaud Du Pasquier und PD Dr. med. Ilijas Jelcic im Workshop ,,Vaccinations in the Context of MS: New Insights’’ auf dem MS State of the Art Symposium am 27. Januar 2024 in Luzern, Schweiz

1 Vollmer BL et al.: Front Neurol 2022; 12: 799138 2 Oikonen M et al.: Mult Scler 2011; 17(6): 672-80 3 Mailand MT et al.: J Neurol 2017; 264(6): 1035-50 4 Hapfelmeier A et al.: Neurology 2019; 93(9): e908-16 5 Confavreux C et al.: N Engl J Med 2001; 344(5): 319-26 6 Papeix C et al.: Rev Neurol 2021; 177(8): 980-94 7 Wiedermann U et al.: Wiener klinische Wochenschrift 2016; 4 8 Farez MF et al.: Neurology 2019; 93(13): 584-94 9 Lebrun C et al.: Rev Neurol 2019; 175(6): 341-57 10 Wagner N et al.: Bundesgesundheitsblatt 2019; 62(4): 494-515 11 Otero-Romero S et al.: Eur J Neurol 2023; 30(8): 2144-76 12 Proschmann U et al.: Multiple Sclerosis Journal 2023; 29(14): 1849-59 13 Zonozi R et al.: Sci Transl Med 2023; 15(724): eadh4529 14 Montini F et al.: J Neurol Neurosurg Psychiatry 2024; 95(4): 342-7 15 Blanco Y et al.: Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2023; 10(6): e200163 16 Woopen C et al.: Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2022; 9(6): e200031 17 Arbel R et al.: N Engl J Med. 2022; 387(9): 790-8

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