
Urogynäkologie: den Patientinnen die «Tür zur Freiheit» öffnen
Bericht:
Dr.med. Thomas Ferber
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Die Urogynäkologie ist ein spannendes und herausforderndes Gebiet. Dies zeigte sich am prall gefüllten Vortragssaal in der Kartause Ittingen, wo Ende Oktober das 20. Jubiläum des Frauenfelder Symposiums unter der Organisation von Prof. Volker Viereckstattfand. Das gemeinsame Symposium der Frauenkliniken Frauenfeld und Aarau fokussierte auf chirurgische und konservative Behandlungen der Urogynäkologie und zeigte auch auf, wie künstliche Intelligenz und virtuelle Realität immer mehr Einzug in Diagnose, Therapie und Verwaltung halten.
Einleitend zum Vortrag über das chronische Beckenschmerzsyndrom (CPPS) zitierte Prof. Regula Doggweiler vom KontinenzZentrum der Klinik Hirslanden, Zürich, Johann Wolfgang von Goethe: «Unter Gesundheit verstehe ich nicht Freisein von Beeinträchtigungen, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben.» Dieses Zitat dürfte für viele der nachfolgend besprochenen Leiden im Urogenitalbereich der Frau zutreffen. Beim komplexen Thema Beckenschmerzen sind viele Disziplinen (z.B. Urologie, Gynäkologie, Rheumatologie und Physiotherapie) mit mannigfachen Stichworten wie Endometriose, Reizdarm, interstitielle Zystitis, Vulvodynie, Sexualprobleme, Autoimmunleiden und viele andere involviert. Der Schmerz steht im Vordergrund der Beschwerden, die die Patientin vorbringt. Der Schmerz als Alarmsymptom ist der häufigste Grund eines Arztbesuches und das wichtigste Signal der meisten Erkrankungen. Da das Schmerzerlebnis persönlich sowie gleichzeitig Sinneswahrnehmung und Emotion ist, kann es laut Doggweiler kaum verständlich kommuniziert werden. Ab einer gewissen Intensität führt Schmerz zu Angst und der völligen Fokussierung auf den Schmerz bzw. Suche nach Linderung.
Ausbildungsangebote für angehende Urotherapeut:innen
Urotherapeutin Ruth Berner vom Blasen- und Beckenbodenzentrum, Kantonsspital Frauenfeld, gab anschliessend einen kurzen Überblick über die Urotherapie. In die Urotherapie eingebunden ist die Diagnostik, Behandlung und Betreuung von Menschen mit funktionellen, organisch bedingten und neurogenen Blasenstörungen und/oder von Menschen mit Stuhlinkontinenz. Dies beinhaltet nichtinvasive, nichtmedikamentöse Therapien zur Förderung der Blasen- und Darmfunktion sowie die Unterstützung bei chirurgischer und medikamentöser Therapie. Zum Aufgabenbereich der Urotherapie gehören beispielsweise auch die Kontinenz-Material-Anpassung sowie die Instruktion und Edukation der Hautpflege (Oestrogenisierung).
Es gibt heute Ausbildungsangebote für angehende Urotherapeutinnen und -therapeuten am Careum in Aarau. Ihre Anzahl ist von 2015 bis 2023 von 6 auf 51 angewachsen und sie sind mittlerweile an rund 40 Standorten in der Schweiz anzutreffen.
