
Sakrale Nervenmodulation am Beckenboden
Autorin:
Dr. Irmgard E. Kronberger
Universitätsklinik für Visceral-, Transplantations- und Thoraxchirurgie
Medizinische Universität Innsbruck
E-Mail: irmgard.kronberger@i-med.ac.at
Die Nervenstimulation hat in der Medizin eine lange Geschichte bei einer Vielzahl von Erkrankungen. Sie zeigt sich heute in der Form der sakralen Nervenmodulation (SNM) als moderne und wenig invasive Therapieoption am erkrankten Beckenboden.
Keypoints
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Die sakrale Nervenmodulation (SNM) zeigt sich vor allem in der Behandlung von Inkontinenz als gute Therapieoption und wird häufiger in Beckenbodenzentren angewandt.
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Die Daten aus den letzten Jahrzehnten zeigen zunehmend Berichte aus anderen Indikationen und verbesserte, standardisierte Vorgehensweisen sowohl bei der Implantation als auch bei der Programmierung.
Es besteht eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte zur Nervenstimulation bei funktionellen Erkrankungen in der Medizin. Der dänische Chirurg Saxtorph führte bereits 1878 eine transurethrale Neurostimulation bei Patienten mit Harnretention durch. 1962 wandte Caldwell die elektrische Stimulation am analen Sphinkter bei einem Patienten mit langjähriger fäkaler Inkontinenz an. Wurden initial die distalen Nervenendigungen und der Beckenboden stimuliert, wandte sich in den 90er-Jahren das Interesse den peripheren Nerven zu. Die sakrale elektrische Stimulation wurde initial zur Schmerzbehandlung (1965) und bei Patienten mit Paraplegie verwendet. Ihre therapeutische Wirkung bei urologischer Dysfunktion wird seit den 80er-Jahren (Tanagho et al.) beschrieben. Seit 1995 (Matzel et al.) liegen auch Daten für die Therapie der fäkalen Inkontinenz vor.
Die sakrale Nervenmodulation oder -stimulation (SNM/SNS) ist nun eine moderne Therapieform bei Beckenbodenerkrankungen in der Urogynäkologie, Neuro-/Urologie und Koloproktologie. Als minimalinvasive Methode dient sie der niederfrequenten (15–25Hz) elektrischen Langzeitstimulation von Ganglien des Plexus sacralis, zumeist S3.
Heutzutage wird der Begriff der Nervenmodulation anstelle der Nervenstimulation bevorzugt, da sowohl sensorische als auch motorische Effekte der elektrischen Impulse beschrieben werden können. Zur Neuromodulation selbst kommt es über komplexe spinale und supraspinale Rückkoppelungen. Seit der Zulassung zur klinischen Anwendung im Jahr 1994 wurden weltweit mehr als 325000 Patienten behandelt und es werden aktuell weitere potenzielle Indikationen untersucht.
Technik
Die Anästhesie des Patienten erfolgt ohne Relaxansgabe, der Patient wird in Bauchlage mit 45° Beugung in Hüft-und Kniegelenken gelagert. Sakral-und Analbereich werden mit einer Folie abgeklebt und es wird darauf geachtet, dass neben dem After auch die Füße (Zehen)zur Kontrolle einer motorischen Reaktion einsehbar sind (Abb. 1). Bei der intraoperativen Testung werden von dorsal die Sakralforamina S2 bis S4 mittels Nadeln sondiert und stimuliert. Folgt eine motorische Antwort (Kontraktion des Beckenbodens), kann die Elektrode in die Sakralforamina eingebracht – nach lateral subkutan geleitet und mit einem externen Schrittmacher verbunden – werden.
Beim „Tined lead“-Verfahren werden vierpolige mit Widerhaken versehene Verankerungselektroden eingebracht, die für die Dauertherapie verwendet werden können. Beim PNE-Test („Percutaneous nerve evaluation“-Test) hingegen werden eine oder mehrere dünne einpolige Elektroden uni-oder bilateral durch das Foramen S3 oder S4 in die Nähe der Sakralnerven eingesetzt und nach der Evaluierungsphase entfernt bzw. durch ein „Tined lead“-Verfahren ersetzt.
Seit 2013 steht mit dem sogenannten Verify™-System ein externes Test-Stimulationsgerät zur Verfügung, das in einer Gürteltasche nahe am Körper getragen und per Fernbedienung programmiert werden kann. Nach der optionalen Testphase über Tage bis zu mehreren Wochen erfolgt die Evaluierung und in mindestens 80% der Fälle auch die darauf folgende Implantation des definitiven Schrittmachersystems. Bei der primären Verwendung von „Tined lead“-Elektroden erfolgt im Rahmen einer erneuten Operation nun die Implantation des Schrittmachers, welcher mit den bereits implantierten Elektroden verbunden wird. Der Schrittmacher wird in der Regel in eine Hauttasche im Gesäßbereich eingesetzt. Der Eingriff kann stationär oder ambulant durchgeführt werden.
