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Kassenbindung dauerhafter als Ehebund
DAM
Autor:
Dr. Wolfgang Geppert
E-Mail: geppert@aon.at
30
Min. Lesezeit
25.05.2017
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<p class="article-intro">Kassenärzte trennen sich von Ehefrauen, nicht aber vom Vertragspartner. Ihm bleiben sie trotz aller Erniedrigungen treu. Nur wenige wechseln in die Wahlarztpraxis. Die Überschuldung einiger Ärzte macht die Kündigung des Gesamtvertrages unmöglich. Das nützen unsere Gegner weidlich aus.</p>
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<p class="article-content"><p>Wortmeldungen bei diversen Veranstaltungen vor den Kammerwahlen haben deutlich gezeigt, dass die Unzufriedenheit unter den Vertragsärzten für Allgemeinmedizin und Kinderheilkunde am größten ist. Wie schon in diesem Medium mehrfach thematisiert, greifen manche Kollegen mutig zur Selbsthilfe und entledigen sich der „Zwangsjacke Kassenvertrag“. Die Zeitspanne zwischen Einstieg ins Kassenwesen und der persönlichen Kündigung des Vertrages ist dabei von unterschiedlicher Länge. Allgemeinmediziner Dr. Peter-Kurt Österreicher zum Beispiel, jetzt erfolgreicher Wahlarzt in Traiskirchen, war lediglich drei Jahre lang Kassenvertragsarzt. Die Mödlinger Kinderärztin Dr. Ursula Vallazza hat der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse (NÖGKK) 15 Jahre lang die Treue gehalten. Mit 1. Juli wird sie diesen Vertrag abschütteln und lässt schon jetzt über eine Landeszeitung wissen, dass sie sich außerstande sieht, weiterhin bis zu 100 Patienten täglich durchzuschleusen. Für Gespräche, so ihre Aussage, bleibe keine Zeit. Stattdessen quäle die NÖGKK sie mit Überprüfungen, weil ihre Werte nicht durchschnittlich genug seien. Nach einer Vertragspartnerbindung von 15 Jahren oder länger kommt für viele der Wendepunkt. Den restriktiven Vorgaben der Kasse kann nicht mehr Folge geleistet werden. Das gilt etwa auch für die Wolkersdorfer Allgemeinmedizinerin Dr. Gertrude Bartke-Glatz. Die Steigerung der administrativen Tätigkeit und die verschärfte Verpflichtung zur Dokumentation hatten ihren Arbeitsaufwand in gesundheitsgefährdende Höhen schnellen lassen. So entledigte sie sich bereits im Herbst 2015 des Vertrages mit der NÖGKK und behielt nur die sogenannten kleinen Kassen. Dieser Schritt ermöglichte ihr die Rückkehr zu einer gesunden Lebensführung. Diese Beispiele ändern nichts an der Tatsache, dass die große Mehrheit der Kassenärzte um die 30 Jahre lang im Vertrag bleibt. Ich kann auch von einem Landarzt berichten, der 41 Jahre lang an die NÖGKK gebunden war.</p> <h2>Drei Durchschnittsehen entsprechen einem Kassenleben</h2> <p>Die mittlere Dauer der im Vorjahr geschiedenen Ehen betrug knapp elf Jahre. Ob die heimischen Kassenärzte aus der Scheidungsstatistik ausscheren, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich kann nur auf Erfahrungswerte aus Ärztesitzungen und aus dem Bekanntenkreis zurückgreifen. Manche Kollegen wechseln schon einige Jahre nach Praxiseinstieg ihre Partnerin aus. Nicht selten heiraten sie dann in zweiter Ehe eine ehemalige Patientin oder eine ihrer Ordinationshilfen. Die Kasse hingegen ist ein Langzeitpartner. – „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ (nach Friedrich Schiller). Für Jungärzte überspitzt formuliert: Ein Kassenleben dauert so lang wie drei durchschnittliche Ehen. Im Laufe von drei Jahrzehnten sind auch finanzielle Talfahrten möglich, seien sie unverschuldet oder durch privates Fehlverhalten verursacht. In diesen Fällen findet eine fast zwangsweise Bindung an den Vertragspartner Krankenkasse statt. Die fixen Honorarüberweisungen der Sozialversicherung dienen als Notanker und verhindern das Abrutschen in die Zahlungsunfähigkeit: Kredite können gerade noch bedient und Angestellte entlohnt werden. Umso wichtiger ist es für die betriebswirtschaftlich unerfahrenen Jungärzte, den Praxisstart mit möglichst geringen Schulden über die Bühne gehen zu lassen.