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Hausarzt-Maximalbelastung bei Freitod eines Patienten
DAM
Autor:
Dr. Wolfgang Geppert
E-Mail: geppert@aon.at
30
Min. Lesezeit
21.12.2017
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<p class="article-intro">In der Suizidprävention kommt dem Allgemeinmediziner eine Schlüsselrolle zu. Selbsternannte Nothelfer hingegen überschätzen ihre Möglichkeiten.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die Meldung vom Freitod eines Patienten schlägt wie eine Bombe in den Ordinationsalltag ein. Der laufende Betrieb einer Landarztpraxis kommt zum Stillstand. Plötzlich werden die Probleme des Tages ganz klein. Selbst das Gemurre der Dauerpatienten über eine angeblich ungerechte Wartenummernvergabe verstummt schlagartig. Unter den Ortsbewohnern verbreitet sich die Schreckensmeldung in Windeseile: „Der Eisenbahner- Müller hat sich erschossen!“ Eine ältere Dame ergänzt: „Genau wie sein Vater.“<br /> Nichts bleibt der Landbevölkerung nachhaltiger in Erinnerung als die lokale Statistik der Suizide. Ein Beispiel: Bereits bei meinem Antritt als Kassenarzt im Weinviertel 1981 drang die Information an meine Ohren, Bewohner eines Nachbarortes würden im Jargon der Alteingesessenen als die „Schneider-Hänger“ bezeichnet. In dem räumlich abgeschlossenen Ortsverband bestünde eine Häufung von Suiziden. Die Auflistung der tragischen Fälle ließ mir gleich einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Die Anzahl der Freitode unter den Bewohnern mit dem Familiennamen „Schneider“ erschien wirklich vermehrt. In weiterer Folge legte ich bei allen Stammpatienten unter anderem mein Augenmerk darauf, ob suizidales Handeln in der Familiengeschichte einen Stellenwert hatte. So wird der Praktiker zum Familienarzt der besonderen Art. Es entstehen Querverbindungen, welche einem Außenstehenden verborgen bleiben. Bei Kontakten mit derart belasteten Patienten lief ein Warnprogramm in meinem Hinterkopf ab. Sobald ein depressives Zustandsbild und/oder etwa ein chronischer Alkoholmissbrauch vorlagen, lenkte ich das Gespräch auf eventuell vorliegende Suizidgedanken. Mitglieder der Jägerschaft erschienen mir in diesem Zusammenhang besonders gefährdet. Mit einer zu Hause verfügbaren Schusswaffe ist die Hemmschwelle für die Selbsttötung deutlich gesenkt. Beim feuchtfröhlichen Zusammensitzen der Waidmänner wird nicht selten darüber diskutiert, wie sich der Schussgewandte auf sicherste Weise das Leben nehmen kann. So wurde ich eines Nachmittags von Anrainern zu einem befreundeten Jäger gerufen. Er saß leblos im Garten auf einem Stuhl. Das Jagdgewehr lag am Boden. Der Kopf des Depressiven fehlte komplett. In Erinnerung blieb mir dabei eine unnatürliche Stille, die im Garten herrschte. Die sonst zahlreichen Vögel in den Bäumen hatten offensichtlich nach dem Schussknall das Weite gesucht.</p> <h2>Selbsttötung im Nebenzimmer</h2> <p>Im Gegensatz dazu herrscht, so sich der Patient im Kreise seiner Familie das Leben nimmt, keine Spur von Stille. Diesbezüglich erinnere ich mich an den Freitod eines Familienvaters in den Vormittagsstunden eines Wochentages. Der Notarztwagen war zu diesem Zeitpunkt weit weg und damit nicht verfügbar. Der Hausarzt der betroffenen Familie schien dem Disponenten der Notrufzentrale nicht bekannt gewesen zu sein. So wandte sich „144 Notruf Niederösterreich“ an meine Nummer. Diese Berufung platzte in die laufende Ordinationstätigkeit. Der Warteraum war gesteckt voll. Nach knapp 5 Kilometern Fahrt stand ich vor dem Haus, in dem die Tragödie stattfand. Schon im Vorgarten waren Schreie zu hören. Die Gattin hatte zusammen mit der behinderten Tochter den tödlichen Kopfschuss im Nebenzimmer mit anhören müssen. Panik war ausgebrochen. Die Ehefrau wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, ihre Tochter schrie laut. 20 Minuten lang versuchte ich, als Krisenmanager ohne spezielle Ausbildung, mein Bestes. Schließlich traf der Bestatter, von einem vormittäglichen Begräbnis abberufen, am Ort des Geschehens ein und leistete mir volle Unterstützung. Nichtsdestoweniger hätten wir damals einen Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams vom Roten Kreuz, so er rasch verfügbar gewesen wäre, mit offenen Armen empfangen, denn bei Vorfällen wie diesem ist jede zusätzliche Unterstützung ein Segen.