<p class="article-intro">Gesundes Altern trägt dem individuellen Stoffwechselbedarf Rechnung, indem die individuell essenziellsten Substrate zugeführt werden. Umgekehrt trägt der störungsfrei laufende Metabolismus zum gesunden Altern bei. Die Gendiagnostik kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten, wenn ein umfassendes Bild gewonnen wird und die richtigen therapeutischen bzw. prophylaktischen Schlüsse gezogen werden.</p>
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<p class="article-content"><h2>Personalisierung der Medizin und der Ernährung</h2> <p>Für die heute lebenden Generationen gilt eine revidierte Vorstellung von physischem und mentalem «Alter». Zur Gesundheitserhaltung und Krankheitsprophylaxe wird eine Quadratur des Kreises mit der Erhaltung der hohen Lebensqualität bis zum Tod angestrebt. Nach der WHO ist Gesundheit als ein «Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und [...] das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen» basierend auf den ICD-10 Kriterien definiert.<sup>1</sup> Der Begriff «gesund» in Bezug auf Lebensmittel und Ernährung ist keine pathophysiologisch messbare Einheit und somit undefiniert. Ernährungsempfehlungen wie die Schweizer Food-Pyramide oder das amerikanische «Eat the Rainbow»-Konzept sind deshalb umstritten.<sup>2</sup></p> <h2>Individuelles Genom im Fokus</h2> <p>Ernährungsforschung und -beratung haben in der Vergangenheit nicht mit bahnbrechenden Outputs geglänzt und sich kaum auf individuelle Variationen fokussiert. Spektakulär angekündigte Headlines mussten später oft revidiert werden.<sup>3, 4</sup> So wurde beispielweise die mediterrane Diät als Prophylaktikum von kardiovaskulären Erkrankungen propagiert.<sup>5</sup> Die Studie wurde in Spanien mit einheimischer Bevölkerung durchgeführt. Aus genetischer Sicht ist der Schluss von der Stichprobe nur auf die spanische Grundgesamtheit, nicht aber auf andere Ethnien zulässig.<br /> Vernachlässigung der Genprofile kann auch in klinischen Versuchen wie Medikamentenstudien zu gravierenden Fehlinterpretationen führen. Als potenter erwartete Wirksubstanzen können fälschlicherweise als nicht überlegen interpretiert werden, wenn der Verum-Gruppe mehr Schnellmetabolisierer randomisiert zugeteilt wurden als der Referenzgruppe. Dies führt zu statistischen Typ-II-Fehlern, weshalb auch die genetische Gleichverteilung bei klinischen Studien von erheblicher Wichtigkeit ist.<br /> Einen wesentlichen Beitrag zur echten Personalisierung der Ernährungsmedizin hat in neuerer Zeit die COST Action FA 1403 (POSITIVe) beigetragen. Diese untersuchte interindividuelle Variationen der Ansprechraten auf Pflanzeninhaltsstoffe (Bioactives) mit OMICS-Technologien («genomics», «transcriptomics», «metabolomics»).<sup>6</sup><br /> Gen- und Metabolitenanalysen sind technologisch ausgereift und sowohl für medizinische Diagnostik von Erbkrankheiten als auch Lifestyle-Diagnostik wie Gewichtsmanagement anwendbar. Hinsichtlich der Zuverlässigkeit der abgeleiteten Prognosen gibt es jedoch klare Unterschiede. Während bei Krankheiten mit vollständiger Penetration wie Huntington’s Disease mit dem Nachweis des einzigen dafür verantwortlichen Gens eine klare Diagnose und Prognose ermöglicht wird («Common disease – common variant»-Hypothese),<sup>7</sup> sind bei den polygenen Risiken der Public-Health- relevanten nicht übertragbaren Krankheiten («non-communicable diseases ») wie Adipositas und Herz-Kreislauf- Erkrankungen mehrere Ursachen zu untersuchen. Die mit ihnen zusammenhängenden Gene werden mit «genome-wide association studies» rein statistisch assoziiert und als «Manhattan plots» veranschaulicht.