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64. Kongress der DGP: ein Fallbericht aus Deutschland

Fleischlose Wurst – ein arbeitsmedizinisches Problem?

Da allergische Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung häufig sind, ist eine Abgrenzung zwischen beruflichen und außerberuflichen kausalen Faktoren und somit eine korrekte Diagnosestellung manchmal schwierig. Im Folgenden stellen wir den Fall eines deutschen Metzgers mit Sojaallergie vor und gehen der kontrovers diskutierten Frage nach, ob diese als Berufskrankheit anzuerkennen ist.

Keypoints

  • Durch Veränderungen von Arbeitsprozessen oder die Einführung neuer Technologien (z.B. fleischlose Wurst) und Arbeitsstoffe können auch „neue“ oder für den Beruf „atypische“ Allergene relevant werden.

  • Eine BK 4301 (Ö: BK 30) kann auch anerkannt werden, wenn es sich um Kreuzreaktionen handelt und der Krankheitsverlauf durch berufliche Einwirkungen wesentlich modifiziert wird.

  • Eine symptomatische bronchiale Hyperreaktivität erfüllt die Definition einer obstruktiven Atemwegserkrankung.

Obstruktive Atemwegskrankheiten

Der Begriff „obstruktive Atemwegserkrankungen“ (OA) umfasst imBerufskrankheiten(BK)-Recht verschiedene Phänotypen. Ätiologisch sind zu unterscheiden: die OA aus allergischer Ursache (BK Nr. 4301; in Österreich: BK 30) und die durch chemische Stoffe irritativ oder toxisch verursachten OA (BK Nr. 4302; in Ö: BK 41).1–3

Eine Verdachtsdiagnose und damit eine BK-Anzeige wegen des Verdachts auf eine Erkrankung nach Nr. 4301/4302 (in Ö: BK 30 und 41) sind immer dann begründet, wenn arbeitsplatzbezogen Symptome wie Atemnot, Husten, Niesen, Schnupfen, Augenbrennen oder eine Kombination dieser Symptome auftreten.

Kasuistik

Arbeitsanamnese und Auftreten von Beschwerden

Der heute 34-jährige männliche Versicherte, der nie geraucht und viel Sport getrieben hat, absolvierte zwischen 2005 und 2008 eine Fleischerlehre und arbeitete danach bis 2014 als Fleischer in verschiedenen Betrieben. Während dieser Zeit wurden keine arbeitsbedingten Beschwerden angegeben. Im August 2014 wechselte er als sogenannter Fleischentwickler zu der Firma A, wo er vorrangig mit der Entwicklung von Fleischalternativen („fleischlose Wurst“) betraut war. Dazu wurden diverse Zutaten zwecks Zerkleinerns und Vermischens in sogenannte Kutter gegeben, wobei es nachweislich zu komplexen Expositionen, insbesondere gegenüber Enzymen, Soja und Gewürzen, gekommen ist. Arbeitsschutzmaßnahmen waren nicht vorhanden.

Ab 2015/2016 traten zunächst Kontakturtikaria, wenig später Asthma, Rhinitis und Konjunktivitis auf. Die Symptomatik war fortschreitend, bestand ganzjährig und nur bei der Arbeit. Im Urlaub besserten sich die Beschwerden deutlich. Der Versicherte berichtete Beschwerden insbesondere beim Umgang mit Soja, Phosphaten und Hydrokolloiden (z.B. Gummi arabicum). Er stellte sich 2019 erstmals bei einem Arzt vor. Durch die dort verordneten Medikamente und nach einem Arbeitsplatzwechsel zur Firma B im September 2019 ging es ihm deutlich besser. Bis zuletzt arbeitete er bei der Firma B, einem Handelshaus für Lebensmittelzusatzstoffe, wo er überwiegend Anwendungsberatungen durchführt und sehr selten Kontakt zu den o.g. Substanzen hat. Wenn doch, trägt er ein fremdbelüftetes Atemschutzgerät.

Frühere medizinische Befunde

Durch ein medizinisches Versorgungszentrum wurde im Oktober 2019 eine Anzeige bei Verdacht auf eine BK im Sinne einer OA (BK 4301/4302) erstattet. In dem entsprechenden Bericht wurde die Diagnose Asthma bronchiale bei Sensibilisierung gegenüber multiplen inhalativen Allergenen gestellt. Es wurden Beschwerdefreiheit im Urlaub bzw. eine arbeitsbezogene Symptomatik angegeben. Als Auslöser wurde unter anderem Sojapulver genannt.