In jedes Spital, Pflegezentrum, Spitex etc. gehört eine Fachexpertin für Urotherapie
Die Standard-Urotherapie umfasst die Erklärung der normalen Blasenfunktion und Abweichungen, die Schulung zum normalen Blasen- und Darmentleerungsverhalten (Cave: Blaseninfekte via Darmentleerung) sowie die Schulung zum Trink- und Ernährungsverhalten, um wieder eine normale Blasenfunktion herzustellen. Zur Betreuung gehören eine Dokumentation von Symptomatik und Behandlung und die regelmässige Unterstützung der Patientin. In speziellen Fällen kommen weitere Massnahmen zum Einsatz wie die Beckenbodenwahrnehmungsschulung bei Kindern, das Biofeedbacktraining oder auch die Anleitung zum intermittierenden Selbstkatheterismus. Weitere Stichworte sind die Stimulation und Modulation von Nerven, um damit sowohl eine Überaktivität als auch eine Unteraktivität von Blase oder Darm zu verbessern (PTNS-Therapie, TENS-Therapie sakrale Neurostimulation). Alle diese Massnahmen gehören in ein interdisziplinäres Netz gebettet, wo die verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten. Für Berner geht es immer darum, den Patientinnen die „Tür zur Freiheit“ zu öffnen, das heisst, ihnen wieder mehr Bewegungsfreiheit und damit Lebensqualität zu vermitteln. Zur Unterstützung dieser Ziele erfolgte 2017 die Gründung der IG-Urotherapie Schweiz und 2017 deren Integration in die «Schweizerische Interessengruppe Urologie Pflegepersonal» (SIGUP, www.sigup.ch). Künftig sollte laut Berner in jedem Spital, Pflegezentrum, Spitex, Reha- Zentrum der Schweiz eine Fachexpertin für Urotherapie angestellt sein.
Reizblase macht Angst und führt zur Depression
Die Ätiologie der OAB ist laut Prof. Annette Kuhn, Universitätsklinik für Frauenheilkunde Inselspital Bern, heterogen. Infrage kommen beispielsweise neurogene Ursachen, entzündliche Prozesse, «bladder pain syndrome» sowie urogynäkologische Ursachen (Obstruktionen). Oft wird auch von «idiopathisch» gesprochen. Covid kann die Symptome einer OAB verstärken oder auch neue OAB-Symptome verursachen. Früher war die Behandlung der OAB laut Kuhn eine Domäne der Anticholinergika. Gemäss einer Cochrane-Studie können Anticholinergika zu kleinen, aber bedeutenden Veränderungen der Lebensqualität und der Symptome der überaktiven Blase führen. Es ist jedoch unklar, ob diese Veränderungen über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden können. Allerdings stoppen die Patientinnen die Behandlung oft aufgrund der bekannten unerwünschten Nebenwirkungen, am häufigsten jedoch, weil keine Verbesserung der Symptomatik verspürt wird.
Phytotherapeutika ergänzen klassische Anticholinergika
Die Behandlung ist wichtig und heutzutage besser, denn ältere Personen mit behandelter Reizblase haben eine bessere Lebensqualität. So ergänzen heute die klassischen Anticholinergika beispielsweise Phytotherapeutika (Canephron®/Tausendgüldenkraut, Liebstöckel, Rosmarin), Granufink Femina® Bryophyllum® Hänseler Blasendragees® Cystinol®), ein Beta-Mimetikum (Betmiga®) sowie Botox® und Vesoxx®. Neue Beta-Mimetika sind auf dem Markt. Doch sie werden gemäss Kuhn noch nicht routinemässig eingesetzt. Vesoxx® (Oxybutinin) ist laut Kuhn wirksam als eine Lokaltherapie (Cave: Wechselwirkung Azolantimykotika, Makrolidantibiotika). TENS ist bei OAB wirksam und es bestehen keine Sicherheitsbedenken. Auch Botox® ist in den üblich verwendeten Verdünnungen von 10IE/ml NaCl wirksam. Die Neuromodulation mit NESA® vermochte die Miktionshäufigkeit zu vermindern und die Schlafqualität zu verbessern, doch sind weitere Daten erforderlich. OAB ist laut Kuhn keine Diagnose, sondern ein Symptomkomplex. Daher braucht es künftig eine bessere Aufarbeitung der Ätiologie sowie einen individualisierten Therapieansatz, neue systemische/lokale Medikamente und andere Targets.
Differenzialdiagnostisch immer auch Tumoren und interstitielle Nephritis berücksichtigen
Über rezidivierende Harnwegsinfektionen und das Urethralsyndrom sprach Dr. med. Julia Münst vom Blasen- und Beckenbodenzentrum der Frauenklinik Frauenfeld. Bei der Behandlung dieser Diagnosen ist laut Münst das langfristige Ziel die Einsparung von Antibiotika.
