© Radu Bighian iStockphoto

Handchirurgie bei Patienten mit Para- und Tetraplegie – innovative Methoden für besondere Ansprüche

<p class="article-intro">Jeder kann innerhalb eines Augenblicks durch Rückenmarkschädigung aus seinem Leben gerissen werden – ob durch Unfall (Arbeit, Haushalt, Sport), Durchblutungsstörung, Infektion, Operation oder Tumor. Pro Jahr treten weltweit ca. 250.000–500.000 neue Querschnittlähmungen auf, allein in Deutschland ca. 1.800. Eine Heilung ist derzeit bei kompletter Läsion nicht in Sicht. Die spezialisierte Handchirurgie kann jedoch die Arm- und Handfunktion bei querschnittsgelähmten Patienten verbessern und Schmerzen reduzieren, die Methoden sind oft auch bei nicht gelähmten Patienten hilfreich.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Meist sind besonders aktive Menschen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr betroffen. Man unterscheidet zwischen einer L&auml;hmung der Beine (Paraplegie) und einer Sch&auml;digung im Halsr&uuml;ckenmarkbereich (C1&ndash;Th1). Diese f&uuml;hrt zur Tetraplegie, d.h. zur teilweisen oder kompletten L&auml;hmung aller vier Extremit&auml;ten sowie sensiblen und autonomen Ausf&auml;llen und damit oft zur v&ouml;lligen Abh&auml;ngigkeit von fremder Hilfe. Menschen mit Querschnittl&auml;hmung sind besonders auf die Funktion ihrer Arme und H&auml;nde angewiesen, da diese teilweise die Funktionen der gel&auml;hmten Beine ersetzen m&uuml;ssen und deshalb stark und sogar &uuml;berm&auml;&szlig;ig beansprucht werden. Hier ist eine spezialisierte Behandlung von Erkrankungen und L&auml;hmungen der oberen Extremit&auml;t m&ouml;glich. Ein Expertenteam aus Handchirurgen, Reha-Medizinern, Ergo- und Physiotherapeuten ber&auml;t die Patienten umfassend &uuml;ber chirurgische und nicht operative M&ouml;glichkeiten zur Verbesserung ihrer Arm- und Handfunktionen.<br /> Die vorgestellten Behandlungskonzepte beruhen auf gro&szlig;en Patientenserien, intensiver klinischer Forschung und internationalen wissenschaftlichen Kooperationen. Sie ber&uuml;cksichtigen die besonderen Anspr&uuml;che von Para- und Tetraplegikern, kommen aber auch nicht querschnittgel&auml;hmten Patienten zugute.</p> <h2>Endoskopischer oder perkutaner Zugang bei Nerven- und Sehneneinengungen</h2> <p>Bei vielen Eingriffen, z.B. Nervenentlastungen bei Karpaltunnel- und Sulcus-ulnaris-Syndrom, werden endoskopisch assistierte Techniken mit Schnittl&auml;ngen von nur 2&ndash;3cm angewandt. Manchmal ist kein eigentlicher Schnitt, sondern nur eine gezielte Stichinzision notwendig. Beim &bdquo;Schnappfinger&ldquo; durch H&auml;ngenbleiben der entz&uuml;ndlich gereizten Beugesehne im Bereich des 1. Ringbandes (Tendovaginitis stenosans) ist ein sogenannter &bdquo;perkutaner&ldquo; Zugang m&ouml;glich. Mit einer feinen Klinge wird unter die Haut eingegangen und das einengende Ringband dann unter Tast- oder Ultraschallkontrolle durchtrennt. Die Wunde ist so klein, dass meist keine Naht notwendig ist und eine Belastung am n&auml;chsten Tag m&ouml;glich wird (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Derma_1603_Weblinks_Seite72.jpg" alt="" width="381" height="420" /></p> <h2>Gezielte Denervation bei Gelenkschmerzen als