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«4. Säule Urogynäkologie»

Vom Grenzgebiet zum Schwerpunkt

<p class="article-intro">Die «Urogynäkologie», ursprünglich ein Grenzgebiet zwischen Gynäkologie und Urologie, umfasste früher einige wenige Operationstechniken, wie die vaginale Hysterektomie mit vorderer/hinterer Scheidenraffung und Richter-Fixation. Dazu kamen meist offene Inkontinenzoperationen, wie die Kolposuspension. Bei Prolapsoperationen wurden, wenn überhaupt, selbst zugeschnittene vaginale Netze verwendet. Netztypen und Netzmaterialien sowie die Fixationstechniken waren damals sehr limitiert.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Heute bildet die Urogyn&auml;kologie, neben Geburtshilfe, Onkologie und Reproduktionsmedizin, eine eigenst&auml;ndige Disziplin der Frauenheilkunde. In der Schweiz wird der Schwerpunkttitel &laquo;Urogyn&auml;kologie &raquo; seit Januar 2016 erstmals angeboten und kann in zertifizierten Weiterbildungsst&auml;tten erlangt werden. Das erkl&auml;rte Ziel ist die Nachwuchsf&ouml;rderung, d.h. die strukturierte, reglementierte Weiterbildung von Fachkr&auml;ften auf dem Gebiet der Harninkontinenz sowie der Beckenbodenpathologien und deren Folgeerkrankungen. Diagnostische, konservative und operative Kompetenzen werden so gef&ouml;rdert, Hospitationen, Austausch und klinisch-wissenschaftliche Forschung geh&ouml;ren auch dazu. Damit wird die Schweiz den neuen hohen Anforderungen an das Fach gerecht und ist dem Trend in L&auml;ndern weltweit gefolgt, wo sich die Urogyn&auml;kologie bereits als vierte S&auml;ule der Frauenheilkunde etabliert hat.</p> <h2>Revolution in den 1990ern</h2> <p>Welche Faktoren f&uuml;hrten zu dieser Entwicklung vom Grenzgebiet zum Fokus des Interesses? Die Revolution begann in den 1990er-Jahren mit der Einf&uuml;hrung der spannungsfreien Vaginalschlingen, der TVT-B&auml;nder. Bis heute ist diese einfache, klar definierte, erfolgreiche und komplikationsarme Operationsmethode die Standardtherapie (Goldstandard) bei Belastungsinkontinenz. Allgemein werden heute Harninkontinenz, Deszensusbeschwerden und sexuelle Funktionsst&ouml;rungen nicht mehr einfach so akzeptiert. Die Patientinnen w&uuml;nschen nicht nur objektive, sondern auch subjektive funktionelle Verbesserungen und eine gute Lebensqualit&auml;t bis ins hohe Alter. Dadurch erlangen auch konservative, nicht operative Massnahmen wie Pessare oder Physiotherapie einschliesslich der Ganzk&ouml;rpervibrationstherapie einen ganz neuen Stellenwert.<br /> Verschiedene technische Errungenschaften unterst&uuml;tzen den Urogyn&auml;kologen, diese hohen Anspr&uuml;che zu erf&uuml;llen. Dazu geh&ouml;rt, ganz wichtig in der modernen Diagnostik, die Bildgebung mittels Ultraschall, die sogenannte Pelvic-Floor- Sonografie. Dargestellt werden k&ouml;nnen s&auml;mtliche Organe, einschliesslich deren Dynamik, aber auch B&auml;nder und Netze. Dank der Pelvic-Floor-Sonografie kann die Operation pr&auml;operativ besser geplant und postoperativ &uuml;berpr&uuml;ft werden, und Ursachen von Komplikationen k&ouml;nnen diagnostiziert werden. In den letzten Jahren wurde die vaginale Chirurgie durch endoskopische Techniken erg&auml;nzt. So k&ouml;nnen heute komplexe Beckenbodenpathologien mittels konventioneller oder roboterunterst&uuml;tzter Laparoskopie erfolgreich behandelt werden. Der Eingriff mit dem Da-Vinci-Roboter erm&ouml;glicht eine dreidimensionale Darstellung mit zehnfacher Vergr&ouml;sserung, eine