
Wann wird Vitamin B12 in der Hausarztpraxis gemessen?
Autor:
Dr. med. Levy Jäger
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich
E-Mail: levy.jaeger@usz.ch
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Vitamin-B12-Tests haben in den letzten Jahren in den Schweizer Hausarztpraxen deutlich an Popularität gewonnen. Wir vom Institut für Hausarztmedizin des Universitätsspitals Zürich sind diesem Phänomen nachgegangen und konnten feststellen, dass Hausärztinnen und Hausärzte bei Weitem nicht einer Meinung sind, wenn es um die Verwendung der Vitamin-B12-Diagnostik geht.
Keypoints
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Der Vitamin-B12-Status wurde in Schweizer Hausarztpraxen in den letzten Jahren immer häufiger bestimmt. Die Hintergründe sind allerdings unklar.
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Bezüglich Indikationsstellung einer Vitamin-B12-Statusbestimmung herrscht umso höhere Einigkeit unter den Hausärztinnen und Hausärzten, je deutlicher die zugrunde liegende Evidenzlage ist.
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Die klinische Vorgeschichte (früherer Mangel oder Substitution sowie relevante Begleitumstände) ist der stärkste Treiber von Vitamin-B12-Statusbestimmungen.
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Die Heterogenität ist hoch: Gemessen an der Anzahl ihrer Patientinnen und Patienten ist ein Viertel der Grundversorgenden verantwortlich für rund die Hälfte aller verordneten Vitamin-B12-Tests.
Vitamin-B12-Tests in der Schweizer Hausarztmedizin
Untersuchungen auf Mikronährstoffmangel haben in den letzten Jahren im Schweizer Gesundheitssystem einen Aufschwung erfahren, besonders beim Vitamin B12: In einer Analyse von Versicherungsdaten wurde im Jahr 2018 bei 17,6% der versicherten Patientinnen und Patienten ein Vitamin-B12-Status verordnet, während es im Jahr 2012 nur 9,0% gewesen waren.1 Dieser Trend findet sich besonders stark in der Hausarztmedizin wieder, in der das Gesamtvitamin B12 im Zeitraum 2009 bis 2018 zu den 15 am häufigsten verordneten Labortests zählte.2
Die Diagnostik des Vitamin-B12-Mangels ist komplex und umfasst mehrere Laboranalysen. Verschiedene Richtlinien geben dazu oft unterschiedliche Empfehlungen und Grenzwerte an, wobei zu bedenken ist, dass die Labor-Assays einer deutlichen Variabilität unterliegen können.3–5 Während ein Vitamin-B12-Mangel als gesicherte Ursache für klinische Erscheinungen wie makrozytäre Anämien sowie Polyneuropathien gilt, ist die Evidenzlage für seine Rolle bei isolierten neurologisch-psychiatrischen Bildern wie Depression oder Fatigue weniger eindeutig.6,7
Vor diesem Hintergrund zunehmender Popularität und variierender Empfehlungen rund um die Vitamin-B12-Diagnostik fragten wir uns am Institut für Hausarztmedizin des Universitätsspitals Zürich, wie die Grundversorgenden zu diesem Thema stehen. Dazu führten wir zwei Studien durch, welche die Einstellungen und das Verhalten rund um die Vitamin-B12-Diagnostik in der Hausarztmedizin untersuchten.
Forschungsprojekte zur Vitamin-B12-Diagnostik
Das erste Projekt umfasste eine im Zeitraum von Ende 2020 bis Anfang 2021 unter Hausärztinnen und Hausärzten des Kantons Zürich durchgeführte Umfrage.8 Um die Ansichten im Zusammenhang mit der Vitamin-B12-Diagnostik zu erfassen, stellten wir den Befragten sechs klinische Situationen vor und forderten sie auf, anzugeben, ob sie der Aussage, dass bei diesen Bildern eine Bestimmung des Vitamin-B12-Status «immer indiziert» sei, zustimmen. Die in Abbildung 1 zusammengefassten Ergebnisse der insgesamt 376 Teilnehmenden scheinen die Evidenzlage widerzuspiegeln: Während sich die Befragten bei Anämie, kognitiven Beschwerden und Polyneuropathie als klare Indikation für eine Vitamin-B12-Bestimmung einig waren, gingen ihre Meinungen bei depressiven Symptomen und unerklärter Müdigkeit auseinander. Übereinstimmung fand sich wiederum darin, dass sie eine Vitamin-B12-Diagnostik zum Check-up bei ansonsten asymptomatischen Patientinnen und Patienten im Allgemeinen nicht für indiziert halten.