Es standen bzw. stehen unterschiedliche (implantierbare) Schrittmachermodelle der Firma Medtronic (Medtronic, Inc., Minneapolis, MN) zur Verfügung: Der InterStim™ I ist aufgrund der Größe nicht mehr in Verwendung; der InterStim™ Twin wurde überwiegend in Österreich und Deutschland verwendet; der InterStim™ IIist das heute weltweit am häufigsten implantierte Modell (Abb. 2). Neu ist eine sehr kleine und wiederaufladbare Variante, das InterStim™ Micro System.
Eine sehr wichtige Innovation ist die InterStim™-SureScan™-MRI-Elektrode, welche nun neben dem Schrittmacher ebenfalls als MRI-tauglich gilt.
Alle Patienten erhalten nach der Implantation ein initiales Programm oder eine Auswahl an Programmen und müssen in die Handhabung eingeschult werden. Ein Teil der Patienten mit SNM benötigt zur anhaltenden Wirksamkeit eine fortlaufende Änderung der Stimulationsparameter. Diese (Um-)Programmierung ist kein einfaches Thema und aktuelle Empfehlungen, die mehr auf einem Trial-and-Error-Ansatz beruhen, sind teilweise veraltet oder beziehen sich überwiegend auf die Empfehlungen von Vertretern des Herstellers. Erst wenige Autoren bezogen sich auf dieses Thema und sehr aktuell sind hierzu ein systematischer Review wie auch eine Stellungnahme einer Expertengruppe veröffentlicht worden.
Indikationen
Die Indikationen der SNM sind laut Hersteller im urologischen Bereich vor allem die überaktive Blase (mit oder ohne Harninkontinenz) und die nicht obstruktive Harnretention. In der ROSETTA-Studie etwa zeigten sich die SNM und die Blasenwandinjektionen von Onabotulinumtoxin A bei (auf konservatives Management refraktärer) Urge-Inkontinenz – auch im Langzeitverlauf – als gleichwertige Behandlungen.
In der Koloproktologie wird die SNM bei fehlender Besserung durch konservatives Management bei der fäkalen Inkontinenz verwendet. Initial bei idiopathisch oder neurogen verursachter analer Inkontinenz angewandt, wird sie nun auch bei ursächlichen Schließmuskeldefekten als minimalinvasive Methode verwendet. Weniger erfolgreich zeigt sie sich bei der Therapie der (refraktären) chronischen, funktionellen Obstipation.
Über diese Indikationen hinaus kann die SNM eine Therapieoption bei LARS („low anterior resection syndrome“), Reizdarmsyndrom, „Chronicpelvicpain“-Patienten, bei Kindern mit refraktärer Dysfunktion der unteren Harnwege und auch bei sexueller Dysfunktion sein.
Als allgemeine Kontraindikationen gelten starke Deformitäten der Spinalwirbel bzw. des Sakralbereichs oder dortige Verletzungen. Außerdem sollten besondere Lebensumstände berücksichtigt werden, z.B. die Unfähigkeit, das Gerät zu bedienen, wenn es gleichzeitig an unterstützenden Betreuern fehlt. Bei einer Schwangerschaft muss der Neuromodulator ausgeschaltet werden. Schwere oder rasch fortschreitende neurologische Erkrankungen gelten als relative Kontraindikation.
Probleme, die im Verlauf entstehen können, sind nicht selten der fehlenden Erfahrung bei der Implantation oder nicht korrekter Programmierung geschuldet, z.B. bei schmerzhafter Stimulation. Es scheint deswegen sinnvoll, dass die Implantation in spezialisierten Zentren und mit suffizienter Betreuung bzw. Nachsorge durchgeführt wird. Erfreulich ist diesbezüglich die zunehmende Beschreibung von Standards in der Implantation und der Programmierung. Eine Migration der Elektrode oder ein Bruch derselben mit Dysfunktion des Systems kann ebenso zu den möglichen, aber selteneren Komplikationen gezählt werden wie eine Infektion.
Literatur:
• Assmann R et al.: Stimulation parameters for sacral neuromodulation on lower urinary tract and bowel dysfunction-related clinical outcome: a systematic review. Neuromodulation 2020; online ahead of print • Caldwell KP: The electrical control of sphincter incompetence. Lancet 1963; 2(7300): 174-5 • Goldman HB et al.: International Continence Society best practice statement for use of sacral neuromodulation. Neurourol Urodyn 2018; 37(5): 1823-48 • Knowles CH et al.: The science behind programming algorithms for sacral neuromodulation. Colorectal Dis 2020; doi: 10.1111/codi.15390 • Matzel KE et al.: Permanent electrostimulation of sacral spinal nerves with an implantable neurostimulator in treatment of fecal incontinence. Chirurg 1995; 66(8): 813-7 • Schober MS et al.: Sacral nerve stimulation for pediatric lower urinary tract dysfunction: development of a standardized pathway with objective urodynamic outcomes. J Urol 2015; 194(6): 1721-6 • Spinelli M et al.: New tined lead electrode in sacral neuromodulation: experience from a multicentre European study. World J Urol 2005; 23(3): 225-9 • Tanagho EA, Schmidt RA: Electrical stimulation in the clinical management of the neurogenic bladder. J Urology 1988; 140: 1331-9 • Thaha MA et al.: Sacral nerve stimulation for faecal incontinence and constipation in adults. Cochrane Database Syst Rev 2015; (8): CD004464
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