
Ursache des Hereditären Angioödems (HAE): ein Fehler im System
Bericht: Dr.med. Lydia Unger-Hunt
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Die Ursache des hereditären Angioödems (HAE) ist vereinfacht gesagt eine genetisch ausgelöste, fehlgeschlagene Kettenreaktion in Proteinen und Enzymen. Dadurch entsteht zu viel Bradykinin, welches die Permeabilität der Blutgefäße erhöht. So kann Flüssigkeit in das Gewebe übertreten, was zu den typischen (und manchmal lebensbedrohlichen) Ödemen führt.
Beim HAE hat sich ein genetisch bedingter Fehler in die Produktion des Proteins C1-Inhibitor (Abkürzung: C1-INH) eingeschlichen.1 C1-INH gehört zur Gruppe der Serpine, also Proteine, die bestimmte Enzyme bremsen;2 das Gen, das bei den allermeisten Fällen von HAE verändert (mutiert) ist, wird SERPING1 genannt. Eines der Enzyme, die normalerweise durch C1-INH in Schach gehalten werden, ist das Plasmakallikrein. Wenn C1-INH fehlt oder nicht richtig funktioniert, bleibt Plasmakallikrein überaktiv.2,3 Die Aufgabe von Plasmakallikrein ist es, Bradykinin zu produzieren. Das bei HAE nicht ausreichend gehemmte Plasmakallikrein produziert viel mehr Bradykinin, als erforderlich ist.4 Bradykinin wiederum erhöht die Durchlässigkeit der Blutgefäße: Diese Flüssigkeit tritt aus den Gefäßen aus, lagert sich ins Gewebe ein und verursacht damit die passageren Ödeme an verschiedenen Stellen des Körpers.2 Kein oder nur schlecht funktionierendes C1-INH ist demnach verantwortlich für ungebremstes Plasmakallikrein das eine erhöhte Produktion von Bradykinin nach sich führt welches die Entstehung von Ödemen fördert.
Für die Produktion von Bradykinin ist eine ganze Kaskade an Schritten verantwortlich, die durch das Kallikrein-Kinin-System reguliert werden:5 Ein Protein namens Faktor XII (Faktor 12) wird aktiviert, wenn es mit bestimmten Oberflächen im Körper in Kontakt kommt. Dieser aktivierte Faktor XII wandelt das Protein Prekallikrein in Kallikrein um.3,6 In der weiteren Folge hilft Kallikrein dabei, Kininogen in Bradykinin umzuwandeln.6
Welche Rolle spielen die Blutgefäße?
Wesentlich für die gesteigerte Permeabilität der Blutgefäße unter Bradykinin ist das Endothel.7 Das Endothel ist nicht nur eine starre physikalische Barriere zwischen dem Blut und den umgebenden Geweben, sondern wird mittlerweile als komplexes Organ verstanden: Das Endothel kann unterschiedliche Botenstoffe freisetzen, um die Blutgefäße zu erweitern oder zu verengen, es hilft bei der Regulierung der Blutgerinnung, beim Abbau von Blutgerinnseln oder auch bei der Neubildung von Blutgefäßen.8 Eine Beeinträchtigung der Endothelfunktion ist daher mit zahlreichen pathologischen Zuständen verbunden.
Bradykinin steigert die Durchlässigkeit von Blutgefäßen, indem es auf spezielle Rezeptoren (Bradykinin-B1- und B2-Rezeptoren) auf den Endothelzellen der Gefäßwände wirkt.2,9 Dies führt zu mehreren biologischen Reaktionen:
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Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO) und Prostacyclin (PGI2):8 Diese Stoffe entspannen die Gefäßmuskulatur und erweitern die Blutgefäße. NO reduziert die Festigkeit der Zellverbindungen im Endothel, sodass Flüssigkeit und Zellen leichter hindurchtreten können.
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Aktivierung von Phospholipase C (PLC) und Kalziumfreisetzung:10 Dies löst die Freisetzung von Histamin und anderen Entzündungsstoffen aus, die die Gefäßdurchlässigkeit noch weiter erhöhen.
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Auflockerung der Endothelzellverbindungen (tight junctions):10 Durch die Signalwege von Bradykinin werden die Verbindungen zwischen den Endothelzellen gelockert, sodass Wasser, Proteine und Immunzellen aus den Gefäßen ins Gewebe gelangen.
Neue Untersuchungen zeigen zudem, dass Patient:innen mit HAE auch in beschwerdefreien Phasen (also ohne Schwellungen) eine schlechtere Funktion der Blutgefäße haben als gesunde Menschen – dies wurde zuerst an den (großen) Herzkranzgefäßen festgestellt, scheint aber auch für kleinere Blutgefäße zu gelten.11 Daraus resultiert auch die Empfehlung, dass sich HAE-Patienten regelmäßig kardiologisch untersuchen lassen sollten.11
Was ist über die Genetik bekannt?