Alternative</h2> <p>Ein weiteres Beispiel f&uuml;r dieses Vorgehen ist die Behandlung von schmerzhaften Arthrosen, die bei Rollstuhlfahrern h&auml;ufig zu Funktionsverlusten f&uuml;hren. Vor allem sind Handgelenk, Daumensattelgelenk und die Fingergelenke betroffen. Normalerweise werden hier korrigierende Knocheneingriffe (z.B. Gelenkplastik, Teil- oder Totalversteifungen von Gelenken) oder Endoprothesen angeboten, Nachteile sind jedoch monatelange Ruhigstellung und Einschr&auml;nkung der Beweglichkeit. Eine Alternative ist eine gezielte Durchtrennung von Schmerzfasern (Denervation), die Schmerzinformationen &uuml;bertragen. Die Gelenkintegrit&auml;t, Hautsensibilit&auml;t und Muskelfunktion bleibt somit bewahrt, es werden keine Implantate, postoperative Ruhigstellung oder Rehabilitation ben&ouml;tigt. Diese Technik wurde urspr&uuml;nglich f&uuml;r Handgelenkschmerzen etabliert, es wurden aber auch Erfolgsraten in ca. 80 % f&uuml;r Schulter-, Finger-, Ellenbogen-, Knie- oder Sprunggelenk erreicht. Der Effekt einer geplanten Operation kann vorher durch eine Probeblockade der Schmerzfasern mit Lokalan&auml;sthetikum mit hoher Treffsicherheit vorhergesagt werden. Die Schnitte sind relativ klein (Abb. 2), die Schmerzreduktion ist meist erheblich.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Derma_1603_Weblinks_Seite73.jpg" alt="" width="381" height="1332" /></p> <h2>Minimal invasive Methoden &ndash; kleine Schnitte mit gro&szlig;er Wirkung</h2> <p>Die hohe Belastung der H&auml;nde bei Menschen im Rollstuhl verursacht nicht selten schmerzhafte Krankheitsbilder, z.B. Arthrose, Sehnenerkrankungen (Fingerschnappen, Sehnenscheidenreizungen) oder Nerveneinengungen (v.a. Karpaltunnel- oder Ellenbogenrinnensyndrom). Rollstuhlfahrer legen besonderen Wert auf m&ouml;glichst kurze Immobilisation und fr&uuml;he Belastbarkeit, um im Alltag nicht eingeschr&auml;nkt zu sein, vor allem beim Transfer aus und in den Rollstuhl. Wenn sinnvoll, erfolgen daher alle Eingriffe minimal invasiv, damit die operierte Hand m&ouml;glichst bald wieder eingesetzt werden kann.</p> <h2>Rekonstruktion der Arm- und Handfunktion bei Tetraplegie &ndash; zuverl&auml;ssig, aber selten genutzt</h2> <p>Oberste Priorit&auml;t f&uuml;r die meisten Tetraplegiker ist die Wiedererlangung der Arm- und Handfunktion, sie wird als weit wichtiger gewertet als Gehen, Blasen- und Darmkontrolle oder Sexualfunktion. Eine kontrollierte Ellenbogen- und Handgelenkstreckung und Greiffunktion der Hand kann ab einem L&auml;sionsniveau von C5/6 (ca. 75 % der F&auml;lle) durch Muskel- und Nervenverlagerungen, Gelenkstabilisierungen und Spastik-reduzierende Eingriffe zuverl&auml;ssig wiederhergestellt werden. Das Prinzip ist es, die Restfunktionen so zu verteilen, dass sich f&uuml;r den Patienten ein echter Nutzen im Alltag ergibt. Dies kann Eigenst&auml;ndigkeit, Mobilit&auml;t, soziale Integration, Erwerbsf&auml;higkeit und letztlich auch Selbstvertrauen und Lebensqualit&auml;t sich positiv ver&auml;ndern. Die Anatomie des R&uuml;ckenmarks bleibt dabei unver&auml;ndert, sodass alle eventuell in Zukunft verf&uuml;gbaren neuen Therapieans&auml;tze m&ouml;glich bleiben.