Abb. 1: Beantwortung der Frage «Wie stark stimmen Sie zu, dass bei der Abklärung der unten stehenden klinischen Situationen die Bestimmung des Vitamin-B12-Status immer indiziert ist?» (adaptiert nach Bardheci et al.)8
Das zweite Projekt beinhaltete eine Analyse aus der Forschungsdatenbank FIRE (Family medicine Research using Electronic medical records),9 welche seit 2009 kontinuierlich anonymisierte Daten elektronischer Krankengeschichten von mittlerweile über 700 teilnehmenden Deutschschweizer Hausärztinnen und Hausärzten sammelt ( www.fireproject.ch ). Nebst demografischen Charakteristika behandelter Patientinnen und Patienten enthält die FIRE-Datenbank Information über Medikation, Vitalparameter, Konsultationsanlass in Form von ICPC-2-Codes sowie verordnete Labortests und deren Resultate.
Im Zusammenhang mit Vitamin B12 untersuchten wir in einer noch unveröffentlichten retrospektiven Analyse zum Jahr 2019 die drei in der Datenbank am häufigsten verordneten Laboranalysen des Mikronährstoff-Status: Ferritin, Calcidiol und eben Gesamtvitamin B12. Die Studie schloss 89000 Patientinnen und Patienten im Alter von mindestens 18 Jahren ein, die 2019 mindestens eine Konsultation in einer der FIRE-Praxen erhalten hatten und die davor mindestens ein Jahr lang in der Datenbank beobachtet worden waren (sodass relevante klinische Begleitumstände mit hoher Sicherheit identifiziert werden konnten). Von dieser Patientenpopulation erhielten 12% während des Jahres 2019 mindestens einen Gesamtvitamin-B12-Test. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum waren es 15% für Ferritin- und 11% für Calcidioluntersuchungen. Ein Spiegel unter 250pmol/l, der in Richtlinien als möglicher Hinweis auf einen Mangel angegeben wird,3 wurde bei 39% aller getesteten Patientinnen und Patienten festgestellt.
Die stärksten Treiber von Vitamin-B12- Bestimmungen waren, in jeweils ähnlichem Ausmass, ein im Vorjahr bereits vorgefundener Mangel, eine im Vorjahr bereits verschriebene Substitution sowie relevante Begleitumstände (wie beispielsweise eine Anämie oder eine laufende Metformintherapie). Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass die klinische Vorgeschichte eine zentrale Rolle bei der Indikationsstellung der Vitamin-B12-Diagnostik spielt. Zudem waren weibliches Geschlecht und höheres Alter mit häufigerer Vitamin-B12-Testung assoziiert (Abb. 2). Während höhere Testfrequenzen mit zunehmendem Alter gut auf ein erhöhtes Risiko für Malnutrition und damit einhergehenden Vitamin-B12-Mangel in der älteren Bevölkerung zurückzuführen sind, ist eine entsprechende epidemiologische Deutung bezüglich des Geschlechterunterschieds aufgrund der Datenlage schwieriger. Eine mögliche Erklärung könnte in einer höheren Beliebtheit vegetarischer und veganer Ernährung bei Schweizer Frauen gegenüber Männern liegen.10 Interessanterweise fanden wir einen Geschlechterunterschied ebenfalls auf der Seite der Versorgenden: Vitamin-B12-Tests wurden häufiger von Hausärztinnen als von ihren männlichen Kollegen verordnet. Dieses Phänomen kann womöglich mit Ergebnissen gedeutet werden, die im Rahmen früherer Arbeiten gefunden wurden, nämlich, dass präventive Massnahmen signifikant häufiger von Hausärztinnen als Hausärzten eingesetzt wurden.11 Zum Vergleich: Auch Ferritin und Calcidiol wurden häufiger bei Frauen und bei relevanten Begleitumständen untersucht, und die Bestimmung wurde häufiger von Hausärztinnen verordnet als von Hausärzten.
