
Planetary Health als hausärztliche Aufgabe: Gesundheit im Zeitalter der ökologischen Krise
Autorin:
Dr. med. Sabine Heselhaus
FMH Chirurgie
Chirurgische Facharztpraxis, Adligenswil
FMH Begleitgruppe Planetary Health
E-Mail: sabine.heselhaus@hin.ch
Hausärzt:innen sind geradezu prädestiniert, um den Gedanken der Planetary Health umzusetzen, denn sie verfügen über das Vertrauen, die Reichweite und die Handlungsspielräume, um ökologisch nachhaltige und gesundheitsfördernde Massnahmen in der Hausarztpraxis umzusetzen. Unterstützt werden sie dabei unter anderem durch das Toolkit Planetary Health der FMH und die Initiative smarter medicine.
Die Klimakrise ist nicht länger ein abstraktes Umweltproblem, sondern eine konkrete und spürbare Bedrohung für unsere Gesundheit – heute und in Zukunft. Extremwetterereignisse, Luftverschmutzung, der Verlust von Biodiversität, Ernährungskrisen und neue Infektionsrisiken treffen insbesondere vulnerable Bevölkerungsgruppen und verschärfen bestehende Ungleichheiten. Gleichzeitig wächst unser wissenschaftliches Verständnis für die engen Wechselwirkungen zwischen der Gesundheit des Menschen und der Gesundheit des Planeten. Die Hausarztmedizin steht dabei vor einer doppelten Herausforderung – und einer einmaligen Chance: Sie kann die unmittelbaren gesundheitlichen Folgen der ökologischen Krise lindern und zugleich zur Transformation unserer Lebensweise beitragen.
Das Konzept der Planetary Health liefert hierfür einen wegweisenden, integrativen Rahmen. Es beschreibt die Abhängigkeit der menschlichen Gesundheit von den natürlichen Systemen der Erde und fordert ein sektorenübergreifendes, präventiv orientiertes Denken. Die Lancet-Kommission formulierte bereits 2015 deutlich, dass der Klimawandel sowohl die grösste Bedrohung als auch die grösste Chance für die globale Gesundheit im 21. Jahrhundert darstellt.
Die Hausarztpraxis als Ort der Transformation
Gerade hausärztliche Praxen sind prädestiniert, um den Gedanken der Planetary Health mit Leben zu füllen. Einerseits stehen wir in engem Kontakt mit den gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels – etwa durch hitzebedingte Notfälle, zunehmende Allergien, Atemwegserkrankungen oder psychosoziale Belastungen. Andererseits verfügen wir über Vertrauen, Reichweite und Handlungsspielräume, um Prävention, Lebensstilberatung und Praxisführung ökologisch und gesundheitsfördernd zu gestalten.
Ein zentrales Beispiel ist die Planetary Health Diet, die von der EAT-Lancet-Kommission entwickelt wurde. Sie ist keine ideologisch motivierte Diätform, sondern eine wissenschaftlich fundierte, global anschlussfähige Ernährungsempfehlung. Im Mittelpunkt stehen pflanzenbasierte Lebensmittel – also Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte und Nüsse –, ergänzt durch moderate Mengen an tierischem Eiweiss wie Molkereiprodukte, Fisch, Geflügel sowie möglichst geringe Mengen an rotem oder verarbeitetem Fleisch. Entscheidend sind zudem die Produktionsweise (biologisch), die Regionalität und Saisonalität der Produkte sowie die Vermeidung von unnötiger Verpackung und Foodwaste. Diese Ernährungsweise ist nicht nur ressourcenschonend, sondern reduziert auch das Risiko für chronische Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder bestimmte Krebsarten – ein klassisches Beispiel für sogenannte Co-Benefits.
Auch Bewegung ist ein bedeutender Hebel. Regelmässige körperliche Aktivität schützt nicht nur vor zahlreichen Zivilisationskrankheiten, sondern kann – im Sinne einer aktiven Mobilität – zugleich CO2-Emissionen senken, wenn Patient:innen Wege mit dem Velo oder zu Fuss zurücklegen. Hausärztliche Praxen können dies etwa durch Bewegungsrezepte, Kooperationen mit lokalen Programmen oder schlicht durch ein unterstützendes Beratungsgespräch fördern.