<br /> Eine aktuelle Metaanalyse von &uuml;ber 500 Rekonstruktionen aus 14 Studien ergab eine Verbesserung der Ellbogenstreckung von Kraftgrad M0 (keine Bewegung) auf durchschnittlich 3,3 (M3 = Bewegung gegen Schwerkraft) und der Greifkraft von 0 auf ca. 2kg, was eine erhebliche verbesserte Gebrauchsf&auml;higkeit der oberen Extremit&auml;t erm&ouml;glichte. Trotz dieser zuverl&auml;ssig positiven Ergebnisse nach Rekonstruktion der Arm- und Handfunktion profitieren nur sehr wenige (unter 10 % ) aller m&ouml;glichen Kandidaten von dieser M&ouml;glichkeit.</p> <h2>Wiederherstellung von Ellenbogenstreckung und Greiffunktion &ndash; neue Ziele erfassen</h2> <p>Die Wiederherstellung der Ellenbogenstreckung erlaubt es dem Patienten, die Hand gezielt im Raum zu bewegen, erleichtert den Transfer, die Fortbewegung im manuellen Rollstuhl (auch &uuml;ber Schwellen und Steigung), die Druckentlastung und erm&ouml;glicht viele Alltagsnotwendigkeiten (z.B. T&uuml;ren &ouml;ffnen, anziehen, K&ouml;rperpflege). Eine Greifform zwischen Daumen und Zeigefinger (Kneifgriff) und die aktive Fingerbeugung erlauben es, Gegenst&auml;nde unterschiedlicher Gr&ouml;&szlig;en (Flasche, Trinkglas, Mobiltelefon oder Besteck) zu bedienen, aber auch motorisch anspruchsvolle T&auml;tigkeiten zu verrichten, wie Schreiben, Schminken oder Selbstkatheterisieren. Sehr wichtig ist auch der wieder m&ouml;gliche soziale Einsatz der Arme und H&auml;nde, z.B. beim Gestikulieren, Handgeben und Streicheln.<br /> <br /><strong> Neue Kombinationseingriffe &ndash; 1 Operation statt fr&uuml;her 2&ndash;3 Eingriffe</strong><br /> Die Rekonstruktion der Greiffunktion erfolgt in der Regel in einem Schritt als Kombination aus 5&ndash;8 Einzeleingriffen (Alphabet-Operation). Es werden gleichzeitig folgende Funktionen rekonstruiert: (1) aktive Beugung von Daumen und (2) Fingern, (3) ihre passive Streckung (&Ouml;ffnung der Hand), (4) intrinsische Funktion der Hand, (5) gerade Handgelenksstellung ohne Kraftverlust durch Abweichung, (5) Stabilisierung des Daumenendgelenks und (6) optimale Position des Daumens zum Zeigefinger, man spricht von einer Alphabet-Operation. Dies ist ein gro&szlig;er Fortschritt gegen&uuml;ber dem sonst meist &uuml;blichen Vorgehen in 2&ndash;3 Schritten, die Patienten sparen viel an Zeit, Aufwand und Kosten.<br /> <br /><strong> Intensive Be&uuml;bung ab dem 1. postoperativen Tag dank stabiler Sehnenn&auml;hte</strong><br /> Die Sehnenn&auml;hte werden in spezieller Nahttechnik durchgef&uuml;hrt, ihre Stabilit&auml;t liegt etwa um den Faktor 10&ndash;20 &uuml;ber der Belastung bei normaler passiver oder aktiver Be&uuml;bung und so k&ouml;nnen sie vom Patienten normalerweise nicht zerrissen werden. Die Spendersehne wird durch einen kleinen distalen Schlitz in der Empf&auml;ngersehne gezogen, auf dieselbe gelegt und beide Sehnen werden mittels zweier gekreuzter Nahtreihen beidseitig &uuml;ber 3&ndash;5cm miteinander vereinigt. Die Nachbe&uuml;bung ab dem 1. postoperativen Tag erfolgt durch eine spezialisierte Handtherapie. Dies vermeidet Risiken wie Verklebungen oder Bewegungseinschr&auml;nkungen. Die Ergebnisse konnten so hinsichtlich Kraft, Bewegungsumfang und subjektiver Zufriedenheit verbessert werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Derma_1603_Weblinks_Seite74.jpg" alt="" width="381" height="838" /></p> <h2>Verlagerung von Nerven &ndash; eine neue Perspektive</h2> <p>In den letzten Jahren wurde die Transposition von Nerven zur Funktionsverbesserung an Arm und Hand wiederentdeckt, die Technik verfeinert und spezielle Anwendungen f&uuml;r tetraplegische Patienten entwickelt. Dabei wird ein Kurzschluss zwischen verzichtbaren Faszikeln eines Spendernervs oberhalb der gel&auml;hmten Zone respektive der R&uuml;ckenmarkl&auml;sion und dem motorischen Ast eines gel&auml;hmten Muskels (Empf&auml;nger) von unterhalb gebildet. M&ouml;glich ist die Wiederherstellung der Ellenbogen- und Handgelenksstreckung sowie der Beugung und Streckung von Daumen und Fingern. Anhand der bisher ausgewerteten F&auml;llen scheint es ratsam, dass Nerven vorzugsweise bei jungen Patienten und innerhalb circa eines Jahres nach Beginn der L&auml;hmung verlagert werden. Nerventranspositionen haben viele Vorteile, z.B. ist es m&ouml;glich, mittels eines Spendernervs mehrere Funktionen wiederherzustellen. Es bieten sich auch Chancen f&uuml;r Patienten, bei denen eine konventionelle Muskelverlagerung nicht m&ouml;glich ist. Die Funktionswiederkehr dauert allerdings mindestens 6&ndash;9 Monate. Die Kombination traditioneller Muskel- mit innovativen Nervenverlagerungen wird in Zukunft die Indikationen erweitern und die Ergebnisse weiter verbessern.</p> <h2>Conclusio</h2> <p>Die chirurgische Funktionsverbesserung an Arm und Hand bei Para- und Tetraplegie ist eine sehr effektive Form der Handchirurgie, deren Bekanntheits- und Nutzungsgrad aber noch gering ist. Die vorgestellten neuen Ans&auml;tze k&ouml;nnen helfen, die Gebrauchsf&auml;higkeit von Arm und Hand bei dieser Patientengruppe zuverl&auml;ssig zu verbessern, damit sie &bdquo;ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen&ldquo; k&ouml;nnen. Diese Konzepte sind aber auch f&uuml;r viele andere Patienten, z.B. mit peripheren Nerven- oder Sehnenverletzungen oder schmerzhaften Handproblemen, sehr hilfreich.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>&bull; Frid&eacute;n J, Gohritz A: Novel concepts integrated in neuromuscular assessments for surgical restoration of arm and hand function in tetraplegia. Phys Med Rehabil Clin N Am 2012; 23: 33-50 &bull; Frid&eacute;n J, Reinholdt C, Turcs&aacute;nyii I, Gohritz A: A single-stage operation for reconstruction of hand flexion, extension and intrinsic function in tetraplegia: the alphabet procedure. Tech Hand Up Extrem Surg 2011; 15: 230-5 &bull; Frid&eacute;n J, Gohritz A: Update on Tetraplegia Management. J Hand Surg Am 2015; 40: 2489-500 <br />&bull; Gohritz A, Keenan MA, Frid&eacute;n J: Handchirurgie bei ZNS-Sch&auml;digung. In: Sauerbier et al: Die Handchirurgie. Elsevier, 2014 &bull; Gohritz A, Turcs&aacute;nyi I, Frid&eacute;n J: Handchirurgie bei R&uuml;ckenmarkverletzungen (Tetraplegie). In: Towfigh H, Hierner R, Langer M, Friedel R (Hrsg.): Handchirurgie. Heidelberg: Springer, 2011 &bull; Hamou C, Shah NR, DiPonio L, Curtin CM: Pinch and elbow extension restoration in people with tetraplegia: a systematic review of the literature. J Hand Surg Am 2009; 34: 692-9</p> </div> </p>
Back to top