</p> <h2>Suizidprävention durch Zwangseinweisung</h2> <p>Eine ganz besondere Herausforderung stellt der Umgang mit jenen Patienten dar, die vor Zeugen ihren Freitod ankündigen. Da kann der herbeigerufene Allgemeinmediziner in die Bredouille kommen. Um einen fatalen Ausgang zu verhindern, muss hier oft das Unterbringungsgesetz Anwendung finden: Einweisung gegen den Willen des Suizidpatienten auf eine psychiatrische Abteilung. Als niederösterreichischer Gemeindearzt nach der „alten“ Version stand mir diese Möglichkeit offen. Was das bedeutet, wenn der Einzuweisende zum Bekanntenkreis gehört, braucht nicht extra betont zu werden. Der herbeigerufene Arzt hat zwischen Pest und Cholera zu wählen. Unterlässt er die Zwangseinweisung und der Begutachtete vollzieht danach die Selbsttötung, kann es ein gerichtliches Nachspiel geben. Im Juli 2017 ging ein Vorarlberger Zivilprozess durch die Medien, bei dem für den Freitod eines 69-Jährigen die vorher herbeigerufene Ärztin verantwortlich gemacht wurde. Familienangehörige des Verstorbenen werfen der sogenannten „Poolärztin“ vor, eine angeblich notwendige Zwangseinweisung in die Psychiatrie des Landeskrankenhauses Rankweil unterlassen zu haben. Am 22. August 2016 riefen Familienangehörige die Polizei um Hilfe. Grund: Der depressive Vater hatte seinen Selbstmord angekündigt. Die Poolärztin wurde beigezogen. Zwei Stunden nach der Untersuchung nahm sich der Mann das Leben. Er ertrank im Bodensee. Der Sohn des Verstorbenen forderte bei der ersten Verhandlung im Juli 2017 einen Schadenersatz von 22 000 Euro. Darin waren unter anderem die Kosten für die Beerdigung des Vaters in der Türkei enthalten. Über den weiteren Verlauf des Verfahrens ist zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieser Ausgabe nichts bekannt.</p> <h2>Ö3-Star Robert Kratky als selbsternannter Nothelfer</h2> <p>Außenstehenden fehlt oft der Einblick in die hochkomplexe Suizidproblematik. Am Ende meiner Ausführungen steht das aufrechte Angebot eines Ö3-Stars. Die Bewertung dieses Angebots sei jedem Leser selbst überlassen. Wir blenden in den Sommer zurück. Am 20. Juli beging Chester Bennington, der von Drogen- und Alkoholsucht gebeutelte Sänger der Rockband „Linkin Park“, Suizid. Während Ö1- Hörer den Kopf schüttelten, weil sie mit dem Namen des Künstlers nichts anfangen konnten, traf die Todesmeldung Nu-Metal-Fans unter den Ö3-Hörern mitten ins Herz. Für sie zählt Linkin Park zu den erfolgreichsten Rockbands der Welt. Erst einen Monat zuvor, am 14. Juni, hatten sie im Kreise von 50 000 Gleichgesinnten die Gelegenheit gehabt, dem nunmehr freiwillig aus dem Leben Geschiedenen auf dem Nova-Rock-Festival in Nickelsdorf zuzujubeln. Ein typisches Medienphänomen setzte ein: das Hochleben-Lassen eines bis dahin nahezu Unbekannten wegen seines plötzlichen, spektakulären Ablebens.<br /> Als Begleiterscheinung der Berichterstattung wurde das Thema „Freitod“ aufgegriffen. So fasste zum Beispiel die ehrwürdige „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Verhaltensregeln in Sachen Suizidgefahr in einem Kasten zusammen. Dabei wurden unter anderem mehrere telefonische Notdienste aufgelistet. Überschrift: „Hilfe bei Suizidgedanken“. Auch Radiosender beschäftigten sich plötzlich mit den zahlreichen Formen der Depression. So lag für den Hitsender Ö3 nichts näher, als wieder einmal die sperrige Kummernummer in Erinnerung zu rufen. Wer die Zahlenfolge dieser Telefonnummer frei im Gedächtnis hat, kann nicht zum Personenkreis der schwer Depressiven gezählt werden: „116 123“. Anrufe unter dieser Nummer werden an geschulte Rotkreuz-Mitarbeiter weitergeleitet. Nachteil dieses Telefondienstes: Er ist nur zwischen 16 Uhr und 24 Uhr in Betrieb. Am Tag nach Benningtons Selbstmord richtete Ö3-Moderator Kratky in seiner Sendung eindringliche Worte an die Hörer. Ein Suizid wäre nichts Heldenhaftes. Der Ö3-Star bot zum Abschluss des Statements seine Hilfe an: „Sollten Sie gerade in einer Situation sein, wo Sie glauben, es gibt keinen Ausweg: Im allerschlimmsten Fall rufen Sie mich persönlich an!“</p></p>
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