
Leitsymptome in der Neurologie – eine fallbasierte Übersicht für Internisten und Grundversorger
Autoren:
PD Dr. med. Andreas R. Gantenbein 1, 2, 3
Dr. med. Harald Baumann 1
1 Praxis Neurologie am Untertor, Bülach
2 Neurologie & Schmerz, Zurzach Care, Bad Zurzach
3 Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich
Korrespondenz:
PD Dr. med. Andreas R. Gantenbein
E-Mail: andreas.gantenbein@hin.ch
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Neurologische Beschwerden sind ein häufiges Problem in der Hausarztpraxis. Anhand von Fallbeispielen zu häufigen neurologischen Leitsymptomen erläutern wir im Folgenden die weitere Abklärung der Patienten.
Die genaue Anamneseerhebung ist möglicherweise der wichtigste Schritt in der neurologischen Diagnostik. Zusammen mit der detaillierten neurologischen Untersuchung (Bewusstsein, Hirnnerven, Motorik, Sensibilität, Reflexe, Koordination, Stand und Gang) lässt sich dann syndromal eine topische Verdachtsdiagnose stellen. Die weiterführenden Untersuchungen (Bildgebung, Elektrophysiologie etc.) bestätigen die Diagnose und lassen auch auf die Ätiologie schliessen (Tab. 1).1 Zu den zehn häufigsten neurologischen Erkrankungen in Deutschland gehören: Schlaganfälle, Hirnblutungen, Schädel-Hirn-Trauma, Parkinsonkrankheit, Multiple Sklerose, Hirnhautentzündungen, Epilepsie, Kopfschmerzen und Migräne, Polyneuropathien und Gehirntumoren.2
Ein Leitsymptom stellt in der Regel die Hauptbeschwerde des Patienten dar, welche ihn zu einem Arzt führt und damit auch primär die Fachrichtung bestimmt. Es ist jedoch auch bedeutsam als Orientierungshilfe bei der Diagnosefindung.
Eine klare Definition neurologischer Leitsymptome existiert nicht, sie wäre zudem vom Ort der Betrachtung abhängig. So waren in einer älteren deutschen Studie Kopfschmerzen, motorische Defizite, Schwindel und epileptische Anfälle die häufigsten neurologischen Leitsymptome auf der Notfallstation.3 Verschiedene Lehrbücher oder Fachgesellschaften gewichten die Leitsymptome unterschiedlich, beispielhaft sei auf das Lehrbuch «Neurologische Leitsymptome und diagnostische Entscheidungen» verwiesen.4
In dem folgenden Text wollen wir anhand von Fallbeispielen wichtige neurologische Leitsymptome, deren Beurteilung und die weiteren Abklärungsschritte beschreiben.
Kribbeln/Sensibilitätsstörung
Ein 24-jähriger Elektromonteur wird zur Abklärung eines «Thoracic-Outlet-Syndroms» zugewiesen, da er bei Überkopfarbeit wiederholt Kribbelsensationen verspürt. Ein MRI ist bereits erfolgt und hat auch in Funktionsaufnahmen keine Hinweise erbracht.
Die neurografischen Untersuchungsbefunde zeigen normale Werte. Jedoch ist der Allen-Test beidseits pathologisch und führt zu den patiententypischen Beschwerden. Sonografisch kann eine ulnare Variante der vaskulären Handversorgung nachgewiesen werden, welche im Verlauf nicht weiter angegangen wurde.
Eigentlich ein klassischer Fall, des Praxisneurologen tägliches Brot. Die Elektrophysiologie ist hier enorm hilfreich, um häufige peripher-neurologische Ursachen von Sensibilitätsstörungen nachzuweisen und ebenso in der Differenzialdiagnose zu radikulären Syndromen, aber auch zentralen und nicht neurogenen Ursachen (z.B. Epikondylitis) Unterstützung zu bieten. Tabelle 3 zeigt eine Übersicht über die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale der häufigsten Radikulopathien.
