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Gegen den Begriffsnotstand in der Allgemeinpraxis
DAM
Autor:
Dr. Waltraud Fink
30
Min. Lesezeit
13.10.2016
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<p class="article-intro">Was in den Lehrbüchern steht und was die Ausbildung vermittelt, hat nur bedingt mit der Realität in der Allgemeinpraxis zu tun. Zu dieser Erkenntnis kam Prof. Dr. Robert N. Braun in seinen ersten Praxistagen 1944, ebenso wie viele Kollegen zuvor.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Als durch und durch wissenschaftlich denkender Mensch wollte Braun sich nicht mit den Unzulänglichkeiten der Ausbildung zum Arztberuf abfinden. Er begann sein eigenes Handeln in der Praxis zu analysieren. Hand in Hand mit den neu gewonnenen Erkenntnissen aus dieser Analyse erfolgte das Überwinden manch eines Begriffsnotstands.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_DAM_Allgemeinm_1608_Weblinks_seite27.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Abwendbar gefährliche Verläufe und Respektanda</h2> <p><em>„Bringt man die Untersuchungselemente erfahrener Praktischer Ärzte zu den typischen Ursachen für abnorme Befunde in Beziehung, so zeigt sich: Die Bemühungen der Allgemeinmediziner gelten hier u.a. Krankheiten, die bedrohlich sind oder bedrohlich werden können – wie dem Krebs, der Zuckerkrankheit, der Appendizitis, der Pneumonie usw. Entdeckt er frühzeitig Zeichen, die auf derlei Gesundheitsstörungen hinweisen, so lässt sich ein gefährlicher Verlauf oft genug abwenden. Solche Krankheiten nenne ich abwendbar bzw. potenziell gefährlich. Für diejenige Gruppe von Krankheitsverläufen, die bei einer bestimmten diagnostischen Lage berücksichtigt werden sollten, verwende ich den Namen Respektanda (d.h.: die zu respektieren sind).“</em><sup>1</sup></p> <p><em>„Dabei muss ein Rahmen gebildet werden, der die Mittel und die Zeit berücksichtigt, die an der ersten Linie verfügbar sind. Die Respektanda setzen sich einerseits aus häufigen Krankheiten und andererseits aus abwendbar gefährlichen seltenen Gesundheitsstörungen zusammen.“</em><sup>2</sup></p> <p><em>„Was haben nun die Wörter ,Respektanda‘ und ,abwendbar gefährliche Verläufe‘ mit der Allgemeinpraxis zu tun? Sie heben begrifflich etwas heraus, was für die Methodik der Alltagsdiagnostik wesentlich ist.“</em><sup>1</sup></p> <h2>Fälleverteilungsgesetz</h2> <p><em>„Das Krankengut aus den drei verschiedenen Praxen, in aufeinanderfolgenden verschiedenen Jahren gesehen, unterschied sich nicht wesentlich. Ein Vergleich mit damals eben publizierten britischen Statistiken ergab, dass auch gegenüber diesen keine unerklärbaren größeren Differenzen feststellbar waren. Dieses, offenbar sehr wichtige Phänomen von Regelmäßigkeiten wurde von mir als Fälleverteilungsgesetz bezeichnet.“</em><sup>3</sup></p> <h2>Beratungsursache und direkte Diagnostik</h2> <p><em>„Die ,Beratungsursache‘ ist, was den Patienten zum Arzt gebracht hat. Gewiss mögen einzelne Kranke zunächst – bewusst oder unbewusst – ein Angebot vor die Beratungsursache schieben; aber in der Allgemeinmedizin hat man leider nicht die Zeit, dem nachzugehen. So nimmt man gezwungenermaßen die geäußerte Ursache zunächst für die tatsächliche. Damit fährt der Arzt fast ausnahmslos sehr gut, zumal sich die ,Angebote‘ über kurz oder lang zu ,demaskieren‘ pflegen. Konkret gesprochen, hängt die allgemeinmedizinische Diagnostik von der Antwort auf die Frage ,Warum kommen Sie zu mir?‘ ab. Die Frage selbst kann überflüssig sein, wenn der Patient etwa erklärt, in seinem Gehörgang müsse sich ein Insekt befinden. Hier ist die Beratungsursache so klar, dass die Strategie sich von selbst ergibt: Man sieht in den Gehörgang, und da findet sich ein Insekt, das einen teilweisen Zeruminealverschluss am Rückweg nicht mehr zu überwinden vermochte. Bei dieser ,direkten Diagnostik‘ wird unter Vernachlässigung aller sonstiger Erhebungen und Untersuchungen eine bestimmte Verifizierung direkt durchzuführen versucht. Es ist ein überaus ökonomisches, aber leider nur in etwa zehn Prozent der Fälle erfolgreiches Verfahren. Die direkte Diagnostik wird möglich durch präzise Angaben und/oder ,kardinale‘ beziehungsweise ,bestimmende‘ Befunde. Sagt der Kranke etwa, seit einigen Tagen wären einseitig am Rumpf schmerzende Bläschengruppen aufgetreten, so ahnt der erfahrene Arzt schon das Vorliegen einer Gürtelrose. Er fordert den Kranken auf, die betreffende Region zu entblößen und erkennt die Bläschengruppen. Aus der Übereinstimmung zwischen den charakteristischen Angaben und dem Befund resultiert die rasche Einengung auf einige wenige diagnostische Möglichkeiten.