
Sex und Gender in der Medizin
Bericht: Regina Scharf, MPH
Redaktorin
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Sex und Gender beeinflussen die Gesundheit auf vielfältige Weise. Was der Unterschied ist und warum der Einbezug von Sex und Gender insbesondere auch in der Forschung für eine bessere Gesundheitsversorgung wichtig ist, erklärte die Professorin Sabine Oertelt-Prigione am SGAIM-Frühjahrskongress in Lausanne.
Der Begriff «Gender» spielte in der Biomedizin bis zum Jahrtausendwechsel praktisch keine Rolle. In den 1980er- und 1990er-Jahren realisierte man zunehmend, dass die Medizin von Männern dominiert wird und die meisten diagnostischen und therapeutischen Strategien auf Männer ausgerichtet sind. Die anschliessende Fokussierung auf die «women’s health» führte u.a. bei den kardiovaskulären Erkrankungen zur Entdeckung von unterschiedlichen Krankheitsmanifestationen. In den darauffolgenden Jahren wurde der Schwerpunkt zunächst auf die Erforschung biologischer Unterschiede, kurz gesagt Sex, gelegt. Erst Anfang der 2000er-Jahre wurde der Begriff «Gender» als Resultat für den soziokulturellen Prozess etabliert und in die medizinische Hypothese eingeschlossen. Gender ist assoziiert mit Identität, gesellschaftlichen Rollen und Normen, Beziehungen (z.B. vorhandene Hierarchien) und Institutionen (Funktion von Organisationen und Gesellschaften).1 «Sex und Gender befinden sich lebenslang in Interaktion», sagte Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione von der Universität Bielefeld (DE). Dabei gibt es viele Faktoren, die sich überschneiden und die den Zugang zur Gesundheitsversorgung oder die Möglichkeiten für ein gesundes Leben erst auf personeller und später auch auf systemischer Ebene beeinflussen. «Das Ziel von Gendermedizin ist eine bessere Gesundheitsversorgung von Frauen und Männern.»
Konsequenzen bei Nichteinbezug
Zu welchen Konsequenzen die Ignoranz von Sex und/oder Genderunterschieden führen kann, zeigen die nachfolgenden Beispiele aus Forschung und Praxis:
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Fehlende ReproduzierbarkeitExperimente im Tiermodell haben den Vorteil, dass Einflussfaktoren wie z.B. Nahrungsaufnahme, Temperatur oder Licht gut kontrolliert werden können. Dass auch das biologische Geschlecht der Forschenden einen Einfluss haben kann, zeigte eine Studie zum Schmerzempfinden bei Mäusen und Ratten. Die Tiere reagierten auf den Geruch von männlichen, aber nicht von weiblichen Forschenden mit Stress und stressassoziierter Analgesie.2
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Unterschätzte hormonelle EffekteEine Untersuchung von 171 Biomarkern im Hinblick auf einen möglichen Einsatz bei Tests zeigte, dass bei 96 Molekülen die Konzentration durch das biologische Geschlecht beeinflusst wurde. Bei 66 Molekülen variierte die Konzentration abhängig vom Hormonstatus der untersuchten Frauen (Einnahme oraler Kontrazeptiva, Postmenopause, Follikel- und Lutealphase des weiblichen Zyklus). Vor allem die Einnahme oraler Kontrazeptiva schien die Biomarkerkonzentrationen massgeblich zu beeinflussen.3
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Verzögerte Diagnosestellung Die Assoziation von Erkrankungen mit einer bestimmten Sex- und Genderidentität kann dazu führen, dass die Erkrankung bei anderen Fällen vernachlässigt wird. Beispielsweise wird die Diagnose Blasenkrebs bei Frauen mit Hämaturie oft mit Verzögerung gestellt, weil dahinter eine Blasenentzündung vermutet wird. Ein anderes Beispiel ist die seltenere Asthmadiagnose bei Frauen, obwohl diese häufiger symptomatisch sind. Osteoporose und Autoimmunerkrankungen werden dagegen häufiger Frauen zugeordnet und deshalb bei Männern häufig später diagnostiziert.1
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Algorithmen-BiasDiagnostische und therapeutische Algorithmen basieren auf der Analyse einer Vielzahl von Studiendaten – und diese enthalten Bias. Wie man diese Bias sichtbar machen kann, um gesundheitsschädliche Folgen zu vermeiden, ist unklar.