Schwäche
Eine 81-jährige Bewohnerin aus einem Pflegeheim wird zwei Wochen nach Auftreten einer Fallhand in die universitäre ENMG-Sprechstunde zugewiesen. Die Patientin wird mit dem Rollstuhl gebracht. Anamnestisch war das Auftreten ganz plötzlich, zudem finden sich eine diskrete Gesichtslähmung sowie eine Beinparese auf der gleichen Seite.
Bei diesem Fallbeispiel waren sicherlich die telemedizinische Beurteilung und Zuweisung problematisch, auf die in jüngster Zeit gelegentlich ausgewichen werden musste. In der Regel ist dieses Vorgehen jedoch mit guten Daten bezüglich Sicherheit und Fehleranfälligkeit belegt, wie am Beispiel einer aktuellen neuropädiatrischen Studie gezeigt.5
Die Fallhand ist das klassische Leitsymptom einer Radialisparese, die jeder Student bereits lernt: «Ich schwör dir beim Medianus, wenn ich vom Rad fall, kratze ich dir mit der Ulna die Augen aus.» Das plötzliche Auftreten macht zusammen mit dem höheren Alter bereits anamnestisch den Schlaganfall wahrscheinlicher. Bei jüngeren Patienten, einer entsprechenden Ausbreitungs- und Rückbildungsdynamik sowie nachfolgenden starken, pulsierenden Kopfschmerzen auch eine Migräneaura.
Anfall
Ein 48-jähriger Kellner wird nachts ins Akutspital eingeliefert. Er habe zweimalig am Boden liegend gekrampft. Nach einem normalen Schädel-MRI wird er bereits mit 2x500mg Levetiracetam behandelt und für ein neurologisches Konsilium vorgestellt. Im Gespräch mit der Lebenspartnerin stellt sich heraus, dass er wegen einer langen Tagesschicht mit starken Wadenkrämpfen aufgewacht und zu Boden gestürzt ist. Dort habe er wiederholt in Embryostellung und mit geschlossenen Augen gezuckt. In der klinischen Untersuchung zeigte sich kein Zungenbiss, die Kreatinkinase (CK) war normal. Im EEG fanden sich keine Hinweise auf epilepsietypische Potenziale.
Die Differenzialdiagnose von Anfallsereignissen ist oft herausfordernd, nicht zuletzt da die eigenanamnestischen Angaben oft fehlen oder unvollständig sind. Entsprechend sind zusätzliche Hinweise hilfreich, v.a. eine detaillierte Beschreibung der Anfallssemiologie. Die relativ entspannte «Embryostellung» spricht sicherlich gegen ein tonisches Krampfereignis, auch geschlossene Augen sind für eine epileptische Genese ungewöhnlich. Zungenbisse – v.a. am lateralen Zungenrand – Schaumbildung oder Urinabgang sind wiederum häufig bei epileptischen Anfällen, wenn auch Letzteres ebenso bei synkopalem Geschehen vorkommen kann. Laborchemisch können die CK, aber auch die Verlaufsbestimmung von Prolactin hilfreich sein. Das EEG kann einen Herdbefund, postiktale Störungen oder natürlich epilepsietypische Potenziale zeigen, schliesst andererseits bei einem Normalbefund niemals eine epileptische Genese aus.6
Im vorliegenden Fall war der Behandlungsbeginn allenfalls etwas voreilig, auch wenn Levetiracetam eine gute «Notfalloption» darstellt, da durch eine Infusion rasch therapeutische Spiegel erreicht werden können. Vor allem sind die beruflichen und sozialen Konsequenzen einer voreiligen oder falschen Epilepsiediagnose zu beachten, welche z.B. durch die aufgehobene Fahreignung, aber auch Expositionseinschränkungen entstehen.7 In dem oben genannten Beispiel ist eine Schmerzsynkope die durchaus wahrscheinlichere Diagnose. Eine Fahrverbot ist sicherlich trotzdem indiziert, bis zum Ausschluss einer kardiogenen Ursache.
