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Sexualmedizin in der gynäkologischen Sprechstunde

<p class="article-intro">Die gynäkologische Sprechstunde ist ein idealer Ort, um sexualmedizinische Fragen zum Thema zu machen. Die Bandbreite der Themen ist gross und reicht von Wissensdefiziten bis zu komplexen Partnerschaftskonflikten, von Normvarianten bis zu schweren körperlichen und psychischen Krankheitsbildern. Im Grunde stehen die meisten Lebensthemen in irgendeinem direkten oder indirekten Zusammenhang zur Sexualität des Menschen. Das Bedürfnis der betroffenen Frauen, über diese Themen zu reden, ist gross, die Befangenheit auf Arzt- und Patientinnenseite jedoch ebenfalls. Wie können wir als GynäkologInnen Brückenbauer werden?</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Der Bedarf an sexualmedizinischer Beratung und Behandlung von Frauen nimmt zu.</li> <li>Gyn&auml;kologen stellen die naheliegenden ersten Ansprechpartner im medizinischen Umfeld dar.</li> <li>Die Palette der sexualmedizinischen Themen ist breit und bunt und reicht von Normvarianten bis zu schweren k&ouml;rperlichen und psychischen Krankheitsbildern, von Wissensdefiziten bis zu komplexen Partnerschaftskonflikten.</li> <li>Eine &auml;rztliche Basisberatung kann ein Drittel bis ein Viertel der sexuellen Probleme l&ouml;sen.</li> </ul> </div> <p>Der Wunsch nach Geschlechtsverkehr und die vielen Facetten von N&ouml;ten, die um diesen Wunsch entstehen, bilden das Kernthema der Sexualmedizin. Dieser Wunsch bleibt bis ins Alter von 70 Jahren bei der &uuml;berwiegenden Mehrheit von Frauen und M&auml;nnern bestehen, um danach langsam abzufallen: 99 % der M&auml;nner zwischen 65 und 70 Jahren w&uuml;nschen sich Geschlechtsverkehr, bei den Frauen dieses Alters sind es 82,5 % , bei den 60- bis 64-J&auml;hrigen noch 92 % der Frauen. Aber auch bei den Personen, die &auml;lter als 75 Jahre sind, w&uuml;nschen sich noch 61 % der M&auml;nner und fast die H&auml;lfte der Frauen (47 % ) Geschlechtsverkehr.<sup>1</sup> Dass dies f&uuml;r manch einen Mann und manch eine Frau Wunschdenken bleibt, ist selbstredend.<br />Was steht dem grunds&auml;tzlichen Wunsch nach Geschlechtsverkehr, im weiteren Sinne dem Wunsch nach einer gelebten Sexualit&auml;t also entgegen? Bei den Frauen machen den gr&ouml;ssten Teil der Sexualst&ouml;rungen sogenannte Appetenzst&ouml;rungen aus: Unter verminderter Libido leiden ca. 10 % der Frauen, w&auml;hrend Funktionsst&ouml;rungen wie Erregungs- und Orgasmusst&ouml;rungen 5 % , Sexualschmerzen und Dyspareunie 7&ndash;8 % und Vaginismus weniger als 5 % der Frauen betreffen.<sup>2, 3<br /></sup>In den Gespr&auml;chen mit den Betroffenen stellt sich h&auml;ufig heraus, dass das beklagte Leitsymptom, z.B. Dyspareunie, nur die Spitze eines Eisbergs darstellt und meist auch beim Partner ein Problem vorliegt. Komorbidit&auml;ten sind an der Tagesordnung. Aber Frauen sind es gewohnt, als Symptomtr&auml;ger die Verantwortung f&uuml;r ein Problem zu &uuml;bernehmen. Bei der partnerschaftlichen Evaluation des Sexualproblems ist es also wichtig, neben der pers&ouml;nlichen k&ouml;rperlichen und