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SSI-Jahrestagung: Arbovirale Infektionen

Der erste Fall von West-Nil-Fieber in der Schweiz: wann und wo?

Noch sind in der Schweiz keine Fälle von humanen West-Nil-Virus-Übertragungen durch Mücken bekannt. Doch das Auftreten dürfte nur eine Frage der Zeit sein, wie der Virusnachweis in Mückenfallen und bei Vögeln und Pferden im Tessin demonstriert.

Ein Blick auf die Europakarte zeigt: Infektionen mit dem West-Nil-Virus sind Realität. Die Verbreitung des West-Nil-Virus (WNV) hat in den letzten 10 Jahren stark zugenommen. In Norditalien sind in diesem Jahr mehr als 300 Fälle von humanen WNV-Infektionen aufgetreten (Abb. 1); davon allein 30 Fälle in Mailand Ende September. «Die Frage ist daher nicht, ob es auf unserer Seite der Grenze zu WNV-Infektionen bei Menschen kommt, sondern wann es so weit ist», sagte Dr. med. Giorgio Merlani, Kantonsarzt Tessin, am gemeinsamen Jahreskongress der SSI, SSHH und SSTM in Zürich.

Abb. 1: Humane WNV-Infektionen in der EU nach Kalenderwoche (Quelle: ECDC)

Die Daten der letzten Wochen könnten noch nicht vollständig erfasst sein

Hauptvektor ist die europäische Hausmücke

Das WNV gehört zu den Flaviviren. Das Virus gelangte mit Zugvögeln in Gebiete am Mittelmeer und in Europa. Häufig betroffen sind Italien, Griechenland, Frankreich, weite Teile des Balkans, aber auch nördlicher gelegene Länder wie Ungarn oder Tschechien. Das Virus wird von Stechmücken vor allem zwischen wildlebenden Vögeln übertragen (enzootischer Übertragungszyklus). Menschen und andere Säugetiere sind Fehlwirte, d.h. wegen der niedriggradigen Virämie kommt es nicht zu einer Infektion und Weiterverbreitung durch die Mücken (epizootischer Übertragungszyklus). Hauptvektor in Europa ist die Hausmücke Culex pipiens, die in der Nähe von fast allen Gewässern und Wasserstellen in urbanen und suburbanen Lebensräumen zu finden ist und deren Weibchen während der Nacht stechen. Die Larven der Culex-Mücken entwickeln sich von der Frühjahrsmitte bis zum ersten Frost. Die Infektion von Menschen mit dem WNV verläuft in ca. 80% der Fälle asymptomatisch. «Das ist zugleich eine gute und eine schlechte Nachricht», sagte Merlani. Eine gute Nachricht für die infizierten Personen, aber eine schlechte, wenn es darum ginge, das Virus zu erkennen. Etwa 20% erkranken an West-Nil-Fieber (WNF), einer grippeähnlichen Erkrankung mit abruptem Fieberbeginn, Schüttelfrost, Kopf- und Rückenschmerzen. Die Dauer beträgt etwa 3 bis 6 Tage. Die schwere neuroinvasive Form von West-Nil-Fieber tritt nur bei circa einem von hundert Patienten auf. In 0,1% der Fälle verläuft die Erkrankung tödlich. Ein spezifische Therapie oder Vakzine gegen WNF existiert nicht.

Acht von zwölf Mückenfallen positiv

Im Jahr 2006 wurde in der Schweiz ein Monitoring auf WNV initiiert. Seitdem sind vier Fälle von WNF aufgetreten. Diese wurden allesamt aus endemischen Regionen importiert. In der Zwischenzeit wurde das WNV in Mücken nachgewiesen. Im Jahr 2022 waren 8 von 12 Mückenfallen im Tessin positiv. «Zuerst finden wir das Virus in den Mücken und jeweils ein bis zwei Wochen danach bei Vögeln und anschliessend bei Pferden», so Merlani. Möglicherweise habe es schon einen Fall von West-Nil-Fieber bei Menschen gegeben, aber man habe es nicht bemerkt.

Dass vor allem Italien so stark von WNV-Infektionen betroffen ist, liegt gemäss dem Experten daran, dass das Land an einer der Hauptmigrationsrouten liegt: Hier stoppen und rasten die Vögel auf ihrem Weg in den Süden oder Norden. Doch das ist längst nicht der einzige Grund für die Ausbreitung des Virus. Die Interaktion zwischen Menschen, Tieren und Vektoren verändert sich. Das Vordringen des Menschen in unbewohnte Gebiete, die zunehmende Mobilität, aber auch die hohe Lebenserwartung und die damit verbundene Vulnerabilität sind wichtige Gründe aufseiten der Menschen. Steigende Temperaturen sorgen dafür, dass die infizierten Mücken auch im Winter überleben. Ein Beispiel dafür ist die Ausbreitung der auf milde Temperaturen angewiesenen Aedes albopictus (Tigermücke). Andere Vektoren scheinen ihr Verhalten an die Umweltbedingungen anzupassen. Die Culex-Mücke beispielsweise agiert bei steigenden Temperaturen zunehmend aggressiv. Auf der Wirtsseite begünstigt der zunehmend begrenzte Raum den intensiveren Kontakt der Wildtiere untereinander. Ein Beispiel ist die Magadinoebene: «Wir glauben, dass an diesem Ort ein Austausch von Pathogenen stattfinden könnte», sagte der Tessiner Kantonsarzt.

<< Wir glauben, dass die Magadinoebene ein Ort sein könnte, an dem ein Austausch von Pathogenen stattfindet.>>
G. Merlani, Bellinzona

Darüber hinaus begünstigen die klimatischen Veränderungen die Zunahme von arboviralen Infektionen. Die wärmeren Temperaturen führen zu einer höheren Feuchtigkeit in der Atmosphäre, gefolgt von hohen Niederschlagsmengen auf kleine Flächen, die zu stehendem Wasser führen und zu idealen Brutstätten für Moskitos. Zwischen den Niederschlägen liegen oft länger andauernde Trockenperioden, in denen die Zahl der Wasserstellen abnimmt und die Wildtierkontakte zunehmen. Erst kürzlich konnte ein systematischer Review zeigen, dass die klimatischen Veränderungen mehr als die Hälfte der infektiösen Erkrankungen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, verschlimmert haben (sehen Sie dazu auch unseren Tipp).1 Die verschiedenen Einflussfaktoren unterstreichen den One-Health-Ansatz, der die Gesundheit von Menschen, Tieren und Umwelt in Zusammenhang stellt, mit dem Ziel, dadurch verursachte gesundheitliche Risiken zu verhindern, zu minimieren oder zu kontrollieren.

Um die Ausbreitung von Mücken im Tessin zu verhindern, wird die Bevölkerung angehalten, stehende Gewässer in Haus und Garten zu vermeiden. «Jeder Tropfen ist genug für die Mücken, um sich zu replizieren», sagte Merlani. Darüber hinaus werden Human- und Veterinärmediziner sensibilisiert, bei entsprechenden Symptomen aktiv nach dem WNV zu suchen.

Zunahme arboviraler Erkrankungen in Europa

Neben dem West-Nil-Fieber nehmen auch andere vektorbasierte Erkrankungen in Europa zu, beispielsweise das durch den Stich der Sandmücke übertragene Sandmücken- oder Pappatacifieber in Zentralitalien, das zu grippeähnlichen Symptomen führt. Das ebenfalls durch Sandmücken übertragene und nach dem Ort der ersten Isolierung benannte Toskana-Virus führt bei 80 % der Betroffenen zu einer aseptischen Meningitis.2

Immer häufiger werden auch Fälle von Dengue-Fieber in Europa verzeichnet. Im Jahr 2022 wurden 65 Fälle von Dengue in Frankreich und 6 Fälle in Spanien registriert. In diesem Jahr sind es bislang 10 Fälle in Frankreich und 12 in Italien. Der wichtigste Vektor ist die asiatische Tigermücke (A. albopictus), die in vielen Ländern Süd- und Mitteleuropas etabliert ist und neben Dengue auch Chikungunya-, Zika- und Gelbfieberviren übertragen kann.
Rickettsien werden in Europa hauptsächlich durch Zecken, aber auch durch Arthropoden wie Flöhe, Läuse oder Milben übertragen. Das durch Rickettsia conorii verursachte «mediterranean spotted fever» (MSF), das zu einer infektiösen Vaskulitis mit Fieber und Hautausschlag führt, ist in Europa zunehmend prävalent.3

Eine erhöhte Aufmerksamkeit erfordert auch die Ausbreitung von Hyalomma-Zecken, die potenzielle Überträger des Krim-Kongo-hämorrhagischen Fiebers (CCHF) mit einer Mortalität von 10–50 % sind. Erste Fälle von CCHF wurden 2008 in Griechenland registriert. In Spanien sind im Zeitraum von 2013–2021 10 Fälle von CCHF aufgetreten, drei davon verliefen tödlich.4 Untersuchungen des Zeckenpools zeigten, dass die Hyalomma-Zecke nach Bulgarien nun auch in Spanien endemisch ist.5

Gemeinsame Jahrestagung der Swiss Society of Infectious Diseases (SSI), Swiss Society for Hospital Hygiene (SSHH) with fibs (SIPI) und der Swiss Society of Tropical and Tracel Medicine (SSTTM), 13. bis 15. September 2023, Zürich

1 Mora C et al.: Over half of known human pathogenic diseases can be aggravated by climate change. Nat Clim Chang 2022; 12: 869-75 2 Depaquit J et al.: Arthropod-borne viruses transmitted by Phlebotomine sandflies in Europe: a review. Euro Surveill 2010; 15: 19507 3 Balážová A et al.: High prevalence and low diversity of rickettsia in dermacentor reticulatus ticks, Central Europe. Emerg Infect Dis 2022; 28: 893-95 4 Lorenzo Juanes HM et al.: Crimean-congo hemorrhagic fever, Spain, 2013–2021. Emerg Infect Dis 2023; 29: 252-59 5 Sànchez-Seco MP et al.: Widespread detection of multiple strains of crimean-congo hemorrhagic fever virus in ticks, Spain. Emer Infect Dis 2021; 28: 394-402

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