
Pharmakotherapeutische Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit
Autor:
Prof. Dr. Michael Soyka
Psychiatrische Klinik
Universität München
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Der Verlauf und die Prognose von Alkoholkonsumstörungen sind trotz vorhandener und gut überprüfter psychosozialer Therapien häufig ungünstig.1–6Abstinenzraten im Langzeitverlauf liegen auch nach intensiven Behandlungen selten über 40% –ein therapeutisch respektables, aber nicht völlig befriedigendes Ergebnis. Welche bewährten oder neuen pharmakologischen Ansätze gibt es in diesem Bereich?
Keypoints
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Acamprosat und Naltrexon sind etablierte, wenn auch wenig genutzte Medikamente zur Verbesserung der Abstinenzrate oder zur Verminderung des Alkoholkonsums.
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Den Opiatantagonisten Nalmefen kann man „as needed“ zur Trinkmengenreduktion einsetzen.
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Disulfiram wird kaum mehr verwendet und führt zu bei Alkoholkonsum zu Unverträglichkeitsreaktionen.
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Second-Line-Medikamente („off-label use“) sind u.a. Baclofen, Gabapentin, Topiramat und Vareniclin.
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Neuere experimentelle, aber auch klinische Forschungsansätze zielen vor allem auf stark psychotrop wirkende Halluzinogene wie LSD.
Alkoholkonsumstörungen sind häufig. Etwa 3% der erwachsenen Bevölkerung sind alkoholabhängig. Dazu kommt eine große Gruppe von Menschen mit schädlichem Gebrauch (Missbrauch) von Alkohol oder überhöhtem, potenziell gesundheitsschädlichen, riskantem Alkoholkonsum. Die diagnostischen Kriterien für Alkoholabhängigkeit nach ICD-10 sind in Tabelle 1 dargestellt.
Die neurobiologische Forschung bei Alkoholkonsumstörungen hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Die Hirnstrukturen, die für Suchterkrankungen relevant sind, konnten recht genau identifiziert werden. Nach Baler und Volkov (2006) zählen dazu:
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das System für die Belohnungserwartung (insbesondere Nucleus accumbens undventrales Pallidum)
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das Gedächtnis- und Lernsystem (Amygdala, Hippocampus)
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das Motivations- und Antriebsystem (orbitofrontaler Cortex)
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das kognitive Kontrollsystem (präfrontaler Cortex)
Das mesolimbische Dopaminsystem wurde als Endstrecke für die psychotropen„rewarding effects“ von Rauschdrogen wie Alkohol identifiziert. Alkohol beeinflusst die Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens indirekt über GABAerge Interneurone und das Opioidendorphinsystem, hat aber auch Effekte auf zahlreiche andere Neurotransmittersysteme.2 Entsprechend komplex sind seine biochemischen Effekte und mögliche pharmakotherapeutische Ansatzpunkte. Sedierende Effekte werden z.B. über GABA-A-Rezeptoren vermittelt.
Zugelassene Medikamente
Es gibt zahlreiche Studien zur Pharmakotherapie bei Alkoholabhängigkeit.2,6–32 Außer dem in Deutschland (aber z.B. in Österreich und der Schweiz) nicht mehr vertriebenen Disulfiram11–13, das über die Blockade der Aldehyddehydrogenase zu aversiv wirkenden Unverträglichkeitsreaktionen führt, sind zur pharmakogestützten
Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit nur die Opioidantagonisten Naltrexon2,6 und Nalmefen17–21 sowie das wahrscheinlich über Glutamatrezeptoren wirkende Acamprosat2,15 zugelassen. In einigen Ländern sind auch andere Substanzen zugelassen, wie z.B. GHB oder Baclofen (in Frankreich) (Tab. 2).
Obwohl mehrere Metaanalysen und auch die aktuelle deutsche S3-Leitlinie (siehe AWMF online) eine ausreichend gute Evidenzbasierung insbesondere für Acamprosat und Naltrexon zeigen,6werden die Medikamente wenig eingesetzt. Die Wirksamkeit dieser Substanzen, ausgedrückt durch die Effektstärken, entspricht durchaus denen von Antidepressiva bei affektiven Erkrankungen.15 Eine Abstinenz vor Behandlungsbeginn muss nach neueren Befunden nicht unbedingt vorliegen.40
Naltrexon (50mg oral/die) blockiert die „belohnenden“ Effekte von Alkohol und führt vor allem zu einer Trinkmengenreduktion bzw. geringeren Rückfallrate. Nebenwirkungen sind vor allem Übelkeit, Müdigkeit, gastrointestinale Beschwerden. Kontraindiziert ist Naltrexon bei Opiatabhängigkeit.
