
Sexuell übertragbare Infektionen im Zeitalter von Lockdown und Online-Dating
Autorin:
PD Dr. med. Karoline Aebi-Popp, MSc
Praxis im Frauenzentrum am Lindenhofspital Inselspital I Universitätsklinik für Infektiologie
E-Mail: Karoline.Aebi@lindenhofgruppe.ch
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Sex ist uralt, so alt wie die Fresken von Fellatio-Szenen in Pompeji oder die offensichtlichen Dokumente von Sexszenen auf Papyrus aus dem alten Ägypten und aus dem antiken Rom. Es ist heute kaum zu glauben, dass im Jahr 1952 Masturbation und Cunnilingus noch zum gestörten Verhalten gezählt wurden. Dann kam im Rahmen der Studentenbewegung 1968 die sexuelle Revolution in Gang und in den Medien die «Sexwelle» der 70er-Jahre. Heute, 2021, leben wir in einer aufgeklärten Gesellschaft, die Masturbation mit dem täglichen Zähneputzen vergleicht und die uns Mut macht, für die eigene Sexualität einzustehen und diese auszuleben. Aber wieso ist es trotzdem noch ein heikles Thema?
Keypoints
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Die meisten STI verlaufen asymptomatisch und die Testung erfolgt gemäss Sexualanamnese.
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Syphilis ist nicht Vergangenheit: auch in jeder Schwangerschaft testen!
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Gonorrhö wird resistenter gegen Antibiotika: bei Therapie beachten!
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Der unvoreingenommene und respektvolle Umgang mit dem Sexualverhalten unserer Patientinnen ist Grundlage der Förderung der sexuellen Gesundheit.
Was bedeutet sexuelle Gesundheit?
Sexuelle Gesundheit ist der Zustand des körperlichen, emotionalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen und Gebrechen.
Sie setzt eine positive und respektvolle Haltung gegenüber Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang (WHO 2002).
Sex im Jahr 2021 – über 50 Jahre sexuelle Revolution und trotzdem ein Tabu?
Und trotzdem tun wir uns so schwer, über Sexualität zu sprechen, fallen gerne auch als Gynäkologinnen in alte Muster zurück und fragen «nur» nach Dyspareunie. Dabei sollte ja die erste Frage lauten: Wie sieht es mit Ihrem Sexualleben aus? Leben Sie in einer Partnerschaft? Sind Sie sexuell aktiv? Und nach der Antwort sollten wir uns versichern, ob der «Ist-Zustand» (Sex oder kein Sex) zur Zufriedenheit führt. Und wie findet der Partner das, dass sie seit einem Jahr keinen Sex haben? Haben Sie das besprochen? Oder: Haben Sie Sex mit einem oder mehreren Partnern?
Eine gute Hilfestellung bei der Sexualanamnese sind die aus dem Englischen übernommenen 5 Ps: «partners» (Anzahl von Sexualpartnern), «practices» (Oralsex, Vaginal-/Analsex, Sex Toys), «protection from STI» (Kondomgebrauch, Impfungen, PrEP), «past history of STI» (z.B. Syphilis, da im Labor sichtbar bleibend), «prevention of pregnancy» (Verhütung).
Wer hat’s erfunden? – Schweizer Sexualverhalten und die sexuell übertragbaren Infektionen
Laut der Sotomo-Studie haben Schweizerinnen und Schweizer in ihrem Leben 7 Sexualpartner und 27% sind in einer Beziehung schon einmal fremdgegangen. Jede 5. Person gibt an, mehr als 20 Sexualpartner gehabt zu haben, die Hälfte aller Befragten gibt an, schon einmal Gelegenheitssex ohne Kondom gehabt zu haben.
Wir sehen in der Schweiz bei den Neuinfektionen pro Kalenderjahr einen deutlichen Aufwärtstrend in den Fallzahlen der bakteriellen STI (Chlamydien, Gonorrhö, Syphilis), nur bei HIV reduzierten sich die Neuansteckungen über die letzten Jahre.Ein Grund der steigenden Zahlen der bakteriellen STI ist aber auch ein vermehrtes Testen.
Syphilis war bereits so selten, dass man glaubte, es gäbe sie nicht mehr, und erst nach Wiedereinführung der Meldepflicht im Jahr 2006 sah man, dass es in der Schweiz durchaus neue Ansteckungen gab, ebenfalls steigend.