Das Urethralsyndrom/«urethral pain syndrome» (UPS) ist laut Münst eine Unterform des chronischen Beckenschmerzsyndroms. Zu den Symptomen gehören Schmerzen in der Urethra, Dysurie, Pollakisurie, Nykturie, Dyspareunie, oft postkoitale Exazerbation. Gelegentlich ist das UPS mit Blasenentleerungsstörung und Restharn verbunden. Von einem chronischen UPS wird bei einer sechsmonatigen Mindestdauer gesprochen. Es entsteht ein Teufelskreis mit Depressionen/Angst/Beckenbodendysfunktion. Zur Ausschlussdiagnose gehören Infektionen oder andere offensichtliche Pathologien beziehungsweise differenzialdiagnostisch eine interstitielle Zystitis, überaktive Blase, chronische bakterielle Urethritis. Bei der körperlichen Untersuchung ist die schmerzhafte, verhärtete Urethra bei meist prämenopausalen Frauen ein sehr typischer Tastbefund. Es gibt laut Münst keine evidenzbasierte Therapie und auch keine randomisierten Studien.
Frauenfeld: gute Erfahrungenmit lokalen Östrogenen, Pessar- und Physiotherapie
Empfohlen wird eine multimodale Therapie. In Frauenfeld werden lokale Östrogene, die Pessar- und Physiotherapie eingesetzt, gelegentlich auch Tetrazykline (bei Erfolg war es eine unerkannte Infektion). Bei der am Kongress vorgestellten Patientin wurde schliesslich nach einer erfolgreichen Partnertherapie noch Spasmo-Urgenin begonnen und die Patientin war am Ende mit Physiotherapie und Uro-Vaxom beschwerdefrei. Zum Abschluss ihrer Ausführungen stellte Münst noch die intraurethrale Laserbehandlung mit dem nichtablativen Erbium-YAG-Laser vor, die in einer Pilotstudie zu signifikanten Verbesserungen einer Typ-III-Stressinkontinenz führte.
Virtual-Reality-Simulatoren unterstützen chirurgische Ausbildung
Der Beckenorganprolaps (POP) ist laut Prof. Christian Phillips vom North Hampshire Hospital, Basingstoke, UK, eine der häufigsten Indikationen für gynäkologische Operationen. Während lange Zeit vaginale Eingriffe die Hauptstütze der chirurgischen Behandlung des POP waren, ist die Zahl der laparoskopischen Eingriffe in der Urogynäkologie in den letzten Jahren gestiegen. In den letzten Jahren hat zudem der Einsatz von Simulationen in der minimalinvasiven Chirurgie ausserhalb des Operationssaals stark zugenommen, um kognitives Wissen und chirurgische Fertigkeiten zu erwerben und die Lernkurve für Auszubildende zu verkürzen. Auszubildende können diese Fertigkeiten während der Ausbildung an physischen Simulatoren, verschiedenen Virtual-Reality-Simulatoren oder an Modellen menschlicher und tierischer Leichen erwerben.
Das Simulationstraining bietet den grossen Vorteil, dass wiederholtes Üben in einer sicheren Umgebung ohne Beeinträchtigung der Patientenversorgung möglich ist. Obwohl ein Grossteil der laparoskopischen Fertigkeiten mit allgemeinen laparoskopischen Simulatoren vermittelt werden kann, ist die Entwicklung spezifischer urogynäkologischer laparoskopischer Simulatoren notwendig, um die Patientensicherheit zu verbessern, eine objektive Beurteilung der Chirurgen zu ermöglichen und deren Lernkurve zu verkürzen.
Künstliche Intelligenz (KI) immer öfter im Einsatz
KI simuliert laut PD David A. Scheiner vom Blasenzentrum Zürich menschliche Intelligenz, KI kann wie ein Mensch denken und lernen, kann aus Daten lernen, sich an neue Eingaben anpassen und sich selbst korrigieren. KI verwendet oft komplexe Algorithmen und Strukturen für das Lernen. KI wird in verschiedenen Bereichen eingesetzt, um Aufgaben auszuführen, die menschliche Intelligenz erfordern.
