«Bessere Sichtbarkeit der Betroffenen – das ist das oberste Ziel»
Unser Gesprächspartner:
PD Dr. med. Urs Steiner
Leiter klinisch translationale Immunologie
Universitätsklinik für Rheumatologie und Immunologie
Inselspital, Universitätsspital Bern
E-Mail: Urs.Steiner@Insel.ch
Das Interview führte Dr.med. Lydia Unger-Hunt
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PD Dr. med. Urs Steiner, Universitätsspital Bern, ist Koordinator der landesweiten Kohortenstudie zum hereditären Angioödem, die das Ziel hat, alle Betroffenen in der Schweiz in einem nationalen Register zu erfassen. Im Interview spricht der Immunologe über die Bedeutung einer vernetzten Versorgung, Erkenntnisse aus der ersten Datenauswertung und seine Vision einer individualisierten Therapie.
Die Schweizer Kohortenstudie zum hereditären Angioödem (HAE)
Das hereditäre Angioödem ist eine seltene Erkrankung, welche sich mit rezidivierender starker Schwellung der Haut und Schleimhäute zeigt. Diese HAE-Attacken treten oft unvorhersehbar auf, können bis zu 3 Tagen anhalten, je nach Lokalisation zu mehrtägiger Arbeitsunfähigkeit führen und bei Schwellungen im Hals auch lebensgefährlich sein. Das Ansprechen der Angioödeme auf die angebotenen Therapien ist individuell sehr unterschiedlich.
U. Steiner, Bern
Eines der Ziele der «Schweizer Kohortenstudie für Hereditäres Angioödem» (HAE), die 2023 gestartet wurde, ist daher, zu untersuchen, warum die Ausprägung von HAE bei den Betroffenen so unterschiedlich ausfallen kann, und zu analysieren, wie die verschiedenen Therapien möglichst effizient und wirksam eingesetzt werden können. Projektleiter und Koordinator der Studie ist PD Dr. med. Urs Steiner, leitender Arzt und Leiter der klinisch translationalen Immunologie am Inselspital – Universitätsspital Bern. Der Aufbau der Studie erfolgte in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Dr. med. Walter Wuillemin, Senior Consultant Hämatologie am Luzerner Kantonsspital, und Prof. Dr. Dr. med. Lucas Bachmann, Medignition AG, aus Zürich.
Herr PD Dr. Steiner, Sie führen derzeit eine Kohortenstudie mit dem Ziel durch, alle Patient:innen mit hereditärem Angioödem in einem Register zu erfassen. Was hat Sie zu diesem Projekt bewogen?
U. Steiner: Das HAE ist eine seltene Erkrankung, und wie bei allen seltenen Erkrankungen dauert es auch hier vom Erstsymptom bis zur Diagnose oft sehr lange. Das heisst im Umkehrschluss, dass diese Erkrankung in der Ärzteschaft zu wenig bekannt ist. Wir möchten erreichen, dass Hausärztinnen und Hausärzte in der Peripherie bei Auftreten entsprechender Symptome an die Möglichkeit eines HAE denken und auch wissen, an welche Zentren mit entsprechender Expertise diese Personen zugewiesen werden können.
Die Schweizer HAE-Zentren umfassen aktuell die Universitätsspitäler Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich, die Kantonsspitäler Luzern und St. Gallen sowie die Regionalspitäler Mendrisio und Sion. Ein Ziel des Projektes ist es, dass die HAE-Betroffenen mindestens einmal im Jahr in einem wohnortnahen HAE-Zentrum beurteilt werden. In einer zentralen Datenbank werden die klinischen Daten und – mittels Fragebögen – die Lebensqualität und die Ausprägung der HAE-Symptome erfasst. Dabei stehen die Rechte, die Sicherheit und das Wohlergehen der Studienteilnehmer:innen nach aktuellsten ethischen Standards im Vordergrund. In diesem Rahmen wird dann ein Behandlungsplan erarbeitet, der nachfolgend in Zusammenarbeit mit den betreuenden Hausärzt:innen nach den neuesten Richtlinien umgesetzt werden kann.
Daraus ist zu schliessen, dass die Versorgung derzeit noch suboptimal ist?
U. Steiner: Die Versorgung der HAE-Betroffenen in der Schweiz ist gut, das zeigen die ersten Studienauswertungen. Da die neuen Therapien beim HAE zum Teil sehr teuer sind, kann die Verschreibung der neuen Therapien nur durch die spezifischen Expertenzentren erfolgen (BAG-Limitation).
Wie viele Betroffene wurden bereits in das Register aufgenommen?
U. Steiner:Wir gehen davon aus, dass in der Schweiz circa 130 bis 160 HAE-Betroffene leben. Seit 2023 haben wir 107 Patient:innen in die Studie eingeschlossen, also schon zwei Drittel.
Um welche Daten handelt es sich und wo werden sie erfasst?
