
Jugendliche in der Hausarztpraxis: Was ist zu beachten?
Autorin:
Dr. med. Linda von Ribbeck
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Königsfelderstrasse 1
5210 Windisch
E-Mail: dr.vonribbeck@gmail.com
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Jugendliche unterscheiden sich, wie auch Kinder, deutlich von Erwachsenen, was das Erkrankungsspektrum, aber auch den Umgang mit Gesundheit und Krankheit anbelangt. Die Kommunikation spielt hier eine entscheidende Rolle, um das Vertrauen des Jugendlichen zu gewinnen und die Grundlage für eine gute therapeutische Zusammenarbeit zu bilden. Was ist hierbei zu beachten und welche Erkrankungen spielen im Jugendalter eine besondere Rolle?
Keypoints
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Jugendliche sind weder grosse Kinder noch kleine Erwachsene.
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Sie haben eigene Bedürfnisse und befinden sich in einer fragilen Entwicklungsphase.
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Das Gespräch zu zweit kann helfen, ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Jugendlichen und dem Arzt aufzubauen.
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Der Arzt soll den Jugendlichen auf dem Weg in die eigenverantwortliche Gesundheitsfürsorge beratend und unterstützend begleiten.
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Die Prävention ist auch bei Jugendlichen ein wesentlicher Bestandteil der Grundversorgung.
Abb. 1: Bei der ärztlichen Betreuung von Jugendlichen muss die triadische Kommunikation, wie sie bei der Betreuung von Kindern üblich ist, in eine dyadische Kommunikation mit dem Jugendlichen übergehen
Jugendliche (zur besseren Lesbarkeit wird hier von «dem Jugendlichen» gesprochen, weibliche Jugendliche sind aber ebenso gemeint wie männliche Jugendliche) sind meist Teil des Patientenstamms einer Hausarztpraxis, sei es, dass sie vom Kinderarzt gewechselt haben, sei es, dass sie schon von klein auf in der Praxis betreut werden. Eine grosse Herausforderung in der Sprechstunde stellt die Kommunikation dar, welche von einer triadischen Kommunikation (Eltern, Kind, Arzt) in eine dyadische Kommunikation (Jugendlicher, Arzt) übergehen sollte (Abb. 1). Ein Vorteil des Gesprächs zu zweit ist z.B., dass der Jugendliche geneigter ist, dem Arzt Dinge zu erzählen, die vor den Eltern geheim bleiben sollen, wodurch eine bessere Vertrauensatmosphäre geschaffen werden kann. Themen wie Erfahrungen mit Suchtmitteln, Sexualität, Verhütung, ungewollte Schwangerschaften, aber auch Essstörungen oder Gewalterfahrungen können im Gespräch zu zweit leichter angesprochen werden. Der Jugendliche fühlt sich hier besonders wahr- und ernstgenommen. Nachteilig kann sein, dass der Jugendliche bestimmte Informationen nicht weitergibt, sodass ein einseitiges Bild entstehen kann. In manchen Fällen ist der Jugendliche auch überfordert, die Problematik, mit der er konfrontiert ist, in Worte zu fassen. Nicht selten wird diese auch als zu diffus erlebt und es braucht einen «Übersetzer». Die Rolle des Übersetzers können wiederum die Eltern oft gut übernehmen.
Das Zweiergespräch stärkt also den Jugendlichen in seiner Autonomie, aber auch in seiner Selbstverantwortung.
Rechtliche Aspekte
In Bezug auf die Selbstverantwortung sollten stets entwicklungspsychologische Aspekte Berücksichtigung finden. Die hirnorganische, körperliche und auch die psychische Entwicklung des Jugendlichen befinden sich in einem enormen Umbruch.1 Es ist ihm daher nicht immer möglich, Tragweite und Ernsthaftigkeit einer Erkrankung so zu erfassen, wie es für Erwachsene normal erscheint. Seine Auffassung oder Beurteilung eines Gesundheitsproblems hat eine eigene Färbung, mag leichtsinnig, gefährlich oder einfach naiv erscheinen. Hier gilt es, die Rolle der Eltern als hilfreiche Unterstützung zu integrieren, wenn die Grenzen des autonomen Handelns erreicht sind. Ein zentrales Merkmal ist hierbei die Urteilsfähigkeit in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt, z.B. die Einschätzung einer Operationsnotwendigkeit.