seelischen Dimension auch die des Partners zu erfassen und zudem das Umfeld des Paares zu ermitteln: Kinder im Haushalt, fehlende R&uuml;ckzugsm&ouml;glichkeiten, berufliche Stresssituationen, fehlende Distanz zu Eltern oder Schwiegereltern, Freundeskreis etc. Im Weiteren spielt auch das kulturell-religi&ouml;se Umfeld des Paares eine mitunter entscheidende Rolle beim Thema Sexualprobleme. In diesem Kontext hat sich daher das umfassende bio-psychosoziale- Modell bew&auml;hrt (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Gyn_1901_Weblinks_a2-abb1.jpg" alt="" width="471" height="422" /></p> <h2>Inputs f&uuml;r das Gespr&auml;ch zum Thema Lustlosigkeit</h2> <p>F&uuml;r das weitere Gespr&auml;ch mit den Klienten, z.B. zum Thema &laquo;Lustlosigkeit&raquo;, das nat&uuml;rlich in erster Linie von der individuellen Problemstellung bestimmt wird, m&ouml;chte ich versuchen, an dieser Stelle einige Inputs zu geben:<br />&bull; Die Dauer einer Partnerschaft ist eine der wichtigsten Determinanten beim Thema H&auml;ufigkeit von Sex in der Partnerschaft. So hat z.B. eine 60-j&auml;hrige Frau, die gerade frisch verliebt ist, durchschnittlich h&auml;ufiger Sex als eine 40-j&auml;hrige, die seit 15 Jahren in einer festen Beziehung ist. Bei den M&auml;nnern verh&auml;lt sich das genauso.<sub><sup>4</sup><br /></sub>&bull; Eine Bewertung des Orgasmus, bei der der vaginale Orgasmus als &laquo;reifer Orgasmus &raquo; angesehen wird, ist einengend. Tatsache ist, dass nur 4 % der Frauen einen rein vaginalen Orgasmus erleben, 30 % kommen ausschliesslich &uuml;ber Klitorisstimulation zum Orgasmus und 52 % benutzen gleichzeitig beide Stimulationswege.<sup>5<br /></sup>&bull; Der Klitorisk&ouml;rper ist mehr als die kleine &laquo;Perle&raquo; unter der Klitorisvorhaut. Seine lateralen Schwellk&ouml;rper umschliessen die vordere Vaginalwand im distalen Drittel zu einem grossen Teil, der sogenannte G-Punkt liegt ebenfalls in diesem Bereich.<br />&bull; Auch bestehen verbreitet einseitige Vorstellungen dar&uuml;ber, was w&uuml;nschenswerter Sex beinhaltet. Die medialen Vorbilder suggerieren eine starke Ausrichtung auf K&ouml;rpermerkmale wie Br&uuml;ste, Penisgr&ouml;sse, Attraktivit&auml;t, Lust, Verlangen, Orgasmus. Demgegen&uuml;ber sind zu entdecken und Spass zu haben, sexuelle Kommunikation, das Einswerden, eine erotische Intimit&auml;t und Authentizit&auml;t zu erleben stark unterrepr&auml;sentiert.<sup>6<br /></sup>Ein weiterer Dauerbrenner in der gyn&auml;kologischen Sprechstunde sind Infektionen und Schmerzen, die bei chronischen oder chronisch rezidivierenden Verl&auml;ufen zu einer zunehmenden Belastung in der partnerschaftlichen Sexualit&auml;t f&uuml;hren. In diesem Zusammenhang ist die Reaktionsweise des Partners von grosser Bedeutung:<sup>7</sup> So f&uuml;hren sowohl negativ-ablehnende Reaktonen als auch sehr besorgte Reaktionen des Partners zu verst&auml;rkter Schmerzwahrnehmung. Eine entlastende Reaktionsweise hingegen hilft der Betroffenen, Bew&auml;ltigungsstrategien gegen den Schmerz zu entwickeln, was auch die sexuelle Zufriedenheit erh&ouml;ht.