pr&auml;zise Instrumentenf&uuml;hrung und somit eine gef&auml;ss- und nervenschonende Operationstechnik. Durch eine r&uuml;ckenschonende Haltung profitiert selbst der Operateur. Die laparoskopischen Techniken werden kontinuierlich verbessert, z.B. durch die Einf&uuml;hrung der dreidimensionalen Optik auch in der konventionellen Laparoskopie. Anstelle der selbst zugeschnittenen Netze werden heute vorgefertigte Mesh- Kits verwendet. Diese erlauben optimierte und standardisierte Operationen. Immer popul&auml;rer werden neben den B&auml;nderoperationen auch minimalst invasive Therapien der Belastungsinkontinenz, wie die Umspritzung der Harnr&ouml;hre mit &laquo;bulking agents&raquo; oder, im Rahmen von Studien, die Stimulation der Bindegewebsneubildung mit Laserstrahlen im &laquo;smooth mode&raquo;. Neue innovative Therapien bei der Behandlung des chronischen Schmerzsyndroms, der interstitiellen Zystitis oder der Reizblase kamen in den letzten Jahren dank eines besseren Verst&auml;ndnisses der &laquo;chronic pelvic pain syndromes &raquo; hinzu.</p> <h2>2011 &ndash; ein Jahr der Z&auml;sur</h2> <p>Eine j&auml;he Z&auml;sur in der Entwicklung der Urogyn&auml;kologie war 2011 die Warnung der US Food and Drug Administration (FDA) vor Komplikationen mit Netzen bei der Behandlung des Genitaldeszensus. In der Folge nahmen die Patientenklagen zu, einige amerikanische Hersteller sistierten die Produktion und in Schottland wurden die vaginalen Netze offiziell von Politikern verboten. Heute gibt es einige europ&auml;ische und amerikanische Firmen, die neue Netztechnologien anbieten. Dennoch ist eine Diskussion dar&uuml;ber auch in Europa im Gang.<br /> Seit 2011 hat sich auf dem Gebiet der Netzchirurgie aber einiges getan. Netze von damals sind nicht gleich Netze von heute. Mesh-Kits aus neuen, leichten Materialien und neue Fixierungstechniken mit zentralem Zugang und weniger Blindpassagen erschliessen andere R&auml;ume im kleinen Becken. Ganz wichtig f&uuml;r das Gelingen dieser Eingriffe sind eine fundierte Ausbildung, das Training und die entsprechende Erfahrung des Operateurs. Netzoperationen sollten nur in Zentren mit hohen Fallzahlen durchgef&uuml;hrt werden und die neuen Techniken und Materialien sollten zwingend durch wissenschaftliche Studien abgesichert sein.</p> <h2>Was erwartet uns in Zukunft?</h2> <p>Mit der h&ouml;heren Lebenserwartung der Patientinnen werden Deszensusbeschwerden und Harninkontinenzprobleme weiter stark zunehmen. Die Nachfrage nach gut ausgebildeten Urogyn&auml;kologen wird weiter steigen. Mehr an Bedeutung werden auch interdisziplin&auml;re Zentren gewinnen, wo fach&uuml;bergreifend mit Urologen, Koloproktologen und Neurologen zusammengearbeitet wird. Die zeitlich deutlich k&uuml;rzere vaginale Chirurgie sollte bei Kontraindikationen der Laparoskopie, wie kardiopulmonalen Risiken, Blutgerinnungsst&ouml;rungen, Adipositas per magna, schweren Adh&auml;sionen im Unterbauch nach Voroperationen oder bei gewissen Rezidivtypen, nach wie vor offeriert werden k&ouml;nnen. Das breite Spektrum an etablierten Angeboten sollte bewahrt werden und Innovationen sollten in Angriff genommen werden, um die grosse Vielfalt und Komplexit&auml;t der urogyn&auml;kologischen St&ouml;rungen auch k&uuml;nftig kritisch, gezielt und individuell behandeln zu k&ouml;nnen. Einen R&uuml;ckschritt in die Zeit vor 20 Jahren k&ouml;nnen wir uns nicht leisten.</p></p>
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