Abb. 2: Assoziationen verschiedener Einflussfaktoren mit der Häufigkeit von Vitamin-B12-Statusbestimmungen. Odds-Ratios, deren Konfidenzintervalle gänzlich über/unter 1,0 liegen, also auf der rechten/linken Seite des vertikalen Strichs, bedeuten eine signifikante positive/negative Assoziation
Ausser den genannten Faktoren haben wir in dieser Studie auch die Heterogenität in der Verteilung von Vitamin-B12-Statusbestimmungen quantifiziert. Dabei stellten wir fest, dass die 25% der teilnehmenden Hausärztinnen und Hausärzte, welche im Jahr 2019 pro Patient am häufigsten einen Gesamtvitamin-B12-Test verordnet hatten, für etwas mehr als die Hälfte aller Verordnungen pro Patient verantwortlich waren. Eine ähnlich grosse Heterogenität konnten wir auch bei Ferritin- und Calcidioluntersuchungen feststellen.
Diese auf den FIRE-Daten basierende Untersuchung weist einige Limitationen auf. Insbesondere lassen sich die Assoziationen mit Alter und Geschlecht nur bedingt interpretieren, da einige klinisch relevante Begleitumstände (wie z.B. ein Risiko für Malnutrition oder vegane Ernährung) in der Datenbank nur bedingt erfasst sind. Zudem ist aus der Literatur bekannt, dass gerade Vitamin-B12-Tests zu einem grossen Teil auf Wunsch des Patienten erfolgen und dass Hausärztinnen und Hausärzte entsprechend oft dem schwierigen Umgang mit der Nachfrage nach nicht indizierten Untersuchungen ausgesetzt sind.12 Dennoch kann eine solche Datenbankstudie interessante Einblicke in die klinische Praxis der Versorgenden gewähren.
Abb. 3: Bezüglich gut belegter Indikationen zur Vitamin-B12-Diagnostik herrscht Einigkeit, während die Meinungen bei unklarer Evidenz auseinandergehen
Fazit: grosse Heterogenität
Bezüglich gut belegter Indikationen zur Vitamin-B12-Diagnostik herrscht Einigkeit, während die Meinungen bei unklarer Evidenz weiterhin auseinandergehen. Zwar spielt die klinische Vorgeschichte die wichtigste Rolle bei der Verordnung der Vitamin-B12-Statusbestimmung, dennoch unterliegt die Testhäufigkeit einer grossen Heterogenität. Bei dieser spielt die hohe Nachfrage vonseiten der Patientinnen und Patienten möglicherweise eine grosse Rolle.
Literatur:
1 Huber CA et al.: Trends in micronutrient laboratory testing in Switzerland: a 7-year retrospective analysis of healthcare claims data. Int J Gen Med 2020; 13: 1341-8 2 Schumacher LD et al.: Trends and between-physician variation in laboratory testing: a retrospective longitudinal study in general practice. J Clin Med 2020; 9: 1787 3 Burkhart A, Huber F: mediX-Guidelines 2020: Vitamin B12-Mangel. Verein mediX, Zürich, Schweiz. https://www.medix.ch/wissen/guidelines/blutkrankheiten/vitamin-b12-mangel/ ; zuletzt aufgerufen am 8.5.2021 4 Devalia V et al.: Guidelines for the diagnosis and treatment of cobalamin and folate disorders. Br J Haematol 2014; 166: 496-513 5 Kristensen GB et al.: Analytical bias exceeding desirable quality goal in 4 out of 5 common immunoassays: results of a native single serum sample external quality assessment program for cobalamin, folate, ferritin, thyroid-stimulating hormone, and free T4 analyses. Clin Chem 2016; 62: 1255-63 6 Smith AD et al.: Vitamin B(12). Adv Food Nutr Res 2018; 83: 215-79 7 Markun S et al.: Effects of vitamin B12 supplementation on cognitive function, depressive symptoms, and fatigue: a systematic review, meta-analysis, and meta-regression. Nutrients 2021; 13: 923 8 Bardheci K et al.: Testing and prescribing vitamin B12 in Swiss general practice: a survey among physicians. Nutrients 2021; 13: 2610 9 Chmiel C et al.: The FIRE project: a milestone for research in primary care in Switzerland. Swiss Med Wkly 2011; 140: w13142 10 Bundesamt für Statistik: Schweizerische Gesundheitsbefragung 2017 – Gesundheitsverhalten 2017: Bern, Schweiz. Verfügbar unter: http://www.portal-stat.admin.ch/sgb2017/files/de/02a.xml ; zuletzt aufgerufen am 8.5.2022 11 Krähenmann-Müller S et al.: Patient and physician gender concordance in preventive care in university primary care settings. Prev Med 2014; 67: 242-7 12 Hofstede H et al.: Reducing unnecessary vitamin testing in general practice: barriers and facilitators according to general practitioners and patients. BMJ Open 2019; 9: e029760
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