Der Erbgang bei HAE ist hauptsächlich autosomal-dominant.12 Trägt ein Elternteil (Mutter oder Vater) das veränderte Gen, hat das Kind der beiden eine Wahrscheinlichkeit von 50%, ebenfalls am HAE zu erkranken. Frauen und Männer sind gleich häufig betroffen, und sowohl Mutter als auch Vater können das veränderte Gen an ihre Kinder weitergeben. Es ist daher nicht selten, dass in einer Familie mehrere Menschen vom HAE betroffen sind. Dieser Erbgang liegt bei der Mehrheit der Betroffenen vor. Bei bis zu 25% der Patient:innen tritt eine Neumutation auf, also eine spontane Veränderung des Gens, ohne dass die Krankheit vorher in der Familie aufgetreten wäre.13
Wie bereits erwähnt, wird das HAE vor allem durch Mutationen im SERPING1-Gen verursacht, diese Mutationen machen mehr als 95% aller genetisch vererbten Fälle aus. Es gibt jedoch auch andere genetische Defekte, die zu HAE führen können: Mutationen wurden mittlerweile in drei weiteren Genen namens F12, PLG und ANGPT1 festgestellt.2
Auf Basis der jeweiligen genetischen Mutation werden daher verschiedene Typen von HAE unterschieden:
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HAE Typ 1 (HAE-1): verursacht durch Mutationen, die die Menge von C1-INH verringern2,14
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HAE Typ 2 (HAE-2): verursacht durch Mutationen, die die Funktion von C1-INH beeinträchtigen2,14
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HAE-F XII & HAE-PLG: hängen mit Mutationen im Faktor XII bzw. Plasminogen zusammen2,14
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HAE-ANGPT1: verursacht durch Mutationen im Angiopoietin-1-Gen, die zu HAE-ähnlichen Symptomen führen2,14
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HAE-UI: bezieht sich auf Fälle, bei denen die genetische Ursache noch unbekannt ist.2
Neue Erkenntnisse
Erst im Jahr 2006 wurden die Mutationen im Faktor XII-Gen entdeckt. Diese Mutationen erhöhen die Produktion von aktiviertem Faktor XII, womit Plasminogen vermehrt zu Plasmin umgewandelt wird.15 Plasmin hilft dabei, Blutgerinnsel aufzulösen. Bei den HAE-Patient:innen mit dieser speziellen Mutation im Faktor XII-Gen – und nur bei ihnen – sind daher anti-fibrinolytische Therapien hilfreich, die das (zu viel) an Plasmin blockieren.2
Eine bestimmte Region des Faktor XII-Gens ähnelt sogenannten östrogenabhängigen Elementen. Das bedeutet, dass Östrogen die Konzentration von Faktor XII im Blut erhöhen kann – was bedeutet dass die Symptome dieser HAE-Form während der Schwangerschaft (bei hohen Östrogenspiegeln) stärker werden können.16,17
Fazit
Die pathophysiologischen Erkenntnisse in der HAE-Forschung erlauben nicht nur ein besseres Verständnis der verschiedenen Formen dieser Krankheit. Sie stellen auch die Basis für vielfältige Therapieansätze dar, einschließlich stärker auf die individuelle Person zugeschnittener Strategien. Das umfasst auch aktuelle Entwicklungen in der Gentherapie, die künftig neue Behandlungsoptionen eröffnen könnten.
Literatur:
1 Germenis AE, Speletas M: Genetics of hereditary angioedema revisited. Clin Rev Allery Immunol 2016; 51(2): 170-82 2 Banday AZ et al.: An update on the genetics and pathogenesis of hereditary angioedema. Genes Dis 2020; 7(1): 75-83 3 Kaplan AP, Joseph K: Complement, kinins, and hereditary angioedema: mechanisms of plasma instability when C1 inhibitor is absent. Clin Rev Allergy Immunol 2016; 51(2):207-15 4 Nussberger J et al.: Plasma bradykinin in angio-oedema. Lancet 1998; 35(9117): 1693-7 5 Kaplan AP, Joseph K: The bradykinin-forming cascade and its role in hereditary angioedema. Ann Allergy Asthma Immunol 2010; 104(3): 193-204 6 Bryant JW, Shariat-Madar Z: Human plasma kallikrein-kinin system: physiological and biochemical parameters. Cardiovasc Hematol Agents Med Chem 2009; 7(3): 234-50 7 Wu MA et al.: The central role of endothelium in hereditary angioedema due to C1 inhibitor deficiency. Int Immunol 2020; 28: 106304 8 Sandoo A et al.: the endothelium and its role in regulationg vascular tone. Open Cardiovasc Med J 2010; 4: 302-12 9 Kaplan AP, Ghebrehiwet B: The plasma bradykinin-forming pathways and its interrelationships with complement. Mol Immunol 2010; 47(13): 2162-9 10 Zuraw BL, Christiansen SC: HAE pathophysiology and underlying mechanisms. Clin Rev Allergy Immunol 2016. 51(2): 216-29 11 Firinu D et al.: Impaired Endothelial Function in Hereditary Angioedema During the Symptom-Free Period. Front Physiol 2018; 9: 523 12 Aygören-Püsün E et al.: Epidemiology of Bradykinin-mediated angioedema: a systematic investigation of epidemiological studies. Orphanet J Rare Dis 2018; 13(1): 73 13 Pappalardo E et al.: Frequent de novo mutations and exon deletions in the C1inhibitor gene of patients with angioedema. J Allergy Clin Immunol 2000; 106(6): 1147-54 14 Sinnathamby ES et al.: Hereditary angioexema: diagnosis, clinical implications, and pathophysiology. Adv Ther 2023; 40: 814-27 15 Bork K et al.: Hereditary angioedema with a mutation in the plasminogen gene. Allergy 2018; 73(2): 442-50 16 Binkley KE, Davis A: Clinical, biochemical, and genetic characterization of a novel estrogen-dependent inherited form of angioedema. J Allergy Clin Immunol 2000; 106(3): 546-50 17 Bork K et al.: Hereditary angioedema with normal C1-inhibitor activity in women. Lancet 2000; 265(9225): 213-7
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