Im Dezember 2020 wurde ein Gutachten über den Versicherten erstellt, in dem eine bronchiale Hyperreaktivität sowie Sensibilisierungen gegenüber Umwelt- und Berufsallergenen beschrieben wurden. Konkret zeigten sich im Pricktest positive Reaktionen auf früh- und mittelblühende Baumpollen, Gräser- und Getreidepollen, Kräuter- und Beifußpollen. Spezifische IgE-Antikörper (sIgE) fanden sich gegen Sojabohne sowie gegen die Enzyme Papain und Bromelain (jeweils CAP-Klasse 3). Ein spezifischer Provokationstest wurde nicht durchgeführt. Der begutachtende Arzt empfahl zwar die Tätigkeitsaufgabe, sah jedoch keine BK, da eine OA seiner Meinung nach nicht vorläge. Außerdem lägen Sensibilisierungen gegen diverse Pollenallergene vor. Daraufhin lehnte die Berufsgenossenschaft eine BK ab.

Nachdem der Versicherte Widerspruch einlegte, erging im März 2021 eine beratende Stellungnahme, in der dem o.g. Gutachten inhaltlich zugestimmt wurde und infolgedessen der Widerspruch im Mai 2021 zurückgewiesen wurde.

Im Auftrag des Sozialgerichts wurde im Dezember 2021 ein weiteres Gutachten über den Versicherten erstellt, welches die Meinung des ersten Gutachters bestärkte, dass eine OA nicht zweifelsfrei bestehe. Auch hier war die bronchiale Hyperreaktivität des Versicherten bestätigt worden.

Sozialgerichtsgutachten im Mai 2023 (IPA Bochum)

Der 33-jährige männliche Versicherte gab an, dass er zum Zeitpunkt seiner Tätigkeit als Fleischentwickler in der Firma A unter asthmatischen, rhinokonjunktivitischen und kontakturtikariellen Beschwerden gelitten hatte. Durch seine antiobstruktive Medikation (Tab. 1) und den Tätigkeitswechsel zur Firma B gehe es ihm deutlich besser, er leide aber nach wie vor unter Kurzatmigkeit beim Sport. Vor der Untersuchung war die Medikation leitliniengerecht pausiert worden.

Tab. 1: Charakteristika, Symptome und Testergebnisse des Patienten zum Zeitpunkt der Untersuchung in unserem Institut

Die Lungenfunktion wurde mittels Spirometrie und Bodyplethysmografie mit Power Cube Body® (Ganshorn Schiller Group, Niederlauer, Deutschland) nach Standardverfahren4 unter Verwendung von Referenzwerten der Global Lung Function Initiative (GLI)5 durchgeführt. Es zeigte sich eine unauffällige Lungenfunktion (Tab.1).

Um eine mögliche bronchiale Hyperreaktivität zu diagnostizieren, wurde der Einkonzentrations-Vierstufen-Methacholintest mit dem Provo.X (Ganshorn) gemäß den Empfehlungen der American Thoracic Society (ATS) in adaptierter Form durchgeführt.6 Dabei betrugen die in vier Stufen zu inhalierenden kumulierten Dosen 15μg, 60μg, 240μg und 960μg Methacholin. Sowohl in dem vor als auch nach dem spezifischen Provokationstest durchgeführten Methacholintest war eine bronchiale Hyperreaktivität spirometrisch (Abfall der Einsekundenkapazität FEV1≥20%) nachweisbar (Tab.1).

Die im Rahmen der früheren Untersuchungen beschriebenen Sensibilisierungen konnten im Prick- bzw. sIgE-Test (ImmunoCAP-System, ThermoFisher Scientific, Phadia AB, Uppsala, Schweden) weitgehend reproduziert werden (Tab.1). Da der Sojaproteinextrakt vom Arbeitsplatz des Versicherten (1%ig in physiologischer Kochsalzlösung, selbst hergestellt) eine sehr deutliche Hauttestreaktion auslöste, wurde dieses Berufsallergen auch für die Durchführung der spezifischen inhalativen Provokationstestung ausgewählt. Diese erfolgte mittels Provo.X, beginnend mit 0,37μg Sojaprotein in vierfachen Dosissteigerungen bis zu einer kumulativen Gesamtdosis von 30,7μg. Es zeigten sich ein geringer Anstieg des spezifischen Atemwegswiderstands und ein signifikanter FEV1-Abfall um 22% (Abb. 1).

Abb. 1: Zeitlicher Verlauf des inhalativen Provokationstests mit Sojaprotein vom Arbeitsplatz des Versicherten. Die Inhalation begann mit einer Dosis von 0,37µg und wurde nach der 4. Stufe (kumulierte Dosis: 31µg) wegen Erreichens eines der beiden Positivkriterien (Abfall der forcierten Einsekundenkapazität/FEV1 um ≥20%) und Beschwerden des Patienten abgebrochen. Eine Verdopplung des spezifischen Atemwegswiderstandes (sRt) auf mindestens 2,0 kPa*sec war zu diesem Zeitpunkt nicht messbar. Der Test wurde dennoch als positiv beurteilt.

Der Versicherte gab beim Provokationstest Druckgefühl, erschwertes Atmen sowie Kratzen im Hals und Hustenreiz an. Ab der 4. Dosisstufe waren leichte, giemende Atemgeräusche hörbar. Das fraktionierte exhalierte Stickstoffmonoxid (FeNO) stieg von 18ppb auf 26ppb am Folgetag leicht an. Die Testung wurde als positive Sofortreaktion gewertet.

Diskussion

Im vorliegenden Fall konnte eine Sensibilisierung gegen das – für einen Metzger atypische – Berufsallergen Soja zweifelsfrei gezeigt werden, was die arbeitsbezogene Symptomatik ausreichend erklärt. Die Frage, ob noch weitere Berufsstoffe, wie z.B. Papain und Bromelain, von klinischer Relevanz sind, muss offenbleiben. Zwar existiert eine Kreuzreaktivität zwischen Birkenpollen und Soja, da das Stressprotein Gly m 4 aus Soja in seiner Struktur dem Birkenpollenallergen Bet v 1 sehr ähnelt,7 dies ist im Rahmen einer Begutachtung jedoch nicht von Bedeutung. Nach der Reichenhaller Empfehlung ist die Feststellung der Folgen einer BK unabhängig davon, ob es sich um eine primär beruflich erworbene Sensibilisierung oder eine Kreuzreaktivität handelt, wenn gezeigt ist, dass die berufliche Exposition den Krankheitsverlauf wesentlich modifiziert hat.8

Durch den positiven inhalativen Provokationstest mit Sojaprotein konnte die bronchiale Obstruktion unseres Patienten klar belegt werden. Darüber hinaus ist jedoch zu betonen, dass nach der Reichenhaller Empfehlung auch die zweifelsfrei bestehende symptomatische bronchiale Hyperreaktivität bereits das Kriterium einer obstruktiven Atemwegserkrankung erfüllt.9 Diese war bereits bei den Begutachtungen 2020 und 2021 festgestellt worden und macht die Argumentation der bislang beteiligten Gutachter, dass eine OA nicht bestünde, schwer verständlich. Unseres Erachtens liegt bei dem Versicherten eine BK 4301 vor.

Die Tätigkeit in der Firma A, wo die entsprechende Exposition nachweislich stattfand, wurde im September 2019 aufgegeben. Da jedoch anzunehmen ist, dass auch bei der aktuellen Tätigkeit eine geringe Exposition besteht, ist unseres Erachtens der Versicherungsfall auf den 1.1.2021 (Wegfall des Unterlassungszwanges) zu datieren.9 Eine Entscheidung des Falles lag zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung noch nicht vor.

1 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Merkblatt zur BK Nr. 4301. Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen(einschließlich Rhinopathie), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. https://www.baua.de/DE/Themen/Praevention/Koerperliche-Gesundheit/Berufskrankheiten/Dokumente.html?pos=4 ; zuletzt aufgerufen am 4.4.2024 2 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).: Merkblatt zur BK Nr. 4302. Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. https://www.baua.de/DE/Themen/Praevention/Koerperliche-Gesundheit/Berufskrankheiten/Dokumente.html?pos=4 ; zuletzt aufgerufen am 4.4.2024 3 Allgemeine Unfallversicherungsanstalt: Liste der Berufskrankheiten. www.auva.at/cdscontent/load?contentid=10008.541831&version= 1644501156; zuletzt aufgerufen am 4.4. 2024 4 Graham BL et al.: Standardization of Spirometry 2019 Update. An Official American Thoracic Society and European Respiratory Society Technical Statement. Am J Respir Crit Care Med 2019; 200(8): e70-e88 5 Quanjer PH et al.; ERS Global Lung Function Initiative: Multi-ethnic reference values for spirometry for the 3-95-yr age range: the global lung function 2012 equations. Eur Respir J 2012; 40(6): 1324-43 6 Crapo RO et al.: Guidelines for methacholine and exercise challenge testing-1999. This official statement of the American Thoracic Society was adopted by the ATS Board of Directors, 1999. Am J Respir Crit Care Med 2000; 161(1): 309-29 7 Berneder M et al.: Allergen chip diagnosis for soy-allergic patients: Gly m 4 as a marker for severe food-allergic reactions to soy. Int Arch Allergy Immunol 2013; 161: 229-33 8 Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung: Reichenhaller Empfehlung. Begutachtungsempfehlungen für die Berufskrankheiten der Nrn. 1315 (ohne Alveolitis), 4301 und 4302 der Anlage zur BKV. November 2012 9 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Wegfall des Unterlassungszwangs. Hinweise zu den Berufskrankheiten Nr. 1315, 2101, 2104, 2108 bis 2110, 4301, 4302, 5101. https://www.baua.de/DE/Themen/Praevention/Koerperliche-Gesundheit/Berufskrankheiten/Dokumente.html?pos=4 ; zuletzt aufgerufen am 4.4. 2024

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