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Unterschiedliche MedikamentenwirkungenTypisches Beispiel ist die Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz mit Digoxin, die in einer Studie vor mehr als 25 Jahren eine vergleichbare Sicherheit bei Frauen und Männern suggerierte.4 Eine mehrere Jahre später durchgeführte Subanalyse, stratifiziert nach Geschlecht, zeigte, dass die untersuchte Digoxindosis bei Frauen, aber nicht bei Männern mit chronischer Herzinsuffizienz mit einem erhöhten Sterberisiko assoziiert war.5 Die unterschiedliche Digoxinwirkung wurde initial nicht entdeckt, weil der Frauenanteil in der Studie zu niedrig war.
Wo wurden Fortschritte erzielt?
Vor allem bei den Krankheitssymptomen gab es in den letzten Jahren Fortschritte. «Wir haben gelernt, dass sich Erkrankungen bei Frauen und Männern unterschiedlich manifestieren können», sagte Oertelt-Prigione. Typische Beispiele sind das akute Koronarsyndrom, Asthma, Alzheimerdemenz und systemischer Lupus erythematodes. Dabei bleibt allerdings oft unklar, ob die unterschiedlichen Manifestationen sex- oder genderbedingt sind. Ist das biologische Geschlecht der Grund, muss eventuell die Therapie angepasst werden. Sind die Differenzen hingegen darauf zurückzuführen, dass ein Patient zu spät in die Klinik überwiesen wird, bedarf es anderer Interventionen. Ein Beispiel dafür war die im Vergleich zu Männern höhere Sterberate von Frauen während der Hospitalisation nach einem Myokardinfarkt Ende des letzten Jahrhunderts.7 Diese konnte im weiteren Verlauf auf eine verzögerte oder falsche Diagnosestellung und eine zu späte Spitaleinweisung zurückgeführt werden. Um geschlechterspezifische Muster im Behandlungsverlauf zu erkennen und daraus Lehren für die Patientenversorgung zu ziehen, haben sich vor allem Langzeitdaten wie Versicherungsdaten als hilfreich erwiesen, wie das Beispiel einer Untersuchung bei Patienten mit einer frühen Parkinsonerkrankung zeigte.8
Fortschritte wurden auch bei den Einschlussraten in klinischen Studien erzielt. «Bis Mitte der 1990er-Jahre wurden keine weiblichen Tiere oder Zellen in präklinische Studien eingeschlossen und Frauen waren zum Teil von klinischen Studien ausgeschlossen», sagte die Referentin. Allein im Zeitraum von Januar 1997 bis Dezember 2000 wurden in den USA 10 verschreibungspflichtige Medikamente vom Markt zurückgezogen – davon 8 weil sie bei Frauen signifikant mehr, teilweise tödliche Nebenwirkungen verursachten.9 Eine Untersuchung der letzten 20 Jahre zeigt, dass der mediane Frauenanteil in den klinischen Studien in den letzten Jahren insgesamt auf knapp 50% angestiegen ist. Einzelne Fachgebiete wie Neurologie, Immunologie, Nephrologie und Kardiologie verzeichnen jedoch nach wie vor einen zu niedrigen Frauenanteil in ihren klinischen Studien.