Während des ersten Lockdowns im März 2020 sieht man an der epidemiologischen Kurve, dass es in der Schweiz plötzlich kaum mehr Gonorrhö zu geben scheint. Dabei spiegelt dies eher die Schliessung zahlreicher Teststellen wider, vielleicht auch eine vorübergehende Änderung im Sexualverhalten, Home-Office und die fehlende Möglichkeit, beim After-Work-Drink Kontakte zu knüpfen. Noch nie zuvor haben Online-Dating-Plattformen, wie Tinder, Lovoo, Bumble und Co so viele neue Nutzer bekommen. In der Jugendsprechstunde erzählt ein 16-jähriges Mädchen, dass fast die gesamte 9. Schulklasse des Gymnasiums auf Tinder ist, natürlich mit einem erfundenen Geburtsdatum, welches die Volljährigkeit belegt. Die meisten Dating-Apps sind ab 18 Jahren (Ausnahme Lovoo ab 16 Jahren). Da es keine Kontrollen gibt, ist dies ein einfaches Unterfangen. Man trifft sich mit dem neuen «crush» zum Spazieren, zum Kaffeetrinken, aber auch schon einmal für das «erste Mal». Schliesslich möchte man dazugehören auf Instagram, TikTok, Snapchat – dem Traum des «Influencers» – und wer will schon im Corona-Lockdown versauern und die Jugend verpassen?
Nicht ganz ungefährlich, denn wer versteckt sich hinter dem Profil, das einen muskulösen Rücken zeigt, einen geläufigen Vornamen wie Peter und die Attribute 18 Jahre, sportlich, reist gerne, kein ONS (One-Night-Stand) hat? Das Mädchen entscheidet sich für «swipe» nach rechts und schon kommt es zu einem «match». So einfach geht das.
Natürlich boomt das Online-Dating in den aktuellen Zeiten auch bei den Erwachsenen – Menschen suchen Menschen und die Sehnsucht stirbt zuletzt.
Sexualverhalten verstehen ist die Grundlage der Prävention und Diagnose von STI
Aber was hat das alles mit den sexuell übertragbaren Infektionen zu tun? Nur wenn wir bereit sind, einen guten Umgang mit der gelebten Sexualität zu pflegen, können wir über «safer sex» und STI sprechen. Bei Oralsex zum Beispiel, welcher bei der Übertragung von HIV keine Rolle zu spielen scheint, können durchaus andere STI übertragen werden. Kondome werden bei Oralsex in der Realität, ausser vielleicht im Sexgewerbe, nicht verwendet und Kondome schützen bei vaginaler oder analer Penetration gut vor HIV, aber nicht vor den anderen Infektionen, die auch durch Hautkontakt und Finger übertragen werden können.
Daher wird bei der Diagnostik von STI ein gepoolter Abstrich empfohlen. Jeweils ein Wattetupfer für den Rachen, die Vagina oder Urethra und für den Anus kommt dabei in ein Röhrchen, um die Diagnostik kostengünstiger zu machen (3 in 1). Als Screening-Test für asymptomatische Personen (z.B. Partnerwechsel oder ein Kondomunfall) empfiehlt sich ein Test auf Chlamydien und Gonorrhö, im Blut auf HIV und Syphilis. Dabei ist zu bedenken, dass gut 2/3 der STI ganz ohne Symptome oder mit sehr milden Symptomen verlaufen und daher auch der alte Slogan «Wenn es brennt, dann zum Arzt» vom BAG verlassen wurde und jeder gemäss seinem Sexualverhalten entscheiden soll, wann er einen Test machen möchte. Die sogenannten «window periods» sind dabei essenziell, denn bei einem One-Night-Stand am Samstag kann ich nicht am Montag darauf alles testen, denn Chlamydien und Gonorrhö sollten nach 2 Wochen, HIV nach 6 und Syphilis nach 11 Wochen ausgeschlossen werden. Falls die Hepatitis-B-Impfung nicht durchgeführt wurde, kann zusätzlich auf Hepatitis B getestet und die Impfung nachgeholt werden. Für die Hepatitis C, welche seit wenigen Jahren durch Medikamente heilbar ist, gibt es klare Empfehlungen zum Test und zum Status nach intravenösem Drogengebrauch oder Blutprodukten und Piercings/Tattoos unter unhygienischen Bedingungen (siehe auch www.hep-check.ch ) – daran in unserer Sprechstunde zu denken ist wichtig. Natürlich gibt es auch die STI-Blickdiagnosen ohne Labor: Kondylome, Läuse, Skabies und Molluscum contagiosum seien hier als Beispiele genannt.
Syphilis, Gonorrhö und Chlamydien – was ist denn neu im Jahr 2021?
