
©
Getty Images
Epidemiologische Daten zur Tonsillektomie in Österreich
Jatros
Autor:
MR Dr. Wilhelm Streinzer
Ngl. Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Wien <br> E-Mail: wilhelm.streinzer@inode.at
30
Min. Lesezeit
23.03.2017
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">In den Jahren 2006/2007 starben in Österreich fünf Kinder im Alter unter sechs Jahren infolge von Blutungen nach vollständiger Entfernung der Gaumenmandeln (Tonsillektomien). Die HNO-Ärzteschaft wurde durch Presseberichte auf diese Häufung aufmerksam, es gab bis dahin keine statistischen Daten.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Pneumo_1701_Weblinks_istock-531918370_web.jpg" alt="" width="820" height="324" /></p> <p>Berichte über Todesfälle kannte man nur vom „Hörensagen“, „Genaueres“ war nicht bekannt. Die Todesfälle führten in Österreich zu einem Umdenken hinsichtlich der OP-Indikationen und der OP-Technik. Es kam zu einer Änderung der intraoperativen Blutstillungsverfahren sowie der präoperativen Diagnostik von Blutungsneigungen und zu Adaptierungen bei den Operationsverfahren. Statt eine komplette Ausschälung der Mandeln (Tonsillektomie) vorzunehmen, wurden vor allem bei Kindern neuere Operationstechniken zur Verkleinerung der Mandeln unter Belassung der Tonsillenkapsel (Tonsillotomie) eingesetzt.</p> <h2>Indikationen zur Entfernung der Tonsillen</h2> <p>Dies wurde in einem Konsensuspapier von den HNO-Fachärzten und den Fachärzten für Kinder- und Jugendheilkunde erarbeitet, festgelegt und Ende des Jahres 2007 publiziert. Darin finden sich drei Hauptindikationen zur Entfernung der Gaumenmandeln bei Kindern: <br />a) starke Vergrößerung (Hyperplasie) der Gaumenmandeln mit Luftwegsobstruktion <br />b) wiederholte schwere Infektionen der Gaumenmandeln <br />c) Verdacht auf einen bösartigen Tumor der Gaumenmandeln</p> <h2>Hyperplasie der Gaumenmandeln</h2> <p>Die Hyperplasien sind die häufigsten Pathologien im Kleinkindesalter, sie führen zu einer behinderten Nasenatmung, dauernder Mundatmung, gestörter Zungenlage, gestörter Entwicklung der Kiefer- und Zahnstellung und zu Aussprachefehlern (Artikulationsstörungen). Weiters sind damit chronisch-rezidivierende Infektionen der Nase und Nebenhöhlen und Schlafstörungen durch nächtliche Atemaussetzer (sog. obstruktives Schlafapnoe-Syndrom, OSAS) mit Tagesmüdigkeit, Gedeih- und Entwicklungsstörungen ursächlich in Zusammenhang zu bringen.</p> <p>Bei Kindern vor dem 6. Lebensjahr sollte daher zur Verbesserung der mechanischen Obstruktion der oberen Atemwege keine Tonsillektomie, sondern eine Adenoidektomie und/oder eine Teilresektion der Gaumenmandeln (Tonsillotomie) durchgeführt werden.</p> <h2>Infektionen der Gaumenmandeln</h2> <p>Entzündliche Erkrankungen des lymphatischen Rachenringes sind bei Kleinkindern zwar ebenfalls häufig, aber nicht immer kausal behandlungsbedürftig. Für die Indikation einer Tonsillektomie ist als Hauptkriterium die Häufigkeit bakterieller Infektionen festgelegt worden. Empfohlen wird eine Tonsillektomie, wenn jährlich fünf oder mehr Tonsillitiden in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Jahren oder sieben oder mehr Tonsillitiden innerhalb eines Jahres aufgetreten sind. Als Zusatzkriterien sind tonsilläres Exsudat, Fieber >38,3°C, vergrößerte Kieferwinkellymphknoten, eine gute ärztliche Dokumentation und eine hinsichtlich Dauer und Dosis ausreichende antibiotische Behandlung zu nennen.</p> <h2>Bösartige Tumoren der Gaumenmandeln</h2> <p>Maligne Tumoren der lymphatischen Gewebe im Rachen sind zum Glück im Kindesalter sehr selten.</p> <h2>Positive Auswirkung der Empfehlungen auf die Praxis</h2> <p>Nach anfänglicher Skepsis sind diese Empfehlungen sehr rasch in die Praxis umgesetzt worden und seither sind keine Todesfälle durch Nachblutungen bei Kindern mehr aufgetreten. Jetzt, nach 10 Jahren, wurden im Auftrag der Österreichischen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie zu diesem Themenkomplex Daten erhoben und ausgewertet. Es sollte der Frage nachgegangen werden, wie sich die Operationszahlen und das Operationsverhalten in Österreich durch diese Ereignisse geändert haben und wie sich dieses therapeutische Konzept im Vergleich zu den Daten aus Europa bzw. vor allem aus den Nachbarländern einordnen lässt.</p> <p>Dazu wurden dankenswerterweise Daten aus der ÖGIS-Datenbank vom Bundesministerium für Gesundheit zur Verfügung gestellt und frei zugängliche Daten der österreichischen Krankenanstalten (www.spitalskompass.at) herangezogen. Vergleichsdaten der europäischen Länder wurden aus der Hospital-Morbidity-Database der WHO-Europasektion sowie der Destatis-Datenbank der BRD entnommen, wobei Letztere eine enorme Informationsfülle hinsichtlich Eingriffsspezifität, Altersstruktur und regionaler Eingriffsverteilung aufweist.