Medikamente, Material und Medizinethik: Nachhaltigkeit konkret
Ein bislang wenig beachteter, aber hochrelevanter Aspekt ist der ökologische Fussabdruck von Medikamenten und Materialien im Praxisalltag. Besonders augenfällig ist dies bei der Verordnung von Inhalativa. Herkömmliche Dosieraerosole (MDI), wie sie in der Behandlung von Asthma und COPD häufig verwendet werden, enthalten fluorierte Treibgase mit hohem Treibhauspotenzial. Die Umstellung auf Pulverinhalatoren (DPI) reduziert den CO2-Fussabdruck pro Anwendung um ein Vielfaches – bei gleichbleibender therapeutischer Wirksamkeit, sofern keine Kontraindikationen bestehen. Diese Massnahme ist medizinisch fundiert, umweltethisch geboten und lässt sich im Rahmen regulärer Verlaufskontrollen gut umsetzen.
Auch im Bereich der Verbrauchsmaterialien bieten sich Ansatzpunkte: Der Einsatz von Mehrwegprodukten, der Verzicht auf überflüssige Verpackungen oder die bewusste Auswahl von umweltfreundlicheren Handschuhmaterialien – wie z.B. kompostierbarem Latex statt erdölbasierter Vinylprodukte – können den Ressourcenverbrauch deutlich senken. Die Arbeitsgruppe «Nachhaltigkeit in der Dermatologie» (AGDERMA) liefert hierzu wertvolle Analysen und Praxisempfehlungen. Nachhaltigkeit in der Praxis ist dabei kein Alles-oder-nichts-Prinzip, sondern ein kontinuierlicher Prozess aus Reflektion, Entscheidung und Umsetzung.
smarter medicine: bewusste Entscheidungen für Gesundheit und Umwelt
Ein zentraler Baustein einer nachhaltigen Hausarztpraxis ist auch der bewusste Umgang mit Diagnostik und Medikation – nicht nur im Sinne der Kosteneffizienz, sondern auch im Hinblick auf ökologische Auswirkungen. Hier setzt die Initiative smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland an. Sie verfolgt das Ziel, medizinisch unnötige oder potenziell schädliche Massnahmen zu vermeiden, indem sie auf wissenschaftlich fundierte und indikationsgerechte Therapieentscheidungen setzt. Im Zentrum steht dabei das Prinzip: Weniger ist oft mehr. Diagnostische und therapeutische Massnahmen sollen nur dann eingesetzt werden, wenn sie für die konkrete Patientensituation einen echten Nutzen versprechen. Dies betrifft insbesondere auch den Einsatz von Medikamenten, deren ökologische Folgewirkungen bislang zu wenig beachtet wurden.
Ein Beispiel hierfür ist das häufig verordnete Schmerzmittel Diclofenac. Es wird in den meisten kommunalen Kläranlagen nicht vollständig abgebaut und gelangt so in die Umwelt. Studien zeigen, dass Diclofenac bereits in geringen Konzentrationen für Wasserorganismen toxisch ist und insbesondere Fische schädigt. In Südostasien führte der veterinärmedizinische Einsatz sogar zum massiven Rückgang von Geierpopulationen, da die Tiere über Kadaverreste vergiftet wurden. Auch beim Menschen kann eine chronische Exposition über Trinkwasser langfristig gesundheitsrelevant sein. Smarter medicine leistet somit nicht nur einen Beitrag zur Patientensicherheit, sondern auch zur Umweltschonung. Eine rationale Verordnung, die auf Indikation, Dosierung, Therapiedauer und korrekte Entsorgung achtet, sollte integraler Bestandteil hausärztlicher Entscheidungsprozesse sein – und kann aktiv mit Planetary-Health-Zielen verknüpft werden.