Ein Algorithmus ist wie ein bestimmtes Rezept, dem man folgt, um ein Gericht zu kochen, während KI eher mit einem Roboterkoch vergleichbar ist, der lernt, wie man verschiedene Gerichte zubereitet, indem er verschiedene Rezepte und Techniken versteht und sich daran anpasst.
Die KI wird heute schon auf vielen Gebieten eingesetzt, so laut Scheiner auch in der Medizin in den folgenden Anwendungen: 1. Medizinische Dokumentation: Patientenakten und Berichte schneller und effizienter verfassen. 2. Informationsbeschaffung: schnell auf medizinische Informationen und Forschungsergebnisse zugreifen. 3. Patientenengagement: Chatbot auf Basis von ChatGPT als interaktives Informationswerkzeug für Patienten (allgemeine Fragen zu Gesundheitsthemen, Erinnerungen an Termine und Medikationen). 4. Medizinische Schulung und Ausbildung: Zugang zu simulierten klinischen Szenarien oder interaktiven Lernmaterialien. 5. Sprachassistenz für körperlich beeinträchtigte Patienten: als Teil einer Sprachsteuerungslösung, um Computer oder medizinische Geräte zu bedienen.
Laparoskopische Sakrokolpopexie: hervorragende Resultate auch bei Uterusdeszensus
In seinem Vortrag zur laparoskopischen Sakrokolpopexie und dem sicheren Morcellement gab PD Dr. med. Dimitri Sarlos vom Brustzentrum und Gynäkologischen Tumorzentrum des Kantonsspitals Aarau einen differenzierten Überblick über diese Operationsmethoden, ihre Vorteile und was es zu beachten gilt. Zusammenfassend zeigte Sarlos, dass die laparoskopische Sakrokolpopexie hervorragende Resultate auch bei Uterusdeszensus zeigt, dann kombiniert mit der laparoskopischen suprazervikalen Hysterektomie (LASH). Die Risiken des Morcellements muss laut Sarlos jeder operativ tätige Gynäkologe/Urogynäkologe kennen. Eine gute präoperative Abklärung minimiert das Risiko für akzidentelles Morcellement von malignen Befunden. Eine Endometriumsmukosa von über 8mm gehört histologisch abgeklärt. Myome auch in der Postmenopause sollten gemäss Sarlos im Sack morcelliert werden, um der potenziellen Dissemination von Karzinomzellen vorzubeugen. Schliesslich sollte der operativ tätige Gynäkologe die Handhabung eines «In bag Morcellements» beherrschen.
Vaginale Hysterektomie: chirurgische Technik für benigne Indikationen
Trotz guter Gründe für die Laparoskopie ist nicht zuletzt aufgrund von internationalen Verboten von Fremdmaterialien laut PD Cornelia Betschart vom Kontinenz- und Beckenbodenzentrum des Universitätsspitals Zürich ein Revival mit Innovationen in den «klassischen» vaginalen Senkungsoperationen erfolgt. Der gynäkologische Zugang ist gemäss Betschart der vaginale Zugang. Im Folgenden stellte Betschart ein einfaches Do-it-yourself-Modell für die Konstruktion und Anwendung der sarkospinösen Hysteropexie vor.
Die vaginale Hysterektomie bleibt für Betschart abschliessend eine effektive, kostengünstige und bezüglich Sicherheit optimale chirurgische Technik für benigne Indikationen. Sie weist auf die Bedeutung der vaginalen autologen Deszensuskorrekturen hin, die in den letzten Jahren zugenommen haben (sakrospinale Ligamentfixation, uterosakrale Ligamentfixationen). Das Wichtigste ist und bleibt für Betschart: «Skills und Sicherheit in der Indikationsstellung und Chirurgie, Training und Practice!
Quelle:
20. Frauenfelder Symposium – gemeinsames Symposium der Frauenkliniken Frauenfeld und Aarau, 27. Oktober 2023, Kartause Ittingen, Warth
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