Rückenschmerz mit Gangstörung
Eine 60-jährige Lehrerin wird mit einem ungewöhnlichen Hemisyndrom vom Rheumatologen zugewiesen, mit der Frage nach zervikaler Myelopathie. Aus rheumatologischer Sicht findet sich keine Erklärung für die Lumbalgie, wenn sich auch gewisse degenerative Veränderungen der HWS beobachten lassen. Gemäss Patientin sind die Beschwerden seit etwa sechs Monaten zunehmend. Es bestehen zudem eine gewisse Verlangsamung beim Gehen, und mit dem Schreiben hat sie mehr Mühe. Im neurologischen Status findet sich neben einem seitenbetonten Rigor auch ein diskreter Ruhetremor. Nach Gabe von Levodopa zeigte sich eine subjektive und objektive Verbesserung.
Muskuloskelettale Beschwerden sind nicht selten bei Patienten mit M. Parkinson und können bereits sehr früh auftreten.8 In diesem Fall führte das Leitsymptom (Rücken-)Schmerz die Patientin zuerst zum Rheumatologen, der sie bei zusätzlichen Symptomen rasch an den Neurologen weiterwies.
Die schleichende Verlangsamung wird nicht selten von den Patienten selber, aber auch von den Angehörigen wenig bemerkt. Wenn Tremor nicht als Leitsymptom auftritt oder nichtmotorische Symptome im Vordergrund stehen, kann die Diagnose der Parkinsonkrankheit verzögert sein.9
Die Differenzialdiagnose von Gangstörungen ist insgesamt breit. Wenn die Geschwindigkeit oder das Muster pathologisch verändert ist, können neben den extrapyramidalen Erkrankungen auch eine Multiple Sklerose (spastisch-ataktisch), eine Polyneuropathie («Gehen auf rohen Eiern», Steppergang), Hypovitaminosen (funikuläre Myelose bei Vitamin-B12-Mangel), zentrale oder periphere vestibuläre Störungen (Ataxie) oder auch nichtneurologische muskuloskelettale Ursachen vorliegen. Auch an einen Normaldruckhydrozephalus ist immer zu denken, v.a. wenn zusätzlich kognitive Defizite und eine Inkontinenz (Hakim-Trias) auftreten.
Schwindel
Eine 78-jährige Patientin wird nach Subduralhämatom zur Rehabilitation zugewiesen. Bei Eintritt bestehen immer noch Schwindel und Gangunsicherheit, die als im Zusammenhang mit einem Sturz stehend interpretiert wurden. In der Anamnese erfahren wir, dass die Patientin schon zwei bis drei Monate zuvor über Schwindel geklagt und dies letztlich auch zum Sturz geführt hat. Es zeigen sich ein diskreter Nystagmus beim Blick nach links und ein pathologischer Kopfimpulstest nach rechts, sodass die Diagnose einer Neuritis vestibularis rechts gestellt werden kann.
Schwindelsymptome lassen sich anamnestisch in anhaltende oder episodische Formen einteilen. Bei episodischem Auftreten sind zudem die Dauer und Art der Schwindelbeschwerden (Drehen oder Schwanken) differenzialdiagnostisch hilfreich (Tab. 4). Nicht immer gelingt eine abschliessende Einteilung ohne weitere Untersuchungen.
Während der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel ein beinahe pathognomonisches Muster mit einer Auslösung von kurzen – in der Regel weniger als eine Minute dauernden – Drehschwindelattacken zeigt, welche mit einem pathologischen Hallpike-Manöver bestätigt und meist durch das Epley-Manöver einfach therapiert werden können, kann sich die Differenzialdiagnose bei einem neu aufgetretenen anhaltenden Schwindel schwieriger gestalten. Das Akronym HINTS, das für den Kopfimpulstest («Head Impulse»), den Nystagmus und den alternierenden Abdecktest («Test of Skew») steht, zeigt eine hohe Sensitivität und Spezifität für einen Schlaganfall. Das Akronym INFARCT steht für ein positives Testresultat und deutet auf ein zerebrovaskuläres Ereignis hin: (Kopf)-Impuls-Test normal, schneller Blickrichtungsnystagmus («fast-phase alternating») und/oder Skew-Deviation (vertikale Achsenabweichung). Mit der Erweiterung um eine Hörminderung nehmen die Sensitivität und Spezifität weiter zu.10
Kopfschmerz
Abb. 1: Der Patient präsentierte sich mit stärksten trigemino-autonomen Kopfschmerzen als Leitsymptom. Bei mehreren «Red Flags» zeigte sich eine fokale ischämische Läsion als Ursache der Beschwerden
Ein 75-jähriger Patient präsentiert sich mit stärksten halbseitigen Kopfschmerzen sowie Augentränen auf der neurologischen Notfallstation. Die Schmerzattacke besteht seit knapp einer Stunde. Mit der Verdachtsdiagnose von erstmaligen Clusterkopfschmerzen wird jedoch, da zusätzlich der ipsilaterale Arm im Vorhalteversuch absinkt, ein Schädel-MRI durchgeführt, welches eine kleine ischämische Läsion im Bereich des hochzervikalen Trigeminuskerns zeigt (Abb. 1). Die Schlaganfallabklärung wird im stationären Aufenthalt vervollständigt und eine Sekundärprävention begonnen. Die Kopfschmerzen sind nach wenigen Stunden nicht mehr vorhanden.