Strategischer Rahmen: die FMH und das Toolkit Planetary Health
Die FMH hat mit ihrer im Jahr 2021 publizierten Strategie Planetary Health einen klaren Orientierungsrahmen geschaffen, der auf vier Handlungsfelder zielt: Information, Emissionsreduktion, Anpassung an den Klimawandel und ärztliche Vorbildfunktion. Die FMH ruft dazu auf, Planetary Health in Ausbildung, Praxisführung und Patient:innenkommunikation systematisch zu verankern. Grundlage hierfür ist das Verständnis, dass ärztliches Handeln nicht nur individuell, sondern auch systemisch wirken muss – etwa durch das Vorleben nachhaltiger Prinzipien oder die Mitgestaltung gesundheitspolitischer Prozesse.
Im November 2023 wurde zudem das Toolkit Planetary Health FMH veröffentlicht – ein digitales Instrument zur praktischen Umsetzung nachhaltiger Massnahmen in der ambulanten Versorgung. Es umfasst 67 konkrete Handlungsmöglichkeiten in 14 thematischen Kategorien: von Energie und Mobilität über Ernährung, Medikation und Textilien bis hin zu Kommunikation und Finanzen. Dabei wird jeder Massnahme ein Umwelt- und Gesundheitsnutzen zugeordnet – etwa die Reduktion von CO2, die Verbesserung der Luftqualität oder die Förderung der physischen und psychischen Gesundheit. Das Toolkit ist modular aufgebaut und in drei Fortschrittsstufen unterteilt (Bronze, Silber, Gold), was eine individuelle Anpassung an Praxisgrösse und Ressourcen erlaubt. Es versteht sich nicht als verpflichtender Katalog, sondern als Einladung zur aktiven Mitgestaltung – praxisnah, niedrigschwellig und evidenzbasiert. Besonders hilfreich sind die zahlreichen Checklisten, Fallbeispiele und Kommunikationsmaterialien, die den Einstieg erleichtern und zur Teamarbeit anregen.
Ausblick: Verantwortung trifft auf Handlungsfähigkeit
Planetary Health ist mehr als ein wissenschaftliches Konzept – es ist eine moralische Verpflichtung und eine medizinische Notwendigkeit. Die Hausarztmedizin kann und sollte hier eine Vorreiterrolle übernehmen. In einer Zeit multipler Krisen bietet die Integration ökologischer Prinzipien in unser ärztliches Selbstverständnis Orientierung, Wirksamkeit und Sinn. Wir haben die Mittel, das Wissen und das Vertrauen der Bevölkerung, um Gesundheit und Nachhaltigkeit miteinander zu verbinden. Nutzen wir diese Chance – für unsere Patientinnen und Patienten, für unsere Praxis und für diesen Planeten, den wir zum Leben brauchen.
Anpassung ans Klima
Leben mit der Krise? Eine Tagung der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz 15. Mai 2025, Solothurn
www.aefu.ch
Empfohlene Quellen und weiterführende Informationen:
● Whitmee S et al.: Safeguarding human health in the Anthropocene epoch: report of The Rockefeller Foundation–Lancet Commission on planetary health. Lancet 2015; 386: 1973-2028 ● FMH-Strategie «Planetary Health» (2021). Einsehbar unter: https://planetary-health.fmh.ch ●Toolkit Planetary Health FMH. Einsehbar unter: https://planetary-health.fmh.ch/toolkit ● KLUG – Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit. Einsehbar unter: www.klug-verein.de ●Ökoskop für nachhaltige Praxen. Einsehbar unter: www.aefu.ch/oekoskop ● EAT-Lancet Planetary Health Diet. Einsehbar unter: www.eatforum.org ●Nachhaltigkeit in der Dermatologie. Einsehbar unter: www.agderma.de ● Smarter Medicine – Choosing Wisely Switzerland. Einsehbar unter: www.smartermedicine.ch ●Umweltbundesamt Deutschland. Pharmaka in der Umwelt – Diclofenac als Beispielsubstanz, 2021. https://www.umweltbundesamt.de/
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