<br /> Auch Inkontinenz l&ouml;st starke Schamgef&uuml;hle aus und f&uuml;hrt damit zum R&uuml;ckzug aus der K&ouml;rperlichkeit. Karzinomerkrankungen f&uuml;hren bei Frauen und M&auml;nnern oft zu K&ouml;rperbildst&ouml;rungen und/ oder Funktionseinschr&auml;nkungen.</p> <h2>Therapeutischer Verlauf</h2> <p>Im therapeutischen Verlauf ist die Ungeduld auf Arzt- und Patientenseite einer der gr&ouml;ssten St&ouml;rfaktoren bzw. die gr&ouml;sste Lernherausforderung. Patienten kommen mit ihrem Problem oft auf den letzten Dr&uuml;cker, es besteht ein hoher Leidensdruck, dringender Kinderwunsch, die biologische Uhr tickt, die Partnerschaft droht auseinanderzubrechen. Sie w&uuml;nschen sich den ultimativen Tipp oder eine Wunderpille. Das schafft Druck f&uuml;r beide Seiten. Aber auch die &Auml;rzte, gewohnt an ein m&ouml;glichst effizientes Ping-Pong-Setting: Frage &ndash; Antwort, Problem &ndash; L&ouml;sung, Symptom &ndash; Diagnose oder am besten gleich: Symptom &ndash; Therapie, tun sich schwer, sich auf die breitere Themenstellung und die kleinen Schritte einzulassen.</p> <h2>&laquo;Just ask&raquo;</h2> <p>Gyn&auml;kologen sind mit 47 % die wichtigsten medizinischen Ansprechpartner f&uuml;r betroffene Frauen, gefolgt von Allgemeinmedizinern mit knapp 39 % . Wesentlich seltener werden diese Themen bei Psychiatern angesprochen (7 % ), an Urologen wenden sich nur 0,5 % der Betroffenen. Diese Zahlen d&uuml;rfen nicht dar&uuml;ber hinwegt&auml;uschen, dass &auml;rztliche Hilfe &uuml;berhaupt nur von einem Drittel der Frauen mit Sexualst&ouml;rungen in Anspruch genommen wird, &uuml;ber 40 % suchen auf informellem Weg bei Freunden oder Partnern nach Informationen und Hilfe. 8,5 % bevorzugen anonyme Kan&auml;le wie Internet, Radio, TV oder Printmedien. Und gut 14 % der betroffenen Frauen suchen gar keine Hilfe.<sup>8</sup> In der Regel (58 % ) werden sexualmedizinische Fragen bei Routinekontrollen angesprochen, ein Drittel kommt im Rahmen von anderen medizinischen Abkl&auml;rungen zur Sprache. Selten (ca. 6 % ) werden eigene Termine f&uuml;r ein sexualmedizinisches Problem vereinbart.<sup>8</sup> Warum sprechen die Patientinnen ihre sexuellen Probleme so selten an? Interessanterweise halten es 76 % der betroffenen Frauen f&uuml;r unwahrscheinlich, dass der Arzt oder die &Auml;rztin ihnen helfen k&ouml;nnen. Aber auch Scham, mit dem Problem nicht ernst genommen zu werden (71 % ) oder den Arzt/die &Auml;rztin mit einem Thema zu konfrontieren, bei dem sie sich unwohl f&uuml;hlen k&ouml;nnten (60 % ), hat letztlich eine Sprachlosigkeit auf Patientenseite zur Folge.<sup>9</sup> Auch &Auml;rzte tun sich oft schwer, sexualmedizinische Themen anzusprechen, sei es wegen spezifischer Wissensdefizite (54 % ), unreflektierter eigener Haltung zum Thema Sexualit&auml;t oder wegen des typischen Zeit- und Probleml&ouml;sungsdruckes im Praxisbetrieb (46 % ).<sup>10</sup> W&auml;hrend des Gespr&auml;ches ist es bedeutsam zu unterscheiden, dass &Auml;rzte zu 50&ndash;60 % &uuml;ber Diagnose und Behandlung reden, w&auml;hrend Patientinnen zu 50&ndash;60 % &uuml;ber ihr Krankheitserleben, die emotionalen Auswirkungen ihres Krankseins reden.