U. Steiner: Die HAE-Kohortendatenbank wird durch die Clinical Trial Unit der Universität Bern gepflegt. Jedes Zentrum kann elektronisch die Daten der betreuten Patient:innen eingeben – das sind klinische Daten, aber auch Ergebnisse von Fragebögen zur Lebensqualität, zur Attackenfrequenz oder zum Krankheitsverlauf unter verschiedenen Medikamenten beziehungsweise bei Medikamentenwechsel. Von grossem Interesse sind zudem die Komorbiditäten der Patient:innen, zum Beispiel: Welche Begleiterkrankungen liegen vor, ist die Häufigkeit vergleichbar mit jener in der Allgemeinbevölkerung, treten diese Komorbiditäten in Abhängigkeit von der Therapie auf? Das könnte auch auf unerwünschte Ereignisse unter bestimmten Therapien hinweisen. Mittlerweile sind wir bereits bei der Auswertung der ersten Daten der eingeschlossenen HAE-Betroffenen.
Können Sie schon etwas zu den ersten Ergebnissen sagen?
U. Steiner: Verglichen mit Schweizer Studiendaten von vor 13 Jahren sehen wir eine deutliche Verlagerung weg von den «alten» Medikamenten hin zu den neuen prophylaktischen Therapien. In relativ kurzer Zeit hat sich für das HAE die Therapielandschaft dank der Entwicklung von vielen neuen sehr gut wirksamen Behandlungsoptionen sehr stark verändert. Eine weitere Erkenntnis der vorläufigen Analysen ist, dass die Krankheit in den meisten Fällen recht gut eingestellt ist.
Legt die Studie auch einen Fokus auf die Pathophysiologie, etwa um besser zu verstehen, warum die HAE so unterschiedlich ausgeprägt sein kann – oder ist das eher ein Nebenaspekt?
U. Steiner: Die Frage der Pathophysiologie ist uns sehr wichtig, parallel zur Klinik werden wir daher auch forschungsmässig Laboranalysen durchführen. Es ist geplant, eine zentrale HAE-Biobank am Universitätsspital Bern aufzubauen. Wir sind aktuell dabei, die genauen Abläufe zu erarbeiten, sodass die verschiedenen Blutproben der einzelnen Zentren alle sofort und korrekt verarbeitet werden und dann den Weg in die Biobank finden. Von der Blutentnahme bis zur Zentrifugation und bis zum Einfrieren müssen zum Beispiel ganz genaue Zeiten eingehalten werden, damit die Proben qualitativ gut sind. Zudem müssen wir sicherstellen, dass für diese Probenverarbeitung und sichere Lagerung auch genügend Geld zur Verfügung steht.
Die Logistik ist also ein wesentlicher Aspekt?
U. Steiner: Ja. Es wird unterschätzt, wie wichtig die standardisierte Präanalytik ist – Blutentnahme, Probenaliquotierung und Probenversand bis zur sicheren Lagerung, um dann auch entsprechend qualitativ hochwertige Forschung betreiben zu können.
Welche Analysen werden denn konkret durchgeführt?
U. Steiner: Es werden Analysen des Gerinnungs- oder des Kontaktaktivierungssystems und der Genetik durchgeführt, die dazu beitragen sollen, die folgende Frage zu klären: Warum haben Patient:innen in der gleichen Familie mit – wahrscheinlich – dem gleichen Defekt im SERPING1-Gen trotzdem eine ganz andere Ausprägung ihrer Symptome? Sicher spielen weitere Gene eine Rolle für die Gefässdilatation und -konstriktion. Schlussendlich soll anhand der Daten auch das Verständnis verbessert werden, welche Medikamente bei welchen Patient:innen effektiver wirken, um damit mehr in Richtung einer massgeschneiderten Behandlung zu gehen.
Diese Erkenntnisse könnten die Therapie nicht nur individueller, sondern wahrscheinlich auch kostengünstiger machen?
U. Steiner: Ja. Die neuen Therapien sind oft sehr teuer und es ist sicher im Interesse aller, dass wir diese Therapien individuell und so effektiv wie möglich einsetzen können. In anderen Fächern wie etwa der Onkologie ist man da schon sehr weit.
Haben Sie bereits eine Vorstellung davon, wann die Studie konkrete Daten liefern wird?
U. Steiner: Die Publikation von ersten klinischen Daten ist für Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres vorgesehen. Erste Daten mit Bioproben werden wir möglicherweise in 3 bis 5 Jahren publizieren können.
Verfolgt die Studie noch weitere Ziele?
U. Steiner: Die HAE-Kohortenstudie ist longitudinal über mehrere Jahre angelegt und soll als Forschungsplattform für klinische und für Grundlagenforschung zur Verfügung stehen.
In erster Linie ist es das Ziel, mit der Kohortenstudie ein schweizweites Netzwerk von HAE-Expert:innen zu schaffen, um die Therapien für HAE-Betroffene immer nach den neusten Richtlinien und Empfehlungen optimieren zu können. Dank der Studie ist es dann jederzeit möglich, den Effekt der unterschiedlichen Therapien bezüglich Wirkung und Nebenwirkungen und auch hinsichtlich Lebensqualität und Angioödemattacken-Kontrolle zu analysieren.
Vielen Dank für das Gespräch!
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