</p> <p>Aus diesem Datenmaterial ist eindeutig zu erkennen, dass Eingriffe am lymphatischen System im HNO-Bereich (Gaumenmandeln = Tonsillen; Rachenmandeln, „Polypen“ = Adenoide) in den westlichen Industrieländern in den letzten 25 Jahren insgesamt rückläufig sind. Die Abbildungen 1 bis 3 zeigen den Rückgang der Operationsfrequenzen. Bis in das Jahr 2002 bestand in Österreich im Vergleich zu den Nachbarländern eine hohe Operationsfrequenz. Nach den Todesfällen in den Jahren 2006 und 2007 kam es zu einem dramatischen Rückgang der Tonsillektomien vor allem bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen. Die alternative Operationstechnik der Tonsillotomie hat aber den starken Rückgang der Operationsfrequenzen nur gering beeinflusst. Aus der Abbildung 1 ist ersichtlich, dass für alle Altersgruppen bereits vor den tragischen Ereignissen 2006/2007 die Operationsfrequenzen für die Adenotomie und Tonsillektomie gesunken sind und es zu einem dramatischen Einbruch der OP-Frequenzen in den Jahren 2006 bis 2008 mit einem Rückgang der Zahl der Adenotomien um 40 % und der Tonsillektomien um 62 % gekommen ist. Die Adenotomierate ist seither annähernd konstant geblieben, die Tonsillektomiefrequenzen sinken weiterhin nur mehr gering. Die alternative OP-Methode der Tonsillotomie, welche erst 2007 als Leistung kodiert werden konnte, hat nur zu einem geringen Teil die früheren Tonsillektomiefrequenzen erreicht.</p> <p>Ein besonders starker Rückgang der Frequenzen bei den Tonsillektomien ist zwischen 2006 und 2010 zu erkennen. In der Kleinkindesaltersgruppe (0–5 Jahre) kam es während des Beobachtungszeitraumes insgesamt zu einem Rückgang der Operationsfrequenz um 87 % , bei den 6- bis 15-Jährigen zu einer Reduktion um 56 % und auch bei den Erwachsenen kam es zu einem deutlichen Rückgang um 37 % , obwohl diese Patientengruppe gar nichts mit dem Konsensuspapier zu tun hat (Abb. 2). <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Pneumo_1701_Weblinks_seite45.jpg" alt="" /> <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Pneumo_1701_Weblinks_seite46.jpg" alt="" /></p> <h2>Eingriffe im europäischen Vergleich</h2> <p>Im europäischen Vergleich sind starke Unterschiede in den einzelnen Staaten und im Vergleich der Staaten untereinander erkennbar. Exakte und vergleichbare Zahlen über die Operationsfrequenzen existieren nicht. Ein verwertbarer Index sind aber die stationären Aufnahmen aufgrund von „chronischen Erkrankungen der Tonsillen und Adenoide“, welche fast ausschließlich operativ und nicht konservativ behandelbar sind. Betrachtet man die Nachbarstaaten, dann sind die Operationsfrequenzen auch heute noch in Ungarn und Tschechien hoch, in Italien und der Schweiz niedrig und Österreich nähert sich durch den rapiden OP-Frequenzrückgang immer mehr der Bundesrepublik Deutschland an (Abb. 3 für die Altersgruppe der 1- bis 4-Jährigen).</p> <p>Trotz des allgemeinen Rückgangs der Zahl der Operationen am lymphatischen System bei Kindern sind diese Eingriffe noch immer die häufigsten Operationen in dieser Altersgruppe. Beispielsweise war im Jahr 2013 (letztes auswertbares Jahr der Destatis-Datenbank) in der BRD bei Kindern bis zum 15. Lebensjahr die Adenotomie an zweiter Stelle, die Tonsillektomie an vierter und der Kombinationseingriff Tonsillektomie und Adenotomie an sechster Stelle aller durchgeführten Operationen in dieser Altersgruppe. In Österreich – wenn man die HNO-Eingriffe aller Altersgruppen betrachtet – ist im Jahr 2012 die Adenotomie an erster Stelle, die Tonsillektomie an dritter Stelle und die Tonsillotomie an neunter Stelle der Operationsfrequenzen zu finden.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Anfängliche Befürchtungen, dass es nach dem rapiden Absinken der Operationsfrequenzen zu einem Rebound-Phänomen kommen und die Zahlen wieder auf das ursprünglich hohe Niveau steigen würden, bewahrheiteten sich nicht. Zur zweiten Befürchtung, dass durch dieses konservative Verhalten die Rate an Spätkomplikationen durch verschleppte Tonsillitiden ansteigen würde, ist eine abschließende Stellungnahme noch nicht möglich bzw. wäre verfrüht. Jedenfalls ist nicht anzunehmen, dass unsere Nachbarn Italien und Schweiz wegen der niedrigen Operationsrate im Vergleich zu Tschechien oder Ungarn das schlechtere HNO-Los gezogen hätten.</p> </div></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>beim Verfasser</p>
</div>
</p>