<sup>10</sup> Durch diesen unterschiedlichen Fokus laufen sie Gefahr, dass die Beschwerden als &laquo;psychisch bedingt&raquo; abgestempelt werden.<br />Dabei w&auml;ren 91 % der Patientinnen froh, wenn sie aktiv auf ihre sexuelle Gesundheit angesprochen w&uuml;rden, schon alleine, um Pr&auml;ventionstipps zu erhalten. 15 % w&auml;ren zwar etwas verlegen, von diesen w&auml;ren aber 76 % trotzdem froh, wenn &Auml;rzte nachfragen w&uuml;rden.<sup>11</sup></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Eine &auml;rztliche Basisberatung kann ein Drittel bis ein Viertel der sexuellen Probleme der Patientinnen oder Patienten l&ouml;sen.<sup>12, 13</sup> Edukativ Kenntnisse &uuml;ber den K&ouml;rper und sein Funktionieren zu vermitteln, k&ouml;nnte ein naheliegendes Ziel z.B. im Rahmen der Jahreskontrollen darstellen und w&auml;re f&uuml;r manche/n Gyn&auml;kologIn realisierbar. Nicht umsonst sind Gyn&auml;kologInnen als Lebensbegleiter der Frau naheliegende AnsprechpartnerInnen, auch f&uuml;r sexualmedizinische Fragestellungen. Entscheidend sind das Interesse, die Bereitschaft und die Kompetenz, sexuelle Themen &uuml;berhaupt anzusprechen.</p> </div></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Bucher T et al.: Sexualit&auml;t in der zweiten Lebensh&auml;lfte. Psychosozial-Verlag, 2001<strong> 2</strong> Fugl-Meyer KS et al.: Standard operating procedures for female genital sexual pain. J Sex Med 2013; 10: 83-93 <strong>3</strong> Harlow BL et al.: Prevalence of symptoms consistent with a diagnosis of vulvodynia: population-based estimates from 2 geographic regions. J Sex Med 2014; 210(1): 40 <strong>4</strong> Schmidt G, Matthiesen S, Dekker A, Starke K: Sp&auml;tmoderne Beziehungswelten. Report &uuml;ber Partnerschaft und Sexualit&auml;t in drei Generationen. Springer: 2006 <strong>5</strong> Lehmann A et al.: Sexuologie 2003; 10: 128-122 <strong>6</strong> Eck A: Von der Paradoxie des Wollenwollens zum sex worth wanting. Therapeutische Alternativen zur Lustpille f&uuml;r die Frau. Familiendynamik 2017; 42(3): 182-91 <strong>7</strong> Rosen NO et al.: Woman &amp; partner-perceived partner responses predict pain &amp; sexual satisfaction in provoked vestibulodynia (PVD) couples. J Sex Med 2010; 7(11): 3715-24 <strong>8</strong> Shifren JL et al.: Help-seeking behavior of women with self-reported distressing sexual problems. J Women&rsquo;s Health 2009; 18: 461-8 <strong>9</strong> Marwick C: Survey says patients expect little physician help on sex. JAMA 1999; 281(23): 2173-4 <strong>10</strong> Rosen R et al.: Sexual communication skills in residency training: the Robert Wood Johnson model. J Sex Med 2006; 3(1): 37-46 <strong>11</strong> Meystre-Agustoni G et al. Talking about sexuality with the physician: are patients receiving what they wish? Swiss Med Wkly 2011; 141: w13178. doi: 10.4414/ smw.2011.13178. eCollection 2011 <strong>12</strong> Beier K, Loewit K: Sexualmedizin. Urban &amp; Fischer: M&uuml;nchen 2005 <strong>13</strong> Bitzer J: Die sexuelle Dysfunktion der Frau. Uni-Med Verlag, Bremen 2008</p> </div> </p>
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