Die Urteilsfähigkeit wird im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) in Artikel 16 folgendermassen definiert: «Urteilsfähig im Sinne des Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.» Wichtig hierbei ist, dass keine fixe Altersgrenze angegeben wird, sondern die Urteilsfähigkeit im Kontext der individuellen psychosozialen Entwicklung des Kindes/Jugendlichen gesehen werden muss. Auch die konkrete Fragestellung und deren Tragweite für das Leben des Individuums ist entscheidend für die Einschätzung der Urteilsfähigkeit.2 Liegt nun im spezifischen Kontext eine Urteilsfähigkeit des Jugendlichen vor, gilt das Berufsgeheimnis des Arztes auch gegenüber seinen Eltern. Dies gilt es stets zu beachten, denn das Berufsgeheimnis bildet die Grundlage einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Arzt und Patient. Liegen nachvollziehbare Gründe für das Vorgehen des Jugendlichen vor und unterscheidet sich seine Einschätzung von derjenigen der Eltern, ist jedem Jugendlichen zu wünschen, dass er einen Arzt seines Vertrauens an seiner Seite hat, der ihn beratend unterstützen wird auf seinem individuellen Weg in die selbstverantwortliche Gesundheitsfürsorge.
Prävention
Prävention ist, ebenso wie im Kindesalter, auch im Jugendalter wichtig in der Grundversorgung. Sei es eine Beratung zur adäquaten Verhütung (welche nicht selten den ersten Schritt zu einem autonomen Gesundheitsverhalten darstellt), Aufklärung über Konsequenzen des Rauchens oder des schädlichen Medienverhaltens. Zur Prävention gehören natürlich auch die Impfungen, welche, je nach Reife des Jugendlichen, ebenfalls zunehmend in seinen Autonomiebereich fallen. Der schweizerische Impfplan sieht im Alter von 11–14/15 Jahren im Wesentlichen eine dTpa-Auffrischimpfung vor, eine Grundimmunisierung gegen Hepatitis B und Varizellen (wenn nicht schon erfolgt) und gegen humane Papillomaviren. Nähere Informationen sind der Tabelle 1 oder dem Impfplan zu entnehmen.3 Die Empfehlungen bezüglich der Impfung gegen Covid-19 sind nicht Teil des Impfplans und erfolgen über separate Informationen des Bundesamtes für Gesundheit.
Tab. 1: Empfohlene Basisimpfungen 2021 (Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Impffragen [EFIK] und des Bundesamtes für Gesundheit)3
Die Vorsorgeuntersuchungen sehen in der Schweiz eine Untersuchung im Jugendalter vor. Diese kann hervorragend als Standortbestimmung genutzt werden und sollte neben der problembezogenen Anamnese auch eine Erhebung des psychosozialen Kontextes enthalten. Die HEADSS-Anamnese kann als Orientierung dienen, um sämtliche Lebensbereiche des Jugendlichen zu erfassen und sich ein umfassendes Bild zu machen. «HEADSS» ist ein Akronym, dessen Einzelkategorien in Tabelle 2 beschrieben werden.4
Jugendliche gelten gemeinhin als Bevölkerungsgruppe mit sehr wenigen gesundheitlichen Beschwerden. Dies spiegeln auch die Ergebnisse der Gesundheitserhebung «Health Behaviour in School-aged Children» (HBSC) wider, welche alle vier Jahre in europäischen Ländern und Nordamerika durchgeführt wird. Gemäss dieser Erhebung schätzen 88,5% der 11- bis 15-Jährigen in der Schweiz ihren Gesundheitszustand als gut oder ausgezeichnet ein und 87,2% sind eher bis sehr zufrieden mit ihrem Leben. Dennoch berichten 40,7% der befragten Jugendlichen über mindestens zwei chronische physische und/oder psychoaffektive Beschwerden.5 Diese Zahlen zeigen, dass die subjektive Lebensqualität insgesamt eher hoch eingestuft wird und die Zufriedenheit mit dem Leben gross ist, obgleich vielleicht körperliche oder psychische Beschwerden vorliegen.
Krankheitserscheinungen
Das Jugendalter ist prädestiniert für bestimmte Erkrankungsgruppen, auf welche ein besonderes Augenmerk gelegt werden sollte. Hierunter fallen vor allem psychische und psychosomatische Erkrankungen, die ihren Beginn nicht selten im Jugendalter haben. Mit einer Prävalenz von rund 1% ist beispielsweise die Anorexia nervosa eine relativ häufige Erkrankung. Wie bei vielen anderen psychosomatischen Erkrankungen spielen auch hier sowohl körperliche als auch psychische Aspekte in der Ätiologie und in der Therapie eine Rolle. Entsprechend sollte das therapeutische Team auch Vertreter beider Disziplinen umfassen (idealerweise ärztlich und psychotherapeutisch).