Erstmalige Kopfschmerzen sind schon alleine ein Warnsymptom, im vorliegenden Fall fanden sich zudem ein höheres Alter bei der Erstmanifestation sowie pathologische Befunde im neurologischen Status. In der eingangs erwähnten Arbeit waren 20% der Leitsymptome auf der Notfallstation Kopfschmerzen.11 Auch in der Hausarztpraxis sind Kopfschmerzen ein nahezu alltägliches Problem.12 Die Schwierigkeit stellt hierbei natürlich die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Kopfschmerzursachen dar, deren Relevanz nicht zuletzt auch unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden muss.13 Die SNNOOP10-Checkliste kann hierbei eine Hilfestellung sein.13
Zusammenfassung
Anhand eines Leitsymptoms entscheiden Patienten bereits, ob sie die Hausärztin oder den Hausarzt aufsuchen, und im Anschluss wird gemeinsam entschieden, welcher Spezialist beigezogen wird. Die vorliegende kurze Übersichtsarbeit soll zeigen, wo Neurologinnen und Neurologen in solchen Fällen Unterstützung bieten können und wie sie bei der Abklärung vorgehen.
Der Artikel basiert auf dem regelmässigen Vortrag «Neurologische Leitsymptome» im Rahmen des Forums für medizinische Fortbildung (FomF).
Literatur:
1 Mattle H, Mumenthaler M: Neurologie. 13. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2013 2 Statistisches Bundesamt (Destatis), 2014, Fallpauschalenbezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik): Diagnosen, Prozeduren, Fallpauschalen und Case Mix der vollstationären Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern. Fachserie 12 Reihe 6.4. Erschienen am 28.09.2015 3 Royl G et al.: Neurologische Leitsymptome in einer Notaufnahme. Nervenarzt 2010; 81: 1226-30 4 Buchner H et al.: Neurologische Leitsymptome und diagnostische Entscheidungen. Stuttgart: Thieme; 2007 5 Joshi CN et al.: Quality and safety analysis of 2,999 telemedicine encounters during the COVID-19 pandemic. Neurol Clin Pract 2021; 11: e73-82 6 Elger CEet al.: S1-Leitlinie Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter, Stand 30. April 2017. Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. www.dgn.org/leitlinien 7 Pierre A et al.: Fahreignung mit Epilepsie. Swiss Med Forum 2019; 19: 737-40 8 Kim YE et al.: Musculoskeletal problems in Parkinson‘s disease: neglected issues. Parkinsonism Relat Disord 2013; 19: 666-9 9 Wan Y et al.: Determinants of diagnostic latency in chinese people with Parkinson‘s disease. BMC Neurol 2019; 19: 120. 10 Dumitrascu OM et al.: Pitfalls and rewards for implementing ocular motor testing in acute vestibular syndrome: a pilot project. Neurologist 2017; 22: 44-7 11 Royl G et al.: Neurologische Leitsymptome in einer Notaufnahme. Nervenarzt 2010; 81: 1226-30 12 Gantenbein AR et al.: Awareness of headache and national headache society activities in primary care providers - a qualitative study. BMC Res Notes 2013; 6: 118 13 Do TP et al.: Red and orange flags for secondary headaches in clinical practice: SNNOOP10 list. Neurology 2019; 92: 134-44