Interessant sind die Beobachtungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Forschung. Obwohl es hier von Anfang an viele Stimmen gab, die sex- und genderspezifische Krankheitsunterschiede vermuteten, waren lediglich bei 21% der 4420 klinischen Studien, die auf der Website clinicaltrials.gov registriert waren, Sex und Gender als Einschlusskriterien angegeben. Von den 45 Studien, die bis Januar 2021 publiziert worden waren, war bei 18% irgendeine Form einer sexspezifischen Analyse durchgeführt worden.11 Noch interessanter ist eine Auswertung der öffentlich verfügbaren Daten von Covid-19-Medikamenten und Impfstoffen. Diese zeigt, dass nur für 2 der untersuchten 6 Medikamente sexspezifische Sicherheitsinformationen zugänglich sind.12
Welchen Einfluss hat das Forschungsteam?
Förderorganisationen wie HORIZON 2020 für Europa, das Institute for Gender and Health in Kanada und das US-amerikanische National Institute of Health nennen unterschiedliche Gründe für den Einbezug von Sex und Gender in die medizinische Forschung. Aus Sicht der Referentin sind die wichtigsten Gründe: «Reproduzierbarkeit, Exzellenz und sozialer Nutzen.» Das EU-Forschungsprogramm HORIZON 2020 hat folgende Zielsetzungen für mehr Gendergleichheit definiert: die Förderung einer Genderbalance im Forschungsteam sowie bei der Entscheidungsfindung und die Integration von sex- und genderspezifischen Analysen in die Forschung. «Mit diesen Zielen reagiert HORIZON 2020 auf die Verbindung zwischen den Personen, die Forschung betreiben, und den Forschungsinhalten», so Oertelt-Prigione. Eine solche Assoziation fand unlängst auch eine Analyse von 1,5 Millionen Publikationen. Diese zeigte, dass die Wahrscheinlichkeit einer sex- und genderspezifischen Analyse höher war, wenn Frauen an der Forschungsarbeit beteiligt waren.
Quelle:
Frühjahrskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin, 1. bis 3. Juni 2022, Lausanne
Literatur:
1 Oertelt-Prigione S, Regitz-Zagrosek V: Sex and gender aspects in clinical medicine. Springer-Verlag (London) 2012 2 Sorge RE et al.: Olfactory exposure to males, including men, causes stress and related analgesia in rodents. Nath Methods 2014; 11: 629-32 3 Ramsey JM et al.: Variation in serum biomarkers with sex and female hormonal status: implications for clinical tests. Sci Rep 2016; 6: 26947 4 Digitalis Investigation Group: The effect of digoxin on mortality and morbidity in patients with heart failure. N Engl J Med 1997; 336: 525-33 5 Rathore SS et al.: Sex-based differences in the effect of digoxin for the treatment of heart failure. N Engl J Med 2002; 347: 1403-11 6 Oertelt-Prigione S et al.: Sex-differences in symptoms and functioning in >5000 cancer survivors: Results from the PROFILES registry. Eur J Cancer 2021; 156: 24-34 7 Vaccarino V et al.: Sex-based differences in early mortality after myocardial infarction. National Registry of Myocardial Infarction 2 Participants. N Engl J Med 1999; 341: 217-25 8 Vlaanderen F et al.: Sex-specific patient journeys in early Parkinson’s disease in the Netherlands. Front Neurol 2019; 10: 794 9 Obias-Manno D et al.: The food and drug administration office of women’s health: impact of science on regulatory policy. J Womens Health 2007; 16: 807-17 10 Steinberg JR et al.: Analysis of female enrollment and participant sex by burden of disease in US clinical trials between 2000 and 2020. JAMA Netw Open 2021; 4: e2113749 11 Brady E et al.: Lack of consideration of sex and gender in COVID-19 clinical studies. Nat Commun 2021; 12: 4015 12 De Vries ST et al.: Attention for sex in COVID-19 trials: a review of regulatory dossiers. BMJ Global Health 2022; 7: e008173 13 Wullum Nielsen M et al.: One and a half million medical papers reveal a link between author gender and attention to gender and sex analysis. Nat Hum Behav 2017; 1: 791-796