Der Wirkmechanismus von Acamprosat ist weniger klar, psychotrope Effekte fehlen. Genau wie Naltrexon gibt es keine pharmakologischen Interaktionen mit Alkohol. Wahrscheinlich wird das Alkoholverlangen vermindert. Eine Depotspritze von Naltrexon gibt es in den USA, hier ist sie nicht verfügbar.
Zahlreiche Metaanalysen zeigten eine höhere Abstinenzrate unter Acamprosat. Wegen der schlechten Bioverfügbarkeit müssen bei über 60kg Körpergewicht 3x2 Tabletten à 333mg genommen werden, darunter 2x2 Tabletten. Die häufigste Nebenwirkung ist ein milder Durchfall.
Seit einigen Jahren ist ein weiterer Opioidantagonist, Nalmefen, zugelassen, chemisch dem Naltrexon verwandt. Nalmefen wurde in einem „As needed“-Ansatz gezielt zur Trinkmengenreduktion (Einnahme vor Risikosituationen mit hoher Konsumwahrscheinlichkeit)untersucht.17–21 Das Nebenwirkungsprofil entspricht dem von Naltrexon.
Alternativen
Mögliche Alternativen zu den zugelassenen Medikamenten stellen Gabapentin, Topiramat, Baclofen, Vareniclin und andere dar. Das Antiepileptikum Gabapentin16,26,27 ist klinisch zugelassen zur Behandlung der (postherpetischen) Neuralgie sowie des Restless-Legs-Syndroms und wird hepatisch kaum verstoffwechselt. Einige Daten deuten auf eine Wirksamkeit bei Alkoholabhängigen hin. Von der American Psychiatric Association werden Gabapentin und Topiramat zur Behandlung von Alkoholkranken empfohlen, bei denen zugelassene Medikamente wie Acamprosat und Naltrexon nicht wirksam sind oder nicht vertragen werden. Kranzler et al.26 legten eine Metaanalyse über 7 Therapiestudien vor und fanden einen mittelgradigen Effekt auf die Anzahl von Tagen mit schwerem Alkoholkonsum („heavy drinking days“), aber nicht auf die Abstinenzraten.
Topiramat ist ein GABAerges Antiepileptikum, dass die Aktivität glutamaterger AMPA und Kainat-Rezeptoren reguliert und spannungsabhängige Kalziumkanäle blockiert. Typische Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Parästhesien und Appetitverlust. Die klinischen Effekte sind bislang nur begrenzt überzeugend.28,29 Topiramat ist allenfalls als Second-Line-Medikation diskutabel.
Vareniclin ist ein partieller Alpha-4-Beta-2-Agonist am Nikotinacetylcholinrezeptor und ist zur Raucherentwöhnung zugelassen. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen zur Wirksamkeit von Vareniclin in Dosen von bis zu 2mg pro die bei Alkoholkranken.30–32 Eine Metaanalyse32 zeigte, dass eine Therapie mit Vareniclin Craving nach Alkohol reduzierte, aber nicht den Alkoholkonsum. Nebenwirkungen sind z.B. Übelkeit, Verstopfung, epileptische Anfälle, vermehrtes Träumen.
Die aktuelle S3-Leitinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen (AWMF-Register 076/001, 6) sieht sowohl für Acamprosat als auch Naltrexon einen guten Wirknachweis (Level für Evidenz 1a) und empfiehlt den klinischen Einsatz mit dem Empfehlungsgrad B(„sollte“ eingesetzt werden). Für Disulfiram wird ein Level auf Evidenz 1b gegeben, Empfehlungsgrad 0 („kann“ gegeben werden), ebenso für Nalmefen.
Pharmakogenetische Studien zur Rolle bestimmter genetisch determinierter Stoffwechselvarianten für die Wirksamkeit einzelner Substanzen sind interessant, aber klinisch bislang ohne Relevanz.33–35
Ausblick
Neuere experimentelle Ansätze betreffen Ketamin,36,37einen nichtkompetitiven glutamatergenNMDA-Rezeptorantagonisten. Ketamin wird zunehmend z.B. bei Depressionen eingesetzt, scheint aber auch „verstärkende“ Effekte von Alkohol vermindern zu können. Noch aussichtsreicher ist der Einsatz von Halluzinogenen, z.B. LSD. Hier laufen bereits eine Reihe klinischer Studien, z.B. in der Schweiz. Diese Therapieansätze sind aber mit den oben skizzierten neurochemischen Hypothesen (mesolimbisches Dopaminsystem) kaum in Verbindung zu bringenund sicher auch nicht risikolos.
Entscheidend dürfte zunächst sein, die etablierten Medikamente vermehrt zu nutzen.38,39 Das Feld ist forschungsaktiv und für Überraschungen gut.
Literatur:
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