</p> <h2>Schuldner sind unfrei</h2> <p>Auf Ärzteversammlungen stimmen auch die von überdimensionalen Kreditrückzahlungen betroffenen Mediziner in den Chor der Kassenkritiker ein. Sie klagen über die explodierende Bürokratie und die zunehmende Fremdbestimmung. Gleitet die Diskussion jedoch in Richtung Notwendigkeit einer landesweiten Vertragskündigung, verstummen diese Kollegen. Bittere Wahrheit: Überschuldung nimmt die Mehrheit der Vertragsärzte in Geiselhaft. Selbst der kurzzeitige Ausfall von Kassengeldern, wie in einem vertragsfreien Zeitraum, stellt für sie ein Horrorszenario dar. Auch Fehltritte des Vertragspartners, wie übergenaue Patientenbefragungen oder Zurechtweisungen durch den chefärztlichen Dienst, können an dieser festen Bindung nicht rütteln. Ärzte, die dahinterkommen, dass sie im Auftrag des Ehepartners von einem Detektiv beschattet werden, wenden sich umgehend an den Scheidungsanwalt. Ist es aber die Kasse, die in ähnlicher Weise agiert, wird dieses Fehlverhalten geduldet. So wird Mystery Shopping zähneknirschend von der Standesvertretung hingenommen – genauso wie die von Vertragsärzten durchzuführenden Ausweiskontrollen bei Fremdpatienten.</p> <h2>Österreichweite Kündigung der GKK -Verträge unrealistisch</h2> <p>Am Gesamtvertrag wird nicht gerüttelt, was immer auch kommen mag: ELGAZwang ohne adäquate Abgeltung, ein medizinisch längst überholter Leistungskatalog, Verherrlichung und Subventionierung von Primärversorgungszentren, um nur einige Tiefschläge zu erwähnen. Frei erfundene Zuspitzung: Sollten uns die Kassen zukünftig zwingen, neben den Chipkarten-Überprüfungen auch Taschenkontrollen hinsichtlich Medikamentenrestbeständen bei unseren Patienten durchzuführen, wäre das kein Grund, die Verträge mit den Gebietskrankenkassen österreichweit zu kündigen. Die Leidensfähigkeit der Vertragsärzteschaft macht das Gegenüber so mächtig. Wir sind der Willkür des Gesetzgebers und der Sozialversicherer hilflos ausgeliefert. Um es ganz deutlich auszusprechen: Eine österreichweite Kündigung der GKK-Verträge durch die Standesvertretung ist und bleibt reine Theorie. Die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) ist dazu nicht berechtigt. Die neun Länderkammern müssten – in einer exakt abgestimmten Aktion – den Vertrag mit der jeweiligen GKK kündigen: ein Ding der Unmöglichkeit. Der Aktionstag als Reaktion auf die §15a- Vereinbarung vergangenen Dezember hat die Hilflosigkeit unserer Standesvertretung medienwirksam dokumentiert. Von Wien bis Vorarlberg wurden jeweils eigene Suppen gekocht. Die besagte Vereinbarung ging daher komplikationslos durchs Parlament. Den Funktionären der GKK Oberösterreich und Steiermark haben die Kündigungsdrohungen der Verträge mit „ihren“ Länderkammern nur ein müdes Lächeln gekostet. Kassenfunktionäre zittern nur vor möglicher Fusion ihrer Anstalten, Aktionen der Ärztekammer jedoch stehen sie angstfrei gegenüber.</p> <h2>NÖ: „Vertragsloser“ würde 130 Kollegen in den Konkurs treiben</h2> <p>War bisher die Unmöglichkeit eines „Vertragslosen“ nur hinter vorgehaltener Hand bestätigt worden, änderte sich das mit dem Wahlkampf 2017 der niederösterreichischen Standesvertretung. Vor laufender ORFKamera erklärten Spitzenfunktionäre in den Räumlichkeiten der niederösterreichischen Landeskammer unisono, eine Vertragskündigung stehe nicht zur Diskussion. Man könne, so die Aussage des 1. Kurienobmann- Stellvertreters Dr. Max Wudy, nicht verantworten, dass bei Kündigung des Gesamtvertrages allein in Niederösterreich 130 Kollegen in den Konkurs schlittern. Eine Vertragsauflösung wäre unmöglich und ein Streik ginge sowohl auf die Kosten der Kammermitglieder als auch auf die der Patienten. So schließt sich der Kreis. Die Standesvertretung kann keine Verbesserungen erzwingen. Selbsthilfe ist angesagt. Kein einziger „Kassenaussteiger“, den ich befragt habe, bereut seinen Schritt in die Freiheit.</p></p>
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