Ein nachdenklich stimmendes Kapitel scheint die kongenitale Syphilis zu sein: 1,36 Millionen schwangere Frauen weltweit leiden jährlich an einer aktiven Syphilis mit über 500000 resultierenden Schwangerschaftskomplikationen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat sich 2007 zum Ziel gesetzt, die kongenitale Syphilis zu eliminieren, und Kuba hat dieses Ziel 2015 als erstes Land erreicht (WHO Report 2015), denn weder die kostengünstige Diagnose (Bluttest) noch die Therapie mit lang wirksamem Penicillin – ohne dass es je zu Resistenzproblemen kam – scheinen dieses Ziel schwer erreichbar zu machen. Aber nicht in der Schweiz, denn hier screenen laut einer Umfrage nur 65% der Gynäkologen im Raum Zürich ihre Schwangeren auf Syphilis, erfreulicherweise 97% in der Genfer Region (Aebi-Popp 2018). In der Schweiz gab es 2019 insgesamt 1046 neue Syphilismeldungen, wobei sich 658 Männer (63%) bei sexuellen Kontakten zwischen Männern und 139 Männer sowie 57 Frauen bei heterosexuellen Kontakten (zusammen 19%) angesteckt hatten (BAG 2019). Natürlich ist die Syphilis sehr selten, aber eine kongenitale Syphilis und deren schwere Folgen für das Kind (Keratitis, Taubheit und tonnenförmige Schneidezähne) müssen durch ein Screening in jeder Schwangerschaft definitiv vermieden werden.
Die Gonokokken beschäftigen uns mit ihrem grossen Talent, sich resistent gegen die gängigen und «gäbigen» (weil oral verabreichbaren) Antibiotika zu machen. Als «super bug» werden sie in den Medien bezeichnet und die Ausbreitung der Resistenzen weltweit ist rasant und besorgniserregend. Die Therapie der Wahl ist derzeit Ceftriaxon 1g i.m. oder i.v. als Einmalgabe. Nach antibiotischer Therapie führt man gewöhnlich nach 4–6 Wochen einen «test of cure» durch, um den Therapieerfolg zu prüfen.
Chlamydia trachomatis (CT) ist der häufigste Erreger einer meldepflichtigen STI in der Schweiz mit etwa 12000 Fällen im Jahr 2019. Hier braucht es keinen «test of cure», jedoch empfiehlt sich aktuell eine Therapie mit Doxycyclin 2x 100mg p.o. über 7 Tage. Ein Grund dafür ist die steigende Resistenz von Mycoplasma genitalium gegen Azithromycin (AZT) und ein weiterer Grund ist, dass gemäss Studien Doxycyclin AZT in Bezug auf pharyngeale und anale CT-Besiedlung überlegen zu sein scheint. Wenn es Bedenken bezüglich der Compliance gibt, darf AZT natürlich weiterhin eingesetzt werden (1g p.o. als Einmaltherapie). Nicht zu vergessen sind die Partnertherapie (eine oder mehrere) und die Abstinenz vom Sex für 7 Tage nach Beginn der antibiotischen Therapie.
STI 2021, quo vadis? – nach dem Einblick nun der Ausblick
Sexuelle Gesundheit ist mehr als ein negatives STI-Screening und kann, wie eingangs zitiert, für jede Einzelne und jeden Einzelnen auch eine unterschiedliche Bedeutung haben. Es sollte nicht sein, dass Sorgen bezüglich sexuell übertragbarer Infektionen das Sexualleben belasten, Partnerschaften beschädigen oder sogar zur Trennung führen. Weiterhin ist zu vermeiden, dass junge Menschen bei ihren ersten sexuellen Erfahrungen Angst und Panik haben müssen. Wichtig scheint, dass Jugendliche vor allem lustvolle, verantwortungsbewusste und selbstbestimmte Erfahrungen sammeln können. Eine umfassende Sexualaufklärung und kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen ist dazu die Voraussetzung.
Der respektvolle, informierte und urteilsfreie Umgang mit dem Sexualverhalten unserer Patientinnen und Patienten bietet uns als Gesundheitspersonal eine gute Gelegenheit, damit assoziierte Krankheiten und Leid zu vermeiden. Denn nach wie vor gilt: Sex ist und bleibt ein wichtiger Teil unseres Lebens und das ist gut so. Auch das Leben ist «nur und immer wieder» sexuell übertragbar!
Literatur:
● https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/zahlen-zu-infektionskrankheiten/hiv-sti-statistiken-analysen-trends.html ● «Selbstbefriedigung: Ist das normal?», Video des Jugendnetzwerks Sexuelle Gesundheit Schweiz: https://www.youtube.com/watch?v=ohgZg0MkQZc