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„Neue Aufklärung“ oder Gesundheit 2.0?
DAM
Autor:
Mag. Thomas Schindl
Chefredakteur<br> E-Mail: thomas.schindl@universimed.com
30
Min. Lesezeit
08.09.2016
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<p class="article-intro">Das Forum Alpbach und mit ihm die Alpbacher Gesundheitsgespräche, 21.–23. August 2016, standen heuer unter dem Generalthema „Neue Aufklärung“. Die Ideale der Aufklärung, das Vertrauen in die Kraft der Vernunft und den Fortschritt im Gesundheitswesen, wurden dabei jedoch zu einer Frage nach der besseren Technik umgedeutet.</p>
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<p class="article-content"><h2>„Leih mir deine Augen …“</h2> <p>Hört man Christian Erfurt, den jungen CEO des dänischen Start-ups „Be My Eyes“, von der Idee erzählen, die den Impuls zur Gründung des innovativen Unternehmens gab, lässt man sich gerne von seiner Begeisterung anstecken: Die Smartphone-App, die Erfurt mit seinen Kollegen entwickelt hat, ermöglicht es blinden und sehbehinderten Menschen, mit freiwilligen Helfern in Kontakt zu treten, die ihnen ihre Augen leihen – ganz einfach, indem sie ihnen mitteilen, was sie durch die Handykamera der Anwender sehen –, und das rund um die Uhr und in jeder Zeitzone der Welt. „Innerhalb eines Jahres haben wir damit weltweit über 29.000 sehbehinderte Menschen erreicht, denen mehr als 350.000 Freiwillige im wahrsten Sinne des Wortes ihr Augenlicht zur Verfügung stellten“, so Erfurt.<br /> Als Entwickler seien sie selbst überrascht gewesen, zu welchen Zwecken die Anwender die App nutzten: „Eine Mutter ließ etwa das Basketballspiel ihres Sohnes in Echtzeit kommentieren, eine junge Frau wollte das Ergebnis eines handelsüblichen Schwangerschaftstests erfahren, ohne dass es jemand aus ihrem Umfeld kennen sollte.“ Einige User verwendeten die App auch dazu, sich etwas vorlesen zu lassen, nicht alle waren sehbehindert, einige auch Analphabeten, manche vielleicht einsam oder hilfsbedürftig. Das oberste Prinzip von „Be My Eyes“ sollte es Erfurt zufolge aber sein, den Service allen Anwendern für ihre eigenen Zwecke kostenlos zur Verfügung zu stellen. Nach und nach realisierten die Betreiber, was sie da geschaffen hatten: eine Plattform zur Vermittlung freiwilliger Arbeit in globalem Maßstab.</p> <h2>Freiwillige vor!</h2> <p>Mit Blick auf das heimische Gesundheitswesen kann man sich nur mehr Ideen und Initiativen wie „Be My Eyes“ wünschen, frei nach John F. Kennedy: „Frage nicht, was dein Gesundheitssystem für dich tun kann, sondern was du für dein Gesundheitssystem tun kannst.“ Es erscheint daher nur konsequent, dass das Unternehmen eingeladen wurde, sich im Rahmen der Gesundheitsgespräche gemeinsam mit anderen „digitalen Pionieren im Gesundheitsbereich“ vorzustellen. Immerhin könnte der Service, den es anbietet, mit kleinen Adaptionen auch für die medizinische Betreuung pflegebedürftiger Menschen oder von Flüchtlingen und Menschen ohne Deutschkenntnisse verwendet werden.<br /> In den Augen all jener, die auf die Leistungen des bestehenden Systems als Patienten angewiesen sind oder die bereits darin arbeiten und sich teilweise an seinen Arbeitsbedingungen aufreiben, könnte die implizite Aufforderung zu mehr Eigeninitiative mittels Technik jedoch mitunter wie ein zynischer Kommentar erscheinen.</p> <h2>Pferdefuß der Aufklärung</h2> <p>Tatsächlich konzentrierten sich Fortschrittsglaube und Zukunftshoffnung der „Neuen Aufklärung“ nahezu ausschließlich auf den Nutzen der rasant voranschreitenden Digitalisierung für die Entwicklung unserer Gesellschaft. Die Plenarsitzungen und Podiumsdiskussionen im Rahmen der Gesundheitsgespräche malten hingegen ein düsteres Bild des bestehenden Gesundheitswesens:<br /> Fortschritte in der Medizin seien mehr als fraglich und vielfach von den kommerziellen Interessen der Pharmaindustrie überformt; auch das Feld der hehren Wissenschaft sei nicht davor gefeit, neuen Mythen anheimzufallen; eine fehlgeleitete mediale Berichterstattung über die Bedeutung und den praktischen Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse trage zudem nicht zu mehr Aufklärung, sondern zur fortgesetzten Vernebelung der öffentlichen Meinung bei; nicht zuletzt seien Patienten generell übertherapiert und verstünden medizinische Versorgung zusehends als Selbstbedienungsladen zur Behandlung jährlich wechselnder Modeerkrankungen.<br /> Nachdem sich alle Berufsgruppen des Gesundheitswesens einer derart fundamentalen (Selbst-)Kritik unterzogen hatten, blieb beim Publikum ein Eindruck von Ratlosigkeit zurück: „Gibt es denn noch ernsthaft kranke Menschen in unserem Land, denen die Medizin auf anderem Wege helfen kann als mittels Smartphone-Apps und Gesundheitsdatenbanken?“<br /> Natürlich wohnt den neuen Digitaltechnologien ein ungeheures Potenzial zur Verbesserung unseres Gesundheitssystems inne. Letztendlich stellen viele der Neuerungen, die sie ermöglichen, die praktische Implementierung dessen dar, was wir unter Schlagworten wie „individualisierte Therapie“, „mündiger Patient“ und „Medizin auf Augenhöhe“ kennen.<br /> Es bleibt aber zu fragen, ob aus der Sicht der neuen Aufklärer der elektronisch vermittelte Patientenkontakt eine angemessene Entschädigung für das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sein kann, das er vielfach ersetzen soll. Ob die Entscheidungsfindung mittels anonymisierter Gesundheitsdaten die Wahl der richtigen Therapie nicht gerade der Verantwortung eines selbstkritisch aufgeklärten Berufsstandes entzieht und in die Hände einer ökonomisch kalkulierenden Gesundheitsbürokratie legt. Und ob eine Kritik an den Idealen der Aufklärung, selbst wenn sie als Selbstkritik formuliert ist, sich nicht gelegentlich Naivität oder gar Zynismus vorwerfen lassen muss, wenn sie die Verheißungen der Technik als das zentrale Lösungsangebot für dringliche gesellschaftliche Probleme zu verkaufen versucht.</p></p>
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