Viele weitere der häufig vorgetragenen Beschwerden von Jugendlichen entsprechen funktionellen Beschwerden, seien es die chronische Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Schlafstörungen, Schwindel, Nausea oder das grosse Feld der Schmerzen: chronisch rezidivierende Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Knieschmerzen usw. All diese Beschwerden bedürfen selbstverständlich einer eingehenden Anamnese und körperlichen Untersuchung. Auf Red Flags muss geachtet werden. Gegebenenfalls sind weitere apparative Untersuchungen angebracht. Es darf aber bei unauffälligen Untersuchungsbefunden und Fehlen von Red Flags auch frühzeitig an eine multifaktorielle Ätiologie gedacht werden. Hier kann die HEADSS-Anamnese helfen, weitere psychosoziale Belastungsfaktoren zu erkennen, welche im Sinne des biopsychosozialen Modells zum Krankheitsgeschehen beitragen können.6 Im Anschluss kann die gemeinsame Erarbeitung eines Krankheitsmodells erfolgen. Biologische, psychische und soziale Aspekte sollten hier gleichermassen Beachtung finden. Die unauffälligen körperlichen Untersuchungsbefunde können zu einer grossen Entlastung führen.
Abb. 2: Das vertrauensvolle Gespräch zu zweit gibt dem Jugendlichen die Möglichkeit, auch Probleme zu thematisieren oder Fragen zu stellen, die er nicht vor den Eltern besprechen möchte
Das schwierige Gespräch
Was aber tun, wenn die Kommunikation in diesen oft schwierigen Fällen nicht gelingt und die wiederholt «unauffälligen» Untersuchungsbefunde nicht entlasten, sondern eher Anlass sind zu noch grösserer Sorge oder Verschiebung des Krankheitsfokusses? Die subjektive Beeinträchtigung liegt ja tatsächlich vor und ist für den Jugendlichen deutlich zu spüren. Ein unauffälliger Untersuchungsbefund, möglicherweise noch begleitet vom Satz «du hast nichts, du bist gesund», kann unangenehme Folgen haben. Der Jugendliche fühlt sich unverstanden oder nicht ernst genommen. Unter Umständen zweifelt er an der Kompetenz des Arztes, weil dessen Aussage nicht seiner eigenen Wahrnehmung entspricht. Dies führt zu Spannungen und Beeinträchtigung des Vertrauens. In diesen Fällen ist es ratsam, sich viel Zeit zu nehmen und die Sicht des Jugendlichen auf die Beschwerden und die vermutete Ätiologie genau zu erfragen. Oft ergibt sich hieraus ein gemeinsamer Weg aus der Sackgasse. Bei psychosomatischen oder funktionellen Erkrankungen ist eine aktiv vom Arzt eingeforderte Nachkontrolle oft hilfreich, um den Jugendlichen in seinen Gesundungsbetrebungen ernst zu nehmen und ihn aktiv zu begleiten. Die «Kontrolle bei Bedarf» wird oft erst dann wahrgenommen, wenn der Jugendliche den Grossteil seiner Gesundheitskompetenz wieder verloren hat und die Not in vielen Bereichen wieder gross ist. In manchen Fällen wird sie auch gar nicht wahrgenommen und stattdessen der Arzt gewechselt. Die aktiv vom Arzt eingeforderte Verlaufskontrolle hat hier präventiven Charakter und zahlt sich oft für beide Seiten aus.
Fazit
Jugendliche stehen im Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Autonomie. Sie sind weder grosse Kinder noch kleine Erwachsene, haben eigene Bedürfnisse und müssen viele Entwicklungsaufgaben bewältigen. Die Wechselwirkungen zwischen dem schulischen Alltag, der Peergroup, dem familiären Umfeld und den Krankheitserscheinungen sind gross und fallen in eine fragile Zeit der Entwicklung, in der sie beträchtliche Ausmasse annehmen können. Jedem Jugendlichen ist daher ein Arzt seines Vertrauens zu wünschen, der ihm kompetent, beratend und unterstützend auf seinem Weg in die eigenverantwortliche Gesundheitsfürsorge zur Seite steht.
Literatur:
1 Konrad K et al.: Hirnentwicklung in der Adoleszenz. Neurowissenschaftliche Befunde zum Verständnis dieser Entwicklungsphase. Dtsch Arztebl Int 2013; 110: 425-31 2 SAMW: Medizin-ethische Richtlinien. Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis. 2019 https://www.samw.ch/dam/jcr:f280a76e-f5d9-4a83-b80d-5debe56507ae/richtlinien_samw_urteilsfaehigkeit.pdf 3 Bundesamt für Gesundheit (BAG), Eidgenössische Kommission für Impffragen (EFIK): Schweizerischer Impfplan 2021. BAG 2021 https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-leben/gesundheitsfoerderung-und-praevention/impfungen-prophylaxe/schweizerischer-impfplan.html 4 Goldenring JM, Cohen E: Getting into adolescent heads. Contemp Pediatr 1988; 5: 75-90 5 Ambord S et al.: Gesundheit und Wohlbefinden der 11- bis 15-jährigen Jugendlichen in der Schweiz im Jahr 2018 und zeitliche Entwicklung; Resultate der Studie «Health Behaviour in School-aged Children» (HBSC) Lausanne, Mai 2020; Forschungsbericht Nr. 113 6 Egger JW: Das biopsychosoziale Modell. SÄZ 2018; 99: 1156-8
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