<sup>8</sup> Einige der in dieser Weise assoziierten Gene sind möglicherweise nicht ursächlich mit den Krankheiten verbunden, sondern nur als markierende «tags» vorhanden (Haplotyp). Eine schwierige Interpretation ist die Folge.</p> <h2>Objekte der Genomanalyse</h2> <p>Die Anzahl der direkt mit einem Symptomkomplex wie Übergewicht zusammenhängenden Gene liegt bei mindestens 65.<sup>9, 10</sup> Die stoffwechselzuführenden Pfade sind nicht mitberücksichtigt. Kommerziell erhältliche Gentests sind nicht auf den Nachweis so vieler Genmutationen ausgelegt, sondern nur auf die statistisch häufigsten. Prognosen aufgrund solcher Screeningtestkits sind deshalb heikel.<br /> Will man einem durch ungesundes Ernährungsverhalten verursachten Übergewicht mit mehr sportlicher Betätigung begegnen, so muss die Eignung bestimmter Sportarten zum Gewichtsmanagement erwogen werden. Dazu dient die exprimierte Allelkombination des ACTN3-Gens auf dem Locus rs1815739. Daraus ergibt sich, ob ein Patient aufgrund von schnellen (Sprinter) oder von langsamen Muskelfasern (Marathonläufer) besser auf Krafttraining oder auf Jogging anspricht. Die Energie für kurzzeitige Leistung wird aus der Glykolyse gewonnen, welche ein gutes Dutzend wichtige genetisch festgelegte Enzyme umfasst. Energiegewinnung für einen Marathonlauf benötigt hingegen einen leistungsfähigen aeroben Stoffwechsel. Aus kenianischen Marathonläufern werden daher nie jamaikanische Sprinter und umgekehrt. Die Wahl der geeignetsten gewichtsreduzierenden sportlichen Betätigung bei Übergewichtigen ist deshalb nach genetischer Konstellation zu treffen.</p> <h2>Die Wichtigkeit der gesamtheitlichen genetischen Stoffwechseldiagnostik</h2> <p>Die genetische Bestimmung des Alpha- Actinin-3-codierenden Allels reicht jedoch nicht zur Festlegung der auszuübenden Sportart. Im aeroben Stoffwechsel des Marathonläufers funktionieren Citratzyklus und Atmungskette optimal. Im Citratzyklus werden Elektronen geerntet, welche in der Atmungskette zusammen mit Sauerstoff zur Regeneration von ATP (dem wichtigsten physiologischen Brennstoff) dient. Dieser lange Stoffwechselweg hängt dramatisch von vielen Enzymen mit deren Ko-Enzymen (den Vitaminen der B-Gruppe) und Ko-Faktoren (Eisen, Kupfer) ab.<br /> Eisen als Hämoglobinbestandteil trägt zum Transport von Sauerstoff in die Mitochondrien ( = Kraftwerke der Zelle) bei. Ein massiver Eisenload behebt jedoch eine Anämie nur, wenn genügend Porphyrinmoleküle zur Verfügung stehen. Die Porphyrinbiosynthese ihrerseits benötigt die Grundbausteine Glycin und Succinat (aus der Nahrung) sowie grössere Mengen Methylgruppen, welche von Folsäure, Vitamin B12 und Methionin zur Verfügung gestellt werden. Die Porphyrinbiosynthese umfasst wie die Glykolyse ein gutes Dutzend wichtige Schritte und Enzyme.<br /> Wie bei einem Motor kann die Energieproduktion getunt werden. Dazu hat die Natur anaplerotische Reaktionen (Auffüllungsreaktionen) vorgesehen. Die Energienutzung wird optimiert, indem Pyruvat aus der Glykolyse zu Oxalacetat carboxyliert und somit die Transportkapazität des Citratzyklus erhöht wird:</p> <ul> <li>Pyruvat + CO<sub>2</sub> + ATP + H<sub>2</sub>O → Oxalacetat + ADP + P<sub>i</sub> + 2H<sup>+</sup></li> </ul> <p>Das neu geschaffene Oxalacetat kann mit Acetyl-CoA aus den Protein- und Fettenergiespeichern reagieren und den Citratzyklus effizienter betreiben. Ausserdem wird im Citratzyklus Succinat aufgebaut, einer der Bausteine der Hämoglobinsynthese. Die Carboxylierung ist selbst Energie- und Biotin-abhängig. Der Energieaufwand entspricht einer Investition in eine Prozessverbesserung.