“</em><sup>3</sup></p> <h2>Beratungsergebnisse, Diagnosen und …</h2> <p><em>„Eine der wichtigsten Erkenntnisse betrifft die allgemeinpraktischen Beratungsergebnisse. Tragen wir praktische Ärzte doch beispielsweise auf unseren Krankenscheinen, in die Protokollbücher der Krankenversicherungen usw. nach den Beratungen meistens Diagnosen ein. Wir sind uns dabei kaum bewusst, wie weit das, was wir von unseren Untersuchungen her wirklich wissen, von einer überzeugenden Krankheitsfeststellung entfernt bleibt. Solche Probleme vermag der kritisch denkende Praxisforscher aufzudecken. Er fragt dann weiter: Warum geschieht dieses ungerechtfertigte Namhaftmachen von Diagnosen? Und wenn er erkannt hat, dass es sich vor allem um die Erfüllung einer Rollenerwartung handelt, dann lautet die nächste Frage, was man denn an die Stelle nicht vertretbarer Diagnosen sonst stellen sollte.“</em><sup>4</sup></p> <h2>… Klassifizierungen</h2> <p><em>„Sachlich gesehen, ist es mit dem Anblick der typischen Bläschengruppen zu einer ,Inklusion‘ gekommen. Damit meint der Berufstheoretiker: einer Einengung aufgrund eines Befundes oder einer Beschwerde, die nur bei sehr wenigen unterschiedlich bedingten Gesundheitsstörungen vorkommt. Immerhin ist das diagnostische Problem damit natürlich nicht endgültig gelöst, wenn man sich auf eine hohe Wahrscheinlichkeit verlässt. Das Beratungsergebnis kann daher, wenn damit die Diagnostik abgebrochen wurde, keine Diagnose sein. Im angenommenen Fall endet die Beratung mit dem ,Bild‘ eines Herpes zoster. Das Beratungsergebnis ist eine abwartend offengelassene Klassifizierung. An der ersten Linie werden in dieser Weise sehr oft Entscheidungen getroffen, weil es eben nicht anders geht. Wichtig ist nur nicht so zu tun, als hätte man eine Krankheit exakt erkannt. Es ist bloß ein kleiner Unterschied, ob man in einem solchen Fall ,Herpes zoster‘ diagnostiziert oder ob man ,nur‘ klassifiziert. Klassifizierung lässt die Türe angelehnt offen: Sie nimmt zur Kenntnis, dass nicht nur überragende Häufigkeiten, sondern ebenso Ausnahmen existieren und auch in der wissenschaftlichen Allgemeinmedizin Berücksichtigung gefunden haben. <br />Wesentlich komplizierter als die Problematik rund um kardinale, bestimmende Befunde und die dadurch vorhandene Möglichkeit, Konklusion und Inklusion zu tätigen, liegen die Dinge beim Durchschnittsfall. Hier gibt es weder direkte Zuordnungen (Konklusionen) noch Inklusionen, sondern uncharakteristische Beschwerden und uncharakteristische Befunde.<sup>3</sup> <br />Mit der scharfen Formulierung des Diagnosenbegriffes galt es, die bestehende Ordnung zu erweitern und einen regulären Platz für die Masse der allgemeinpraktischen Beratungsergebnisse zu schaffen, in denen keine Krankheitserkennungen möglich waren. Wir erreichten es, indem wir dem Diagnosenbegriff gleichwertig den Klassifizierungsbegriff zur Seite stellten. Dabei unterscheiden wir zwischen den Klassifizierungen von (Leit-)Symptomen und von Symptomgruppen einerseits und den Klassifizierungen von Krankheitsbildern andererseits. Bei den Letzteren können die einschlägigen Beratungsergebnisse ziemlich nahe an Einzelkrankheiten oder Krankheitsgruppen herangebracht werden. Doch fehlen zur Diagnose unerlässliche Elemente, wie z. B. der Erregernachweis bei Infektionskrankheiten. Im ärztlichen Alltag gilt dies etwa für die Fälle von ,Angina tonsillaris‘ oder für die ,Bilder einer Pneumonie‘.“</em><sup>4</sup></p></p>
<p class="article-footer">
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<p><strong>1</strong> Braun RN: Benötigt die Allgemeinmedizin neue Begriffe? D Prakt Arzt, Dortmund 4, 1967: 300 <strong>2</strong> Braun RN: Versuch der Entwicklung einer lehrbaren Diagnostik für die Allgemeinpraxis. Situation und Ausblick. Med Welt 1964; 915 <strong>3</strong> Braun RN: Methoden der Allgemeinmedizin einschließlich der Begriffe und der diagnostisch-therapeutischen Strategien. D Prakt Arzt, Köln 18, 1976: 3433 <strong>4</strong> Braun RN: Begriffe aus der Allgemeinmedizin. ÖÄZ 23; 1968: 22</p>
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