<br /> Biotin gehört zu den B-Gruppe-Vitaminen und ist eines der meistunterschätzten Vitamine. Der Erfolg dieses Tunings hängt von der Genetik der Pyruvatcarboxylase ab.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Die Bestimmung weniger Gene genügt nicht, um wirklich personalisiert zu therapieren. Es braucht ein Verständnis für den gesamten individuellen Stoffwechsel, inklusive der zuführenden Wege. Das Interesse der behandelnden Medizinalperson liegt somit nicht auf dem Screening der wahrscheinlichsten Genmutationen mittels der wahrscheinlichsten Gensensoren, sondern auf der Spezifität des Gentests für den vermuteten mutierten Stoffwechselweg. Es wird noch einige Zeit dauern, bis das ganze Exom oder das ganze Genom eines Patienten routinemässig sequenziert wird, sodass auch seltenere Mutationen in eventuell «bloss» zuliefernden Stoffwechselwegen diagnostizierbar werden. Immerhin ist man schon auf dem Weg dorthin.</p> </div></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Report von «Healthy ageing by adaption of individual lifestyle
and by micronutrients supply in times of personalised
medicine». Jahreskongress Schweizerische Gesellschaft
für Gynäkologie und Geburtshilfe SGGG. 4. Hauptthema:
«Gesund altern – aber wie?» 27.06.2019, Olma
Messen, St. Gallen, Schweiz
</p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> WHO. Verfassung der WHO. 0.810.1. www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19460131/201405080000/ 0.810.1.pdf, accessed on 24.06.2019 <strong>2</strong> SGE. Swiss food pyramid. http://www.sge-ssn.ch/media/sge_pyramid_E_ basic_20161.pdf, accessed on 24.06.2019 <strong>3</strong> Ioannidis JPA: The challenge of reforming nutritional epidemiologic research. JAMA 2018; 320(10): 969-70 <strong>4</strong> Ioannidis JPA: Implausible results in human nutrition research. Editorial. BMJ 2013; 347: f6698 <strong>5</strong> Estruch R et al.: Primary prevention of cardiovascular disease with a mediterranean diet supplemented with extra-virgin olive oil or nuts. N Engl J Med 2018; 378(25): 2441-2. Retraction and republication from: Primary prevention of cardiovascular disease with a mediterranean diet. N Engl J Med 2013; 368: 1279-90 <strong>6</strong> COST Action FA1403 (POSITIVe, https://www6.inra.fr/ cost-positive), accessed on 24.06.2019 <strong>7</strong> Manolio TA, Collins FS, Cox NJ et al.: Finding the missing heritability of complex diseases. Nature 2009; 461(7265): 747-53 <strong>8</strong> Psychiatric genomics consortium. PGC. https://www.med. unc.edu/pgc/. Accessed on 24.06.2019 <strong>9</strong> Jenzer H et al.: Gewichtszunahme durch unerwünschte Wirkungen und Interaktionen von Psychopharmakotherapien – eine delikate Herausforderung für die Ernährungsberatung. Schweizerische Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2017; 4: 22-30 <strong>10</strong> Sadeghi L et al.: Nutritional genomics for dietitians: bridging the gap. Can J Clin Nutr